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16.6.1804 - Vor 200 Jahren

Leute wie Johann Adam Hiller, dessen Motette "Alles Fleisch ist wie Gras" wir hier mit dem Thomanerchor Leipzig hören, würden heutzutage auf dem Verwaltungssessel einer Musikschule versauern. Er müsste seine weitreichenden Ideen in Aktenordnern und Wiedervorlagen beerdigen, denn so Leute wie er stellen natürlich eine Gefahr dar. Einfach daherkommen und den ganzen Betrieb mit dem Schwung einer nationalen Mission umkrempeln, nein, das geht nicht.

Von Wolfram Goertz | 16.06.2004
    Damals, im 18. Jahrhundert, ging das sehr wohl, vielleicht hatte man auf einen wie Johann Adam Hiller sehnsüchtig gewartet, der die Musik und vor allem das Singen demokratisierte und jedermann zugänglich machte. Dass er mit diesem hehren Ansinnen beispiellosen Erfolg hatte, lag daran, dass Hiller kein Profi war und sich nie als solchen herausstellte. Seine ganze Liebe galt den Amateuren – und sie erhörten ihn.

    Der am 1. Weihnachtstag 1728 bei Görlitz geborene Hiller wollte eigentlich Jurist werden, doch weil ihm das nicht reichte, übte er sich nebenbei in vielen Disziplinen, lernte Sprachen, interessierte sich für Geschichte und Poesie – und für die Musik. In Leipzig erlernte Hiller alle möglichen Instrumente, ohne es auf einem zur Meisterschaft zu bringen, schrieb fremde Partituren ab und studierte Harmonielehre. Seine ersten Kompositionen waren schlicht, aber wirkungsvoll, doch immer noch musste er französische Geschichtsbücher ins Deutsche übersetzen, um sich finanziell über Wasser zu halten.

    In den sechziger Jahren erkannte man in ihm einen Fachmann für die Praxis und Organisation von Konzerten, man vertraute ihm ganze Abonnementsserien an, doch das reichte Hiller ebenfalls nicht: Er gab Schriften über musikalische Ereignisse heraus, und bald wurde er, wie der Musikologe Arnold Schering schrieb, für beinahe "ein halbes Jahrhundert der gute Genius der Leipziger Musik". Er kümmerte sich unermüdlich um die Vokalmusik und gründete eine Singschule, um, wie er mit kühnem Eifer schrieb, "das deutsche Volk singen zu lehren". Seine einfachen, auch für ungeschulte Stimmen singbaren Lieder wurden zugleich zur Grundlage seiner musikgeschichtlich vermutlich höchsten Errungenschaft, dem heiteren deutschen Singspiel. 14 davon hat er uns hinterlassen. Kein Wunder, dass der große Max Reger seinem Hiller im Jahre 1907 ein ausführliches Orchesterwerk widmete: die "Variationen und Fuge über ein lustiges Thema von Johann Adam Hiller". Da geht es gleich in der ersten Variation animiert ins volle Menschenleben, hier mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchestra unter Neeme Järvi.

    Der von Max Reger geehrte Singpädagoge Johann Adam Hiller war, keine Frage, zu seiner Zeit populär wie sonst kaum jemand in ähnlicher Position, aber er machte nie viel Wind um sich. Immer sah er sich auch als Diener größerer Genies, deren Werke er dann auch mit ergreifender Rastlosigkeit aufführte, etwa Händels "Messias" oder Mozarts "Requiem". In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts übernahm Hiller zwei Positionen, die noch heute international den allerbesten Klang besitzen: 1781 wurde er Leipziger Gewandhauskapellmeister, acht Jahre später Thomaskantor. Leipzig, befand er, war reif für den Geist der Aufklärung, er entsorgte die von müden Köpfen hängenden Perücken und predigte religiöse Toleranz. Längst hatte er sich auch von der heiteren Muse losgesagt und gab sich einzig der Kirchenmusik hin. Johann Adam Hiller, der Vielseitige, ist uns in der Rückschau als Gewährsmann der deutschen Motette, doch nicht weniger als Meister des Volkstümlichen lieb und teuer. Vermutlich sind es Leute wie Hiller, die uns heute vorne und hinten fehlen.