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1917
Kinder der Russischen Revolution

Während der Erste Weltkrieg tobt, gärt es in Russland. Hunger und Armut führen im Februar 1917 zu Aufständen und zum Sturz des Zaren. Im Oktober dann gelangen die Bolschewiki per Staatsstreich an die Macht - die Sowjetunion wird gegründet. Schon kurz danach wird sie zur Legende - und zum wichtigen Propagandainstrument der Sowjetunion.

Von Barbara Weber | 05.01.2017
    Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg (Petrograd) am 7. November 1917.
    Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg (Petrograd) am 7. November 1917. (picture-alliance / dpa / UPI)
    "Schon kann man die Konturen des roten Quaders, aus denen das Mausoleum Lenins aufgebaut ist, sehen, schon sieht man im Dunkel verschwimmen die Menge, die rechts und links vom Mausoleum aufgestellt ist."
    6. November 1931. Revolutionsfeierlichkeiten auf dem Roten Platz in Moskau. Egon Erwin Kisch beschreibt die Szenerie vor seinen Augen.
    "Man kann durch den Nebelschleier den Genossen Stalin erkennen, der mit seiner unvermeidlichen Mütze und mit seinem braunen Gummimantel rumsteht, neben ihm Molotow."
    Seit vier Jahren herrschte Stalin uneingeschränkt über die Sowjetunion. Längst waren seine Kampfgenossen gestorben – wie Lenin – oder des Landes verwiesen – wie Trotzki. Der Terror, der sich schon abzeichnete und in den folgenden Jahren unvorstellbare Ausmaße annehmen sollte, hatte nur eine Begründung: die konsequente und rücksichtslose Durchsetzung der bolschewistischen Revolution.
    Lenin und Stalin – so verbreitete es Stalin - waren die beiden Helden dieser neuen Welt. Und Stalin wollte das vollenden, was Lenin schon 1919 anlässlich der Dritten Kommunistischen Internationale beschwor:
    "Es wird nicht lange dauern und wir werden den Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt sehen. Wir werden die Gründung der Föderativen Weltrepublik der Sowjets erleben."
    Es kam anders, als Lenin es vorhersagte. Unbestritten gilt aber nach wie vor: Die Russische Revolution ist neben den beiden Weltkriegen eines der prägendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Und sie hatte ein großes Vorbild, meint Professor Boris Kolonitskiy, Historiker an der Europäischen Universität St. Petersburg:
    "Die Französische Revolution war sehr wichtig für die Russische Revolution. Die Russische Revolution oder das Bild, das man sich von ihr gemacht hat, was nicht unbedingt etwas mit der Realität zu tun hat, hatte wiederum große Auswirkungen auf China, auf Europa, Lateinamerika, Asien – auf viele Länder. Ich glaube, das soziale, kulturelle und politische Leben im 20. Jahrhundert ist ohne die Russische Revolution schwer vorstellbar."
    Welche sozialen, politischen und ideologischen Ursprünge hatte die Revolution in Russland? Wie konnte aus einem zunächst bürgerlichen Aufstand ein bolschewistischer Militärputsch werden? Und inwieweit prägen diese Ereignisse die Politik, die immer wieder versuchte, sie zu instrumentalisieren?
    Der Bär erwacht
    "Russland war vor dem Ersten Weltkrieg das größte Land Asiens und Europas", sagt Jörg Baberowski, Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt Universität Berlin, "das sich von der heutigen deutsch-polnischen Grenze faktisch bis an den Pazifik erstreckte und vom nördlichen Eismeer bis nach China und Iran, also das größte Land der Erde."
    Zar Nikolaus II. ließ im Jahr 1897 eine allgemeine Volkszählung durchführen. Demnach gaben von 125 Millionen Menschen nur etwas über 55 Millionen russisch als Muttersprache an. Etwa 22 Millionen bezeichneten sich als Ukrainer. Eine große Minderheit bildeten auch die Weißrussen; knapp acht Millionen sprachen polnisch, über fünf Millionen waren Juden. Indigene Bevölkerungsgruppen wie Nomaden mit ihren Naturreligionen zählten zum russischen Großreich wie auch muslimische Bürger. Die Bevölkerung war also alles andere als homogen.
