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18 Millionen afrikanische Flüchtlinge wollen nach Europa

Seit dem Zusammenbruch Libyens suchen Millionen junger Afrikaner einen neuen Weg nach Europa und landen zumeist in Mauretanien an der Westküste. Grünhelm-Chef Rupert Neudeck fordert Hilfen bei der Berufsausbildung und Mikrokredite für diese Menschen, damit sie in ihrem Heimatland eine Existenz aufbauen können.

Das Gespräch mit Rupert Neudeck führte Christoph Heinemann | 22.06.2012
    Christoph Heinemann: Der frühere libysche Geheimdienstchef al-Senussi befindet sich in Mauretanien in Haft. Die mauretanischen Behörden werfen ihm Urkundenfälschung und illegale Einwanderung vor. Al-Senussi zählte zu den engsten Vertrauten des früheren libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi, der im vergangenen Jahr gestürzt und getötet worden war. Al-Senussi ist nicht der Einzige, der wegen des Krieges in Libyen in Mauretanien angekommen ist; viele der zumeist jungen Menschen, die sich von Zentralafrika aus auf den Weg nach Europa machen und die früher über Mali und Algerien nach Libyen gelangten, landen jetzt in Mauretanien. – Wir sind in der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott mit Rupert Neudeck verbunden, dem Gründer der Hilfsorganisationen "Cap Anamur" und "Grünhelme". Guten Morgen!

    Rupert Neudeck: Guten Morgen!

    Heinemann: Herr Neudeck, wie ist die Lage der Flüchtlinge in Mauretanien?

    Neudeck: Die Lage hat sich hier sehr zugespitzt, weil die Pipeline zum Mittelmeer über Libyen praktisch für die jungen afrikanischen Migranten nicht mehr funktioniert und sie jetzt den Weg nehmen entweder über die westafrikanische, oder die ostafrikanische Küste, also über das Niltal zum Sinai, über Israel und dann in die Türkei, oder auf der westlichen Seite des Atlantiks über Mauretanien, das das Land geworden ist, was am sichersten für die Flüchtlinge ist, für die Migranten, weil sie hier erst mal bleiben können und warten können auf den Moment, dass sie eine Pirogge erreichen, um auf die Kanarischen Inseln zu kommen. Das ist aber jetzt nicht mehr so leicht, weil die Frontex, also die bewaffnete Macht der Europäischen Union, sich hier sehr stark eingenistet hat und auch in der Hafenstadt Nuadibú täglich dabei ist, nur Leute aufzugreifen und an die Grenze nach Mali oder zum Niger zurückzuwerfen.

    Heinemann: Herr Neudeck, woher stammen die Menschen überwiegend?

    Neudeck: Also man darf es nicht für möglich halten, aber es ist so: aus 17 afrikanischen Ländern, die alle keinen sehr guten Leumund haben in Bezug auf das, was man mit einem vornehmen englischen Wort Good Governance nennt. Die haben also keine guten Regierungen, und deshalb sind dort für diese jungen Leute schlechte Aussichten, die ja meistens die Jugend dieser Länder bilden, 50 Prozent der Bevölkerung. Die haben kaum Arbeitsplätze, die haben kaum Berufsausbildung, die haben kaum richtige Ausbildung, die nehmen also ein Menschenrecht in Anspruch, eine bessere Perspektive für sich und für ihre Familie, ihre Großfamilie und ihr Dorf zu suchen. Und das versuchen sie, indem sie geschätzt zu 18 Millionen gegenwärtig auf dem Wege sind in den gelobten Kontinent Europa.

    Heinemann: Kann man diesen jungen Leuten dort in Mauretanien helfen, eine Zukunft in Afrika aufzubauen?

