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15 Jahre "Ehe für alle" in Benelux
Ehe für Homosexuelle hat Normalität geschaffen

An offen gelebte Homosexualität in den Niederlanden haben sich selbst die Rechtspopulisten gewöhnt, so der Soziologe Rob Tielman. Und in Belgien wird inzwischen jedes zweite Adoptivkind an ein schwules oder lesbisches Paar vermittelt. Trotzdem ist die Zahl der Übergriffe auf Homosexuelle in beiden Ländern gestiegen.

Von Malte Pieper | 29.09.2017
    Regenbogentorte in den Räumen der SPD-Fraktion im Bundestag am 30. Juni 2017 in Berlin: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages hatten zuvor über Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts abgestimmt.
    Regenbogentorte: In den Niederlanden und in Belgien ist die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Paare sehr hoch. (picture alliance / Wolfgang Kumm/dpa)
    Tom de Cock beginnt zu strahlen. Wie bei fast allen Eltern legt sich sofort ein Glanz auf die Augen, wenn er von seiner Tochter Jasmijn erzählt. Drei Jahre alt wird sie bald.
    Jasmijn ist ein absolutes Wunschkind. Gemeinsam mit seinem Mann hat de Cock das ganz normale Adoptionsverfahren im liberal-konservativ regierten Flandern durchlaufen. Jede zweite Adoption geht hier inzwischen an schwule oder lesbische Paare, ganz einfach weil sich in absoluten Zahlen fast genauso viele Homosexuelle wie heterosexuelle Paare melden.
    Ein Kind, zwei Väter - was tun beim Muttertag?
    Sechseinhalb Jahre mussten Tom de Cock und sein Mann schließlich warten, bis endlich der erlösende Anruf kam. 2014 war das. Seitdem meistert Familie de Cock unbehelligt die Höhen und Tiefen des Alltags. So wie alle anderen auch. Obwohl, es gibt auch immer wieder Überraschungen. Im Frühjahr wurden sie zum Beispiel im Kindergarten zur Leiterin zitiert, die ihnen mit ernstem Blick eröffnete:
    "Jungs, wir haben hier ein Problem. Bald ist Muttertag. Aber ihre Tochter hat doch nun gar keine Mutter, sie hat zwei Väter. Was sollen wir da tun? Für wen soll sie basteln?"
    De Cock musste damals lachen und tut es noch heute. Denn das ist die Tragweite der Probleme, die seiner nicht ganz alltäglichen Familie begegnen. "Sonst läuft's, wenn wir zu dritt auftauchen", betont der Belgier.
    "95 Prozent der Niederländer akzeptieren Homosexualität"
    Gut hundert Kilometer weiter nördlich, muss Rob Tielman seufzen, als er das hört. Der 71-Jährige war lange einer der Vorkämpfer der Schwulen- und Lesbenbewegung in den Niederlanden, hat als Soziologe an der Universität Utrecht die gesellschaftliche Stimmung seiner Heimat untersucht:
    "Im Moment ist es so, dass 95 Prozent der Niederländer Homosexualität völlig akzeptieren. Das wird jedes Jahr untersucht, indem Fragen gestellt werden wie: 'Akzeptieren Sie es, wenn Ihr Kind schwul oder lesbisch ist?' und so weiter. Seit den 60er-Jahren hat es da eine große Verschiebung gegeben. Das ist ganz klar."
    Und auch die Einführung der "Ehe für alle" 2001 habe ihren Teil dazu beigetragen, Normalität zu schaffen. Möglich war das nur, sagt Soziologe Tielman, weil Holland schon immer äußerst liberal war. "Nicht weil wir bessere Menschen sind", betont Tielman, "sondern weil es sich die niederländische Gesellschaft schlicht nie leisten konnte, Minderheiten auszugrenzen. Eine Seefahrernation, deren Siedlungsgebiet auch noch unter dem Meeresspiegel liegt, da brauche man immer jeden Mann und jede Frau, um die Heimat gegen Sturm und Fluten zu verteidigen. Dieser offene Geist habe sich bis heute erhalten.
    "Geert Wilders käme nicht auf die Idee, gegen die Homoehe zu agitieren"
    "Nehmen Sie nur unseren führenden Rechtspopulisten, Geert Wilders!", sagt Tielman, "der käme nicht auf die Idee gegen die Homoehe zu agitieren, wie es etwa die AfD bei Ihnen tut!" Und weiter: "Ich kenne kein anderes Land in Europa, aber auch außerhalb, wo Rechtspopulisten so pro Homosexualität sein können wie bei uns. Das ist eigentlich kaum zu fassen!"
    Doch wie fast überall in Europa gibt es auch hier die Gegenseite. Übergriffe auf Schwule und Lesben. Seit 2009 etwa hat sich die Zahl der Anzeigen bei der Polizei wegen Diskriminierung oder Gewalt vervierfacht. Begangen nicht nur, aber auch zu wichtigen Teilen, von nordafrikanischen Einwandern und deren Kindern, sagt Soziologe Tielman. Der Staat reagiere, wenn auch zu langsam:
    "Es ist inzwischen in allen Schulen verpflichtend, über Homosexualität aufzuklären. Auch in den islamischen Schulen. Aber: Dem folgen noch immer nicht alle und der Staat kontrolliert zu selten."
    Propaganda-Vorwurf an Radio-Moderator
    Nicht groß anders die Situation in Belgien. Auch hier steigt die Zahl der Übergriffe. Jungvater Tom de Cock sagt: So wenig ich davon in meinem Privatleben mitbekomme, so deutlich bekomme ich die Ablehnung mancher zu spüren, wenn ich bei der Arbeit bin, wenn ich das Privatleben verlasse und in der Öffentlichkeit stehe. De Cock ist Moderator beim erfolgreichsten Jugendsender Belgiens, beim öffentlich-rechtlichen "MNM":
    "Es vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht Irgendjemand beschwert, dass ich auch im Radio zu meiner Homosexualität stehe. Ich würde Propaganda betreiben, ich sollte die Finger von ihren Kindern lassen. Ich meine, das sind Vorwürfe, die wir mit Russland verbinden, aber das gibt es auch noch bei uns."
    Und das mehr als zehn Jahre nach Öffnung der Ehe für Homosexuelle. Es ist ein Generationenprojekt, sagt auch Soziologe Rob Tielman.