    In den Metropolen wie St. Petersburg, Moskau oder Odessa lebte eine stark nach westlichen Vorbildern orientierte Oberschicht, die sich langsam wandelte.
    Stichworte zur Sozialstruktur Russlands vor der Revolution:
    + Von 125 Millionen Menschen geben nur etwas über 55 Millionen russisch als Muttersprache an. Die Bevölkerung war also alles andere als homogen.
    + In den Metropolen wie St. Petersburg, Moskau oder Odessa lebte eine stark nach westlichen Vorbildern orientierte Oberschicht, die sich langsam wandelte.
    + Bauern stellten mit über 80 Prozent den Hauptteil der Bevölkerung.
    "Das war seit den 1860er-Jahren stark im Fluss. Die adelige Oberschicht bestimmte nach wie vor die Verwaltung und bekleidete die hohen Ämter, Ministerämter, Gouverneursposten oder Ähnliches."
    Manfred Hildermeier, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte, Universität Göttingen.
    "Der kleine bis mittlere Adel engagierte sich in regionalen Selbstverwaltungsorganisationen, die 1864 geschaffen worden waren. Zu einem erheblichen Teil schloss sich dieser Adel der konservativ liberalen Bewegung seit den 1890er-Jahren an. In den Städten gab es eine große Masse relativ armer Leute, darunter in den großen Städten zunehmend die Arbeiterschaft. Heraus ragte eine sehr schmale Elite von Großbürgerlichen, Unternehmern, Industriellen, schon frühen Bankiers seit den 1890er-Jahren. Das ist die kleine Schicht, der wir die Jugendstilprachtbauten verdanken, die man in Sankt Petersburg und Moskau heute noch sehen kann."
    Bauern stellten mit über 80 Prozent den Hauptteil der Bevölkerung, die insbesondere im Hinterland unter ärmlichen Bedingungen lebte und auf einem agrarisch technischen Niveau arbeitete.
    "Das in Mitteleuropa doch schon längst der Vergangenheit angehörte. Es gab noch die Drei-Felder-Wirtschaft. Es gab noch Holzharken-Pflüge. Und der Kunstdünger war so gut wie nicht verbreitet."
    Ein Vorurteil kann Prof. Nikolaus Katzer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau, allerdings nicht bestätigen:
    "Wenn wir aber ein Stereotyp der älteren Forschung zum späten Zarenreich aufgreifen, das Russland verelendete, so müssen wir nach den jüngsten Forschungen eher das Gegenteil behaupten und feststellen, dass es in vielen agrarischen Bereichen sich zum Besseren wendete. Dass die Produktivität selbst in traditionellen Anbauformen, das heißt, dass Armut und drohender Hunger tendenziell nachließen."
    Seine Schlussfolgerung: "Russland war in der Mehrheit keine Elendsgesellschaft."
    Trotzdem gärte es in der Bevölkerung. Schon in den 1820er-Jahren - angeregt durch die Entwicklungen im nach-revolutionären und napoleonischen Europa - verschwor sich eine junge Gruppe adeliger Offiziere gegen den Zaren und forderte eine Verfassung für das Land. Die Revolte wurde rasch beendet, fünf der Verschwörer hingerichtet.
    Angefeuert durch marxistische Ideen, bildeten sich in den folgenden Jahrzehnten in den Städten erste sozialdemokratische Gruppierungen. Diese elitären Zirkel wollten die Lebensbedingungen der Bauern verbessern. Diese wiederum verstanden nicht, was die Intellektuellen von ihnen wollten. Zudem hatte der Zar die Leibeigenschaft 1861 aufgehoben. Entsprechend zeigten sie sich wenig motiviert, mit der städtischen Intelligenzija gegen die Zarenherrschaft zu kämpfen. Sozialismus, Anarchie und Revolution sagten ihnen erst mal wenig. Ihr Kampf galt dem Überleben.
    Erste Revolution 1905
    Erst die Revolution von 1905, mit massiven Unruhen auch der Arbeiterschaft in Sankt Petersburg, führte zum ersehnten Fortschritt eines gewählten Parlaments, der Duma. Allerdings verfügte der Zar weiterhin über eine starke Position in der Exekutiven und Legislativen. Zudem schlossen die neuen Regelungen große Teile der Bevölkerung, wie Frauen, Studenten und Soldaten von den Wahlen aus.
