Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

17. Juni 1953 in der DDR
Auch die Bauern wehrten sich

Vor 65 Jahren gingen hunderttausende Arbeiter in Ostberlin und anderen Städten der DDR auf die Straße. Dieser Tag ist als Tag des Arbeiteraufstandes in Erinnerung geblieben. Aber auch auf dem Land formierte sich Widerstand. Unter anderem in Jessen im heutigen Sachsen-Anhalt.

Von Miriam Freudig | 16.06.2018
    Blick auf den Marktplatz in Jessen (Sachsen-Anhalt)
    Heute ist es ruhig in Jessen (Sachsen-Anhalt). 1953 fand hier ein großer Demonstrationszug der Bauern statt, um gegen die Erhöhung der Produktionsnorm durch die Regierung zu protestieren (imago stock&people)
    "Also, es fing an früh um sieben, ich lag noch im Bett und dann hörte ich in der Küche wie Hildebrand Rudolf, der Hauptorganisator, mit meinem Vater gesprochen hat, sie wollen nach Jessen, demonstrieren."
    "Haben sie abends schon alles organisiert. Der Hildebrand Rudolf hat auch schon abends Leute Bescheid gegeben. Da hat mein Vater gesagt: Junior, du kommst nicht mit, du spannst die zwei Pferde an und 'nen Heuwender und fährst nach Schüssberg auf die Wiese, wir hatten schon Gras gemäht und das Heu wird geschüttet. Denn ich weiß, was hier danach kommt, wenn sie mich abholen oder was, dann na ja."
    Herbert Mölbitz und Manfred Pötzsch sind 1953 elf und 17 Jahre alt. Die Väter seit Generationen Landwirte, nicht reich aber mit gut laufendem Betrieb, der die Familie ernähren kann.
    Verwurzelt in Rade, einem hübschen, lang gezogenen Dorf, mit Kirche und früher auch mit Gaststätte. Auf der Seite, auf der Herbert Mölbitz und Manfred Pötzsch wohnen, säumen über 100-jährige Linden die Straße aus Kopfsteinpflaster.
    Druck auf die Landwirte wuchs
    Juli 1952: Auf ihrer zweiten Parteikonferenz verkündet die SED Führung den ''planmäßigen Ausbau des Sozialismus''. Für die Landwirtschaft bedeutet das: Die LPGs, die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, sollen massiv ausgebaut und gefördert werden. In vielen Dörfern kommt das nicht gut an. Wer einen funktionierenden Betrieb hat, sieht keinen Anlass, sein Land, sein Vieh und seine Maschinen in eine Genossenschaft zu geben. Deshalb erhöht ab Ende 1952 die SED Führung den Druck auf die Landwirte massiv, besonders auf die Großbauern, Betriebe ab 20 Hektar. Immer mehr müssen sie abliefern. Wer aber sein Abgabesoll nicht erfüllt – wer es also nicht schafft, die vorgeschriebene Menge etwa an Getreide oder Milch abzuliefern – der bekommt keinen Dünger mehr, keine Maschinen, darf nicht schlachten. Ein Teufelskreis.
    "Wir hatten unter 20 Hektar, wir haben alles gehabt. Waren immer solche Betriebe, wo der Mann im Krieg geblieben ist. Hier ist es so, dass die Betriebe schlechten Acker hatten. Feld versoffen, war damals so. Ich weiß bei euch auf dem ?, war manchmal halber Schlag versoffen. Und dann haben die das Abliefern nicht geschafft. Äußere Umstände haben sie denen dann zur Last gelegt. Und dann war' s noch 52 ist der Roggen in der Ähre erfroren. Wenn man nicht ernten kann, kann man nicht abliefern, das war so. Wenn sie das Abliefern nicht geschafft haben, sind sie gekommen und haben geholt."
    Verhaftungen und Enteignungen
    Aus Rade werden zwei Landwirte eingesperrt. Herbert Pötzsch fegt gerade die Straße, als der Nachbar verhaftet wird. Der versucht noch, durch den Bach hinter seinem Grundstück zu fliehen. Vergebens. Die Polizisten greifen ihn auf und zwingen ihn in nassen Sachen in ihren Jeep.