    Neudeck: Ja, das ist möglich. Das ist zwar jetzt schon fast ein bisschen spät, weil die Masse derer, die dort auf dem Wege sind und die uns wahrscheinlich auch auf Schiffen demnächst erreichen will, so groß geworden ist. Dennoch muss man es versuchen. Es gibt eine Möglichkeit, die wir hier ausprobieren, und die funktioniert auch. Die jungen Leute haben uns gesagt, sie können nicht mit leeren Händen zurück in ihr Heimatdorf in Kamerun, in Kongo, in Nigeria oder Guinea-Bissau, sie müssen irgendetwas vorweisen. Das, was sie vorweisen müssen und wobei man ihnen helfen kann, ist eine Berufsausbildung. Nach zwei Jahren können sie in der Berufsschule, die wir in Nuadibú, der Hafenstadt von Mauretanien, gebaut haben, ein Zertifikat haben und in ihrem Heimatland beweisen, dass sie ein Unternehmen gründen können als Bautechniker, als Elektrotechniker, als Solartechniker, als Hotelier-Fachmann und so weiter. Das hat bisher in diesen Fällen, die wir gesehen und miterlebt haben, schon geholfen. Dann kann man in dem Lande, in das sie zurückgehen, auch über eine Mikrokredit-Organisation diesen Aufbau eines eigenen Unternehmens erleichtern, und dann hat man schon die Zahl der Arbeitsplätze vervielfältigt. Das scheint mir, im Moment die einzig sinnvolle Lösung zu sein für die Probleme dieser Menschen, die aus eigener Kraft nicht zurückgehen können. Die können nicht in ihr Heimatdorf zurückgehen und sagen, ich habe die Hälfte des Geldes, das ihr für mich gesammelt habt, schon verbraucht und jetzt habe ich gesehen, dass das alles zu gefährlich ist, ich habe Leichen an der Küste angeschwemmt gesehen. Das geht nicht, das können diese Menschen nicht. Man muss ihnen dabei helfen, ihr Gesicht zu wahren und produktiv zu werden.

    Heinemann: Wie gehen die mauretanischen Behörden mit den Flüchtlingen um?

    Neudeck: Die sind relativ tolerant – in dem Sinne, dass sie sie nicht verfolgen. Verfolgen tut sie einzig zu unserer Schande, muss ich das sagen, die EU, die immer noch nicht begriffen hat, dass sie gegenüber diesen jungen hoffnungsvollen Menschen zumindest auch so etwas machen muss wie eine Politik. Sie kann nicht alleine glauben, dass das Hochziehen einer Mauer und das Einmauern Europas über diese Frontex hilft, militärische Hubschrauber und Polizisten. Das alleine wird nicht gelingen. Mauretanien hat bisher bewiesen, dass es diese Menschen zumindest mal in sein Land hineinlässt und ihnen dabei nichts passiert, weil es sind Afrikaner, die man aufnimmt und die auch dort ein Gewerbe ausüben können. Mauretanien ist ein Land, das eigentlich vorbildlich ist in Bezug auf Toleranz auch gegenüber anderen Religionen und anderen Stämmen.

    Heinemann: Wieso unterscheidet sich die Lage in Mauretanien so von anderen, zum Beispiel von Ägypten? Sie sprachen ja die Toleranz an auch gegenüber anderen Religionen, zum Beispiel den Christen.

    Neudeck: Das hat Gründe – einmal in der Tradition des Islam hier, der nicht nur tolerant ist, sondern der ausdrücklich auf Zusammenarbeit mit den anderen Religionen setzt. Zum Beispiel gibt es hier in diesem Lande, von dem aus ich mit Ihnen telefoniere, eine anerkannte NGO, also Nicht-Regierungsorganisation, die ausdrücklich als katholische Organisation anerkannt und registriert worden ist, nämlich die Mauretanien, also die mauretanische Karitas. Das andere ist: Mauretanien ist ein riesengroßes Land, sicher so groß wie Frankreich und Deutschland zusammen in der Fläche, hat aber nur bis vier Millionen Einwohner. Das heißt, das trägt auch dazu bei, dass es hier wenig Heißsporne gibt und wenig Platzängste und Produktionsängste, die zwischen den Menschen und den Stämmen ausbrechen, wie im Nachbarland Mali das gegenwärtig der Fall ist.

    Heinemann: Stichwort Mali. Dort haben Tuaregs eine Republik Azawad ausgerufen. Auch im Senegal gibt es separatistische Bestrebungen. Ist damit zu rechnen, dass die einst mit dem Lineal gezogenen Grenzen im afrikanischen Nordwesten gerade neu gezogen werden?

    Neudeck: Das wird sicher ein Thema werden, obwohl sich die Afrikanische Union dagegen mit Händen und Füßen sträubt. Also die gewählten Regierungen und Präsidenten, die manchmal 30 Jahre und länger im Amt sind, wehren sich gegen jede Diskussion der Änderung von Grenzen auf das Heftigste. Aber es wird irgendwann diese Diskussion sicher kommen. Der Spezialfall Mali ist wohl hier einer, der auch aus der Kraft der Opposition, der Bevölkerung herausgelöst werden wird, so schätzt man das hier ein. Die Tuareg sind nur 15 Prozent der Bevölkerung in Azawad, also im Norden Malis, und deshalb wird es nicht gelingen, diese unabhängige Republik auszurufen. Es gibt großen Widerstand in Bezug auf diese Unabhängigkeit bei den arabischen Stämmen von Nord-Mali.

    Heinemann: Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen "Cap Anamur" und "Grünhelme". Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Neudeck: Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.