    Der Erste Weltkrieg brachte radikale Veränderungen. Die patriotische Euphorie, mit der das Zarenreich 1914 in den Krieg gezogen war, verflog schnell. Die Verluste waren hoch, die Anstrengungen enorm und die Entbehrungen, nicht nur der Soldaten, sondern auch der Zivilbevölkerung, groß. Insbesondere in den Städten machte sich das bemerkbar, so auch in Sankt Petersburg, dass übrigens, seitdem Russland gegen Deutschland Krieg führte, Petrograd hieß.
    "Die Hungersnöte entstanden vor allem dadurch, weil die Regierung nicht imstande war, das Versorgungsproblem zentral zu lösen," so Jörg Baberowski. "Und das Zweite war, dass sie es den gesellschaftlichen Institutionen verweigerte, das selbst in die Hand zu nehmen, weil sie befürchtete, dass sie dann Kompetenzen an die Liberalen abgeben müsste. Das Versorgungsproblem war vor allem ein Problem der Organisation. Die hatten die Kriegswirtschaft nicht im Griff. Sie konnten die Armee nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln, mit Gewehren, mit Munition und Kleidung versorgen, sodass an vielen Frontabschnitten die Soldaten die Waffen der Gefallenen nehmen mussten, weil sie keine eigenen hatten. Und sie waren nicht im Stande, die großen Städte mit Lebensmittel ausreichend zu versorgen."
    Ein bürgerlicher Aufstand, ein Militärputsch und die Revolution
    Im Februar 1917 eskaliert die Lage mit weitreichenden Folgen.
    Nikolaus Katzer:
    1. "Es ist zum großen Teil eine Selbstmobilisierung unterschiedlicher Teile der Bevölkerung."
    2. "Soldaten, die mit der Kriegslage, der Entwicklung des Krieges, unzufrieden waren und natürlich auch unter Nachschubproblemen litten."
    3. "Natürlich die städtischen Arbeiter, für die die Brotrationen ständig gekürzt wurden."
    4. "Im Umfeld des internationalen Frauentages treten für Brot anstehende Frauen über in die Reihen der Demonstranten und der Streikenden."
    5. "Schließen sich Soldaten der Petrograder Garnison den Streikenden und Demonstrierenden an. Das ist im Grunde der entscheidende Wendepunkt im Februar gewesen."
    Denn: "Das Regime hatte keine regierungstreuen Truppen in der Stadt, auf die es sich hätte verlassen können", sagt Jörg Baberowski. "Und am Ende setzten sich die Liberalen aus der Duma an die Spitze des Protestes, und sie kamen auf die Idee, die beste Lösung sei es, wenn der Zar abdanke und den Thron seinem Sohn überlasse. Das war, glaube ich, der größte Fehler, den sie machen konnten, weil erstens eine Abdankung des Zaren gar nicht vorgesehen war, und der Zar dann auch noch mal für seinen Sohn selbst abdankte, was er schon gar nicht hätte tun dürfen. Und sein Bruder dann den Thron nicht annahm im Wissen, dass er das gar nicht durfte. Und dass er deshalb auch keine Legitimation gehabt hätte."
    Die Idee der Liberalen, der absolutistischen eine konstitutionelle Monarchie folgen zu lassen, konterkarierte der Zar mit seiner Abdankung. Jetzt gab es keine Legitimation der Macht mehr, denn;
    "Die Regierung war vom Zaren eingesetzt worden, das Parlament vom Zaren gestiftet worden und die Verfassung auch, von oben. Und nun hatten sie gar nichts, wodurch sie legitimiert waren, weder die Revolutionäre, noch die provisorische Regierung. Sie alle waren vom Zaren irgendwann mal eingesetzt worden. Und jetzt war die einzige Legitimationsquelle, die dieses riesen Imperiums zusammengehalten hatte, weg. Und damit konnte, wie Lenin später gesagt hat, eigentlich jeder mit gutem Recht sagen, die Macht liegt auf der Straße, sie gehört dem, der sie sich nimmt."