    "Die Nachbarin hier, große Wirtschaft, über 30 Hektar, fast 40, der Mann im Krieg geblieben, der Junge war grad 14, 15 Jahr, der konnte auch die Wirtschaft nicht führen, und alles mit fremde Leute und nichts zu essen, die war auch eingesperrt."
    Auch in vielen Nachbardörfern werden Landwirte verhaftet und enteignet, die Stimmung ist gedrückt. Als am 16. Juni in Ostberlin bereits Zehntausende gegen Normerhöhungen und für den Rücktritt der Regierung demonstrieren und der Westsender RIAS ausführlich berichtet, beschließen die Bauern in Rade, etwas zu tun.
    "Mein Vater, der hat das da im Radio gehört, der war ein bisschen populär, der war mit Herrn Knieling gleich, da haben sie zusammen gesprochen, haben gesagt, wir müssen auch was unternehmen, müssen nach Jessen zur Demonstration. Und mein Vater hat noch welche organisiert hier, Bauern, und der Knieling ist noch nach Düssen gefahren. Dann sind die Düssener am nächsten Tag da mit dem Bulldog und dem Hänger und viele Landwirte drauf."
    "Die faschistischen Provokationen begannen im Bezirk Cottbus in den frühen Morgenstunden des 17. Juni 1953 im Kreise Jessen. Hier sammelte sich bereits um 07.00 Uhr auf dem Marktplatz der Kreisstadt Jessen eine Menge von circa 250 Großbauern gemeinsam mit einigen Arbeitern der volkseigenen Ziegelei Gorrenberge und der MTS Leitwerkstatt Jessen."
    So steht es in einem Bericht der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Cottbus.
    "Sie zogen vor das Gebäude der Kreisverwaltung und forderten dort vom Staatsanwalt die Freigabe aller inhaftierten Großbauern."
    "2. nicht nur die zu entlassen, die drei Jahre Zuchthaus haben, sondern alle anderen ebenfalls, außer der kriminellen Verbrecher
    3.Herabsetzung des Ablieferungssolls und Angleichung an das Ablieferungssoll der Genossenschaften
    4.Freie Wirtschaft"
    "Mein Vater ist denn mitgefahren nach Jessen und ich das Fahrrad raus geholt und nach Jessen, das war dann schon eineinhalb Stunden später. In Jessen, hinten durch geschlichen zum Schloss, im Schloss schon alles voll. Voller Leute, alles Bauern hier, hab mich dann mit hingestellt und hab zugehört."
    Der Demonstrationszug geht durch die ganze Stadt
    Anschließend geht die Demonstration durch die ganze Stadt, erinnert sich Herbert Mölbitz, und überall schließen sich Arbeiter aus Handwerksbetrieben an.
    "Denn waren wir auf dem Marktplatz, kam schon mittags, halb eins, eins, LKW mit die aus Gefängnis. Sehe ich noch wie heute, wie die runter gestiegen sind vom alten LKW. Alte Frauen, die sie eingesperrt hatten. Das war doch was und der Staatsanwalt mitten drin. Das war ein richtiger Erfolg da.
    Und denn, heim angekommen, hab ich zu meiner Mutter gesagt, wir sind frei! Und nicht lange, dann kommt der erste Panzer durch hier."
    Am Abend wird im Bezirk Cottbus – wie in weiten Teilen der DDR – der Ausnahmezustand verhängt. Noch in der Nacht werden zwei Landwirte aus Rade abgeholt und verhaftet, andere flüchten schon abends ins hohe Getreide und müssen sich vier Wochen lang versteckt halten.
    Der Landwirt Manfred Pötzsch zieht 65 Jahre später so Bilanz:
    "Es sind jedenfalls welche befreit worden und die Stellschraube gegen die Landwirte ist auch in der ersten Zeit zurückgedreht worden. Die haben danach keinen mehr abgeholt, der das Soll nicht geschafft hat. Aber es wurde massiv dran gearbeitet, dass mit anderen Mitteln die Leute LPG gründen und das war ja 1960 auch zu Ende, da haben sie uns ja alle."