    Lenin kehrt nach Russland zurück
    Wenig später kehrte Lenin, mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Kaisers, aus seinem Exil in Zürich nach Russland zurück, so wie andere im Exil lebende russische Sozialdemokraten auch. Er stellte sich, mit massiver Unterstützung durch den brillanten Redner Trotzki, an die Spitze der Räte. Manfred Hildermeier:
    "Es kam zu einem Arrangement zwischen dem Arbeiter- und Soldatenrat und dem liberalen Teil dieses Parlaments. Das ist der Kern dessen, was man als Doppelherrschaft bezeichnet hat. Eine Doppelherrschaft, die zwischen dem Februar 1917 und dem Oktoberumsturz der Bolschewiki das Land geprägt hat."
    Meinungs- und Presse-, Glaubens- und Versammlungsfreiheit wurden eingeführt, die Privilegien des Adels und des Klerus abgeschafft. Das rückständige Russland war plötzlich zum freiesten Land in Europa geworden. Und Petrograd war das Zentrum.
    Aber was passierte im übrigen Land? Gab es in der Peripherie dieses Riesenreiches auch Aufstände? Und deckten sich die Ziele der Aufständischen auf dem Land mit denen in der Stadt? Seit einigen Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler auch mit diesen Fragen:
    "Diese Revolution findet nicht nur in den Hauptstädten Petrograd und Moskau statt, sondern sie findet ja in unterschiedlichen Formen in diesem ganzen großen russischen Imperium, in diesem ganzen Reich statt, eben auch in der Peripherie."
    Tanja Penter ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg.
    "An erster Stelle natürlich die Ukraine, aber auch die Staaten im Kaukasus. Interessant ist vielleicht auch, dass es nicht nur zur nationalen Revolution 1917 kommt, sondern dass zum Beispiel in Sibirien diese großen Regionen hinter dem Ural, auch regionale Bewegungen entstehen, die eine starke politische Kraft entfalten. Und da hat sie dann auch ein ganz anderes Gesicht. Und das ist meines Erachtens auch von der Forschung bis heute viel zu wenig berücksichtigt worden."
    So entsteht beispielsweise in der Ukraine nach der Februarrevolution eine nationale Regierung, die von einer breiten Bevölkerungsgruppe unterstützt wird:
    "Die ganz klar Autonomieforderungen für die Ukraine stellt, Konzepte eines föderalen Gesamtrusslands entwickelt, eine Minderheitenpolitik, wo sie versucht, auch die in der Ukraine lebenden Minderheiten zu integrieren. Und die zunehmend auch in einen Konflikt mit der provisorischen Regierung in Petrograd gerät, die diese Autonomiebestrebungen sehr kritisch sieht."
    Doch die provisorische Regierung in Petrograd hatte andere Probleme, als sich um die Peripherie zu kümmern, denn schon bald zeigte sich die Diskrepanz zwischen den Zielen der Beteiligten: Die liberalen bürgerlichen Kräfte strebten eine Legitimierung der Regierung durch Wahlen an, die sie für den Herbst planten. Zudem zeigten sie sich patriotisch und glaubten, den Krieg noch gewinnen zu können.
    Diese Ziele standen im Widerspruch zu der Erwartung breiter bäuerlicher Bevölkerungsschichten, die sich weniger um die Legitimation der Regierung sorgten als um zügige Landreformen und eine Beendigung des Krieges. Das sahen die Räte genauso. Lenin an der Spitze forderte sofortige Friedensverhandlungen, Sozialreformen, Enteignung der Industrieanlagen sowie des Grundbesitzes und die Übergabe der Landwirtschaft an die Bauern.
    "Ende Juli, Anfang August kippte die Stimmung", sagt Nikolaus Katzer, "und die Bolschewiki, die auch eine Art Umsturz propagierten in dieser Phase, hatten immer mehr Zulauf. Das heißt, aus dieser Splittergruppe wird in wenigen Wochen eine Massenbewegung, die eine durchaus straffe, wenngleich, wie sich zeigt im Herbst, durchaus zerstrittene Führung um Lenin hatte."
    Das Ziel dieses radikalen Flügels der Sozialdemokraten, der sich Bolschewiki nennt, ist nicht mehr eine Demokratie, sondern die Herrschaft der Sowjets, der Räte. Lenin formuliert das später so:
    "Selbst in der demokratischsten, selbst in der freiesten Republik wird der Staat, solange die Herrschaft des Kapitals bestehen bleibt, solange Grund und Boden Privateigentum bleiben, immer von einer kleinen Minderheit geleitet, die zu neun Zehnteln aus Kapitalisten und Reichen besteht."
    Alle Macht den Sowjets, das ist jetzt die Devise. Was dann – nach russischer Zeitrechnung im November, nach mitteleuropäischer im Oktober - passierte, entwickelte sich in den Erzählungen und Erinnerungen der Sowjets und ihrer Verbündeten zu einer eigenen, heroischen Revolutionsgeschichte.
    Ablauf der Oktober-Revolution
    Trailer des Films "Oktober" von Eisenstein auf Youtube. Er zeigt die bolschewistische Sicht auf die Ereignisse der Revolution:
    Kein Dissens besteht unter Historikern darüber, wie sich der Ablauf der Machtergreifung durch die Bolschewiki im Oktober nach europäischer Zeitrechnung in Petrograd abspielte:
    "Es wird generalstabsmäßig die Machtergreifung vorbereitet. Es gelingt den Bolschewiki tatsächlich, die Macht zu erobern. Sie haben ein militärisches Revolutionskomitee gegründet, das maßgeblich den Befehlen Trotzkis folgte, ganz gezielt wichtige Schaltstellen der Macht, der Medien, der Verwaltung, der Versorgung in der Stadt besetzt, ganz offenkundig mit vergleichsweise wenig Widerstand die provisorische Regierung gestürzt."
    Boris Kolonitskiy gilt heute als einer der bedeutendsten russischen Revolutionsforscher. Der Historiker arbeitet unter anderem zur Rezeptionsgeschichte der Ereignisse von 1917. Die begann bereits ein Jahr nach der Revolution.
    "Die ersten Gedenkfeiern begannen schon sehr früh im November 1918. Man muss immer die spezielle Situation von 1918 bedenken. In Russland herrschte Bürgerkrieg. Die Situation war für Lenin und seine Verbündeten sehr kompliziert. Ihm war wichtig, die Ereignisse vom Oktober 1917 als bolschewistische Revolution hinzustellen. Aber das war sie nicht. Sie wurde getragen von Sozialdemokraten, Anarchisten, Bürgerlichen, die sich nicht durch das Parlament vertreten fühlten, Nationalisten und anderen. Im ersten Jahr glaubten viele, es sei ihre Oktober-Revolution gewesen. Jeder erzählte eine andere Geschichte. Die Seeleute fühlten sich zum Beispiel als Avantgarde der Revolution. Sie fühlten sich jetzt betrogen, weil die Bolschewiki die Revolution für sich beanspruchten. Um das auch durchzusetzen, zentralisierten die Kommunisten das Gedenken. Künstler wurden beauftragt, die Revolution in ihrem Sinn zu würdigen, zu glorifizieren. In dem Zusammenhang muss man auch den berühmtesten Film von Eisenstein "Oktober" sehen. Eisenstein war ein Genie. Aber er schuf eine Revolution nach den Vorgaben der Bolschewiki. Er kreierte Geschichte wie so viele Künstler mit ihren Bildern, Filmen und literarischen Texten."
    Anpassung der Geschichtsdarstellung
    Das Narrativ über die Machtergreifung wird in den darauffolgenden Jahrzehnten entsprechend den Vorstellungen der Sowjets und der jeweiligen Politik angepasst. Der Rundfunk der DDR präsentiert am 7. November 1981 in seinem Jugendjournal Zeitzeugen des Ereignisses, die nicht näher namentlich genannt werden.
    "Die Bolschewiki hatten aufgerufen und uns eingesetzt. Wir mussten die Telegrafenämter, die Postämter, die Polizeiwachen und die großen Banken, die Bahnhöfe besetzen. Und jetzt – wir haben alles in unserer Hand, nur den Winterpalais noch nicht. Waffen hatten wir genügend, in der Peter-Paul-Festung war das Waffenarsenal schon in unserer Hand. Dann kam auch noch von den roten Kommissaren noch mal ein Befehl, wir sollten holen die Werftarbeiter von den Zaristischen Werften. Auch die haben wir geholt. Auch die wurden bewaffnet. Und so standen wir nun, von morgens bis abends. Wie wir wissen, war das Signal zum Angriff auf das Winterpalais durch die Schüsse der Aurora gegeben worden. Wir erhielten zwei Patronengürtel - und auf geht's."
    Russische Kommunisten marschieren zum 95. Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 2014 in Moskau. 
    Russische Kommunisten marschieren zum 95. Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 2014 in Moskau. (imago / Russian Look)
    Während es in Moskau zu blutigen Auseinandersetzungen kam, beschreibt der Historiker Jörg Baberowski die nachfolgenden Ereignisse in Petrograd aus Sicht des Wissenschaftlers so:
    "Die Bolschewiki selbst waren enorm überrascht, dass sie die Schaltstellen der Macht zunächst übernehmen konnten und dass sich ihnen überhaupt kein Widerstand entgegenwarf. Sie hatten erwartet, dass Widerstand organisiert werden würde, wenigstens vom Militär. Und es passierte nichts. Und sie saßen dort und konnten ihren Erfolg gar nicht glauben."
    Das hörte sich im DDR Rundfunk am 07.11.1981 etwas anders an:
    "Die ersten waren die roten Matrosen von Kronstadt, die das Tor überklettert hatten und öffneten. Und alles schrie mit Hurra, voran. Drinnen verteidigen sich die Weißen. Es gab sehr viele Verwundete und Tote. Wir verschafften uns durch das rechte Tor Einlass und kämpften uns von Stockwerk zu Stockwerk durch. Das Winterpalais hat mehr als 1.000 Zimmer. Glauben Sie mir, dieser Sturm war kein Spaziergang."
    Hat sich das so zugetragen? Gab es wirklich Tote und Verletzte, wie der Beitrag suggeriert? Oder handelt es sich um Revolutionsprosa, womöglich Propaganda? Auffallend ist, dass die genannten Zeitzeugen den angeblich schweren Kampf um das Winterpalais gar nicht konkret beschreiben. Allerdings geben sie das wieder, was Sergei Eisenstein in seinem Propagandafilm "Oktober" zehn Jahre später zeigt.
    Da hat das Land schon eine blutige Geschichte hinter sich, denn nach der Oktoberrevolution versinkt es zwischen 1918 und 1921 in einem blutigen Bürgerkrieg, in Chaos und Anarchie.
    Für die Sowjetunion und ihre Verbündeten stellte das Ereignis eine Herausforderung dar: Zum einen verherrlichte die offizielle Geschichtsschreibung die Revolution. Die jungen Revolutionäre galten als Vorbilder für Generationen kommunistischer Jugendlicher. Andererseits brauchte auch das sowjetische Regime stabile Verhältnisse und keine Aufruhr. Diese Widersprüche bestanden seit den 1920er-Jahren.
    Die Bedeutung der Revolution in der Jetztzeit
    Gefährlich wurde es für das Regime immer dann, wenn politische Unruhen unter dem Deckmantel der Revolution ausbrachen, wie in der Tschechoslowakei 1968. Auch Gorbatschow nutzte die Revolution für seine Zwecke:
    "Gorbatschow hat seine Politik als eine Fortsetzung der Revolution beschrieben. Jelzin benutzte zwar antikommunistische Rhetorik, aber gleichzeitig war klar, dass er diese bolschewistische Art der Radikalisierung nutzte. Auf seinem bekanntesten Bild 1991 hielt er seine wichtigste politische Rede auf einem gepanzerten Wagen. Und er nahm damit direkt einen symbolischen Bezug auf Lenin, der ebenfalls, als er aus Deutschland in Russland ankam, eine seiner bedeutendsten Rede auf einem Panzerfahrzeug hielt."
    18. Oktober 1993: Loyale Truppen von Präsident Boris Jelzin belagern das Weiße Haus, das russische Parlament.
    18. Oktober 1993: Loyale Truppen von Präsident Boris Jelzin belagern das Weiße Haus, das russische Parlament. (AP Archiv)
    Auch, wenn die verbale Botschaft eine andere war, stand die Symbolik klar in der Tradition der Revolution. Was Putin anbelangt, hält Boris Kolonitskiy ihn für einen kühl kalkulierenden Strategen:
    "Putin ist eklektisch. Er trifft vage Aussagen und benutzt Geschichte als sein Werkzeug. Für ihn war in der Geschichte alles gut. Deshalb ist 1917 ein Problem. Wir können das an seiner Rede sehen, die er 2014 gehalten hat im Zusammenhang mit dem 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Putin hielt eine Rede über die Helden. Was interessant ist, er ging nur allgemein auf die Geschichte ein. In weniger formellen Reden, wenn er improvisierte, war er sehr kritisch Lenin gegenüber. Er sprach Lenin schuldig. Aber er sagte das nie bei größeren öffentlichen Veranstaltungen, weil er die kommunistischen Wähler hinter sich bringen will. Aber auch Leute, die sentimental sind beim Thema Revolution. Ich denke, dass 2017 eine große Herausforderung für das Regime wird."
    Die Herausforderung besteht vor allem in den Elementen der Revolution, die für die politische Ordnung Russlands höchst gefährlich sind, meint Professor Nikolaus Katzer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau:
    "Das spontane Element der Revolution, das im Februar und im Verlauf des Jahres 1917 eine ganz wesentliche Rolle spielt, das sind die Autonomie- und Sezessionsbestrebungen der Nationalitäten. Insofern ist diese Wahrnehmung der Revolution, und wird es auch, denke ich, im Jubiläumsjahr bleiben, durchaus kontrovers und widersprüchlich."
    Widersprüchlich ist auch das heutige Geschichtsbild in der Peripherie der ehemaligen Sowjetunion. Wurde während der kommunistischen Herrschaft ein einheitliches, zentralistisch gesteuertes Bild der Ereignisse von 1917 vermittelt, hat sich zwischenzeitlich einiges verändert. Professorin Tanja Penter, Universität Heidelberg:
    "Natürlich hat dann in der Ukraine nach 1991, nach der Gründung eines ukrainischen Staates, eine vollständige Revision der Sowjethistoriografie stattgefunden. Man hat dieses nationale Narrativ ganz stark in den Vordergrund gerückt. Und das ist im Prinzip die Erinnerung an diese traumatische Erfahrung an die gescheiterte ukrainische Staatsgründung."
    Die Russische Revolution hat das 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt. Sie hat den Grundstein gelegt für die Blockbildung zwischen Ost und West, die Konkurrenz zweier Politiksysteme: der Diktatur des Proletariats und der Demokratie, für die Planwirtschaft im Gegensatz zur freien Marktwirtschaft.
    Nach dem Zerfall der Sowjetunion schien die Demokratie als Sieger überlegen. Und doch zeigt jetzt das 21. Jahrhundert, wie fragil diese Staatsform ist, und wie sich aus der Idee der freien Marktwirtschaft ein Raubtierkapitalismus entwickelt hat. 100 Jahre nach Beginn der Russischen Revolution ist ihre Idee marginalisiert und wird nur noch von wenigen Ländern als Vorbild für ihre Staatsform gesehen. Aber ist sie deshalb Geschichte? Professor Boris Kolonitskyi, Historiker an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg, ist skeptisch:
    "Am Ende des 20. Jahrhunderts hat der französische Historiker Francois Furet gesagt: Die Revolution ist vorbei, 200 Jahre vorbei. Welche Idee hatte er? Im 20. Jahrhundert war die Revolution ein wichtiger Markstein für verschiedene französische politische Parteien. Ich bin kein Spezialist, aber die Revolution ist für Frankreich Geschichte. Was Russland anbelangt, ist die Revolution noch nicht Geschichte. Es ist ein bedeutendes politisches Ereignis. Es ist eine wichtige Zäsur und deshalb würde ich sagen: Unglücklicherweise ist die russische Revolution noch nicht vorbei!"
    Literaturtipps:
    + Altrichter, Helmut u. a.: "1917 – Revolutionäres Russland", Herausgegeben in Zusammenarbeit mit "Damals – Das Magazin für Geschichte", Theiss Verlag, 2016
    + Aust, Martin: "Russische Revolution – Vom Zarenreich zum Sowjetimperium", Verlag C.H.Beck, erscheint am 25.05.2017
    + "Der Spiegel": "Geschichte, Russland – Vom Zarenreich zur Weltmacht", Spiegel-Verlag, Nr.6/2016
    + Hildermeier: "Geschichte der Sowjetunion 1917 – 2017", 2. überarbeitete Auflage, erscheint Oktober 2017, Verlag Beck
    + Merridale, Catherine: "Lenins Zug – Die Reise in die Revolution", lieferbar ab 23. März 2017, Verlag S. Fischer