Dienstag, 23. April 2024

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1968 im Maghreb
Bunt, spannend, repressiv

Die 68er-Bewegung spielte auch im Maghreb eine Rolle. In Tunesien regte sich eine linke Oppositionsbewegung - und bekam es mit einem repressiven Staat zu tun. In Marokko kam der Hippietrail vorbei. Die Lebensläufe von Gilbert Naccache und "Roro" stehen für eine Epoche voller Widersprüche.

Von Alexander Göbel | 07.04.2018
    Straßenszene in Tunesien, aufgenommen schätzungsweise im Jahr 1965
    Straßenszene in Tunesien, aufgenommen schätzungsweise im Jahr 1965: "Anfang der 60er-Jahre mussten wir mitansehen, wie Tunesien immer weiter verarmte, politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich", sagt der ehemalige Studentenführer Gilbert Naccache (Imago/ Gerhard Leber)
    Gilbert Naccache ist Anfang 20, als er 1962 vom Studium in Paris nach Tunesien zurückkehrt. Der Agrarwissenschaftler findet einen Job im Landwirtschaftsministerium in Tunis. Naccache hat nicht nur eine Menge Wissen im Gepäck, sondern auch viele neue Ideen. Ideen für eine bessere Landwirtschaft – aber vor allem: für eine andere Gesellschaft. Und genau damit eckt er sofort an:
    "Anfang der 60er-Jahre mussten wir mitansehen, wie Tunesien immer weiter verarmte, politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Es war das Ende der Demokratie und des Liberalismus' – der Beginn des Einparteienstaats."
    Tunesiens Gefängnisse füllen sich
    Naccache gehört zur linken Bewegung "Perspektiven für ein besseres Tunesien", gegründet von tunesischen Studenten in Frankreich. Immer mehr solcher "Perspektivisten" sind inzwischen nach dem Studium im Ausland zurück in Tunesien – und verlangen plötzlich Reformen, Mitsprache, bessere Bedingungen an den Unis. Sehr zum Missfallen des Staatsapparates unter Präsident Bourguiba. Denn der hat Tunesien zwar 1956 in die Unabhängigkeit von Frankreich geführt, nun aber hat er vor allem seine eigene Macht im Blick.
    6. Juni 1967: In Tunis demonstrieren Studenten gegen Israels Sechstagekrieg und marschieren zur Botschaft der USA. Die Übergriffe kommen dem Präsidenten wie gerufen, er lässt einen Studenten festnehmen und zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilen. Für die Kommilitonen ein Fanal, ein Symbol für die Willkür eines autoritären Staates. Bei einer Festnahme bleibt es nicht – die Gefängnisse füllen sich.
    "Als wir verhaftet wurden, ging es im Innenministerium oder beim Geheimdienst schon nach einer Stunde Verhör mit dem Foltern los. Wir haben diesen Apparat der Gewalt und der Repression zuerst gar nicht begriffen. Wir wollten doch nur, dass uns jemand zuhört!"
    Gilbert Naccache wird im März 1968 als einer der Drahtzieher der Proteste festgenommen. Die Mai-Unruhen von Paris, Frankfurt, Berlin muss er hinter Gittern verfolgen.
    Unbeschwertheit in Marokko
    Zum gleichen Zeitpunkt kommt die 19-jährige Rotraut aus Westfalen in Marokko an. Mit ihrem damaligen französischen Ehemann zieht Roro, wie sie sich jetzt nennt, nach Marrakesch: eine Offenbarung.
    "Und dann komme ich in eine Stadt, die unglaublich schön ist und frei; wir haben in der Zeit natürlich Miniröcke getragen, und ich war überglücklich, dass das auch in Marrakesch ging. Also Marokko, das war Liebe auf den ersten Blick!"
    1969 besucht Roro zum ersten Mal das verschlafene Örtchen Sidi Kaouki im Süden Marokkos an der Atlantikküste.
    "Wir haben da wild gezeltet, bei den Klippen vorne am Meer, wunderbar! Es war wirklich - Marokko für mich, das gehört zu meinem Leben, ganz klar!"
    Roro bekommt Anfang 20 ihr erstes Kind, und mit ihrer jungen Familie genießt sie die Unbeschwertheit in Marokko. Zu Hause demonstrieren die Studenten gegen den Vietnam-Krieg, besetzen die Unis; die RAF beginnt ihren bewaffneten Kampf. In Marokko ist das alles weit weg.
    "Wir waren schon nicht gleichgültig, aber dadurch, dass Marokko so bunt und so spannend war und es auch so viel Liebe zwischen den Menschen gab, ist das alles schon etwas in den Hintergrund gerückt für uns."
    Rotraut "Roro" Viallon-Kallinich (hier mit ihrem zweiten Mann Herbert) kam 1968 nach Marokko und betreibt heute ein Hotel in Sidi Kaouki 
    Rotraut "Roro" Viallon-Kallinich (hier mit ihrem zweiten Mann Herbert) kam 1968 nach Marokko und betreibt heute ein Hotel in Sidi Kaouki (Deutschlandradio/ Alexander Göbel)
    Auf die Hippies folgt die Repression
    Dafür pilgern die Hippies nach Marokko – auf der Suche nach Freiheit, Sinn und Haschisch. Das Spektakel von Happenings und "Peace and Love" wiederum fasziniert viele Marokkaner – und zieht Prominente aus aller Welt an: die Rolling Stones, Uschi Obermaier von der Kommune eins und: Jimi Hendrix.
    Die ausgelassene Stimmung hält nicht allzu lang. Bald zieht der Hippietrail weiter. In Marokko erreichen die sogenannten bleiernen Jahre der politischen Repression ihren Höhepunkt.
    Dafür weht nun in Tunesien wieder ein Hauch von Freiheit: 1980 wird Studentenführer Gilbert Naccache nach 13 Jahren aus der Haft entlassen. Seine Gedanken hatte er in der Zelle auf die Schachteln seiner Cristal-Zigaretten gekritzelt – Naccache macht daraus 1982 seinen ersten Roman mit genau diesem Titel: Cristal.
    "Ich habe meinen Freunden gesagt: Natürlich ist die Lage furchtbar. Aber es ist das Ende der Nacht. Auch wenn die Zukunft noch monströs erscheinen mag, es ist ihr Anfang."
    Von Hoffnung und Freiheit
    Bis heute mischt sich Gilbert Naccache in die politischen Debatten ein, begleitet Tunesiens Weg in Richtung Demokratie, der auch sieben Jahre nach dem Ende der Ben-Ali-Diktatur noch lange nicht vorbei ist. Hoffnung? Immer, sagt Naccache:
    "1968 ist die politische Realität der Macht zum ersten Mal zusammengebrochen – zu Fall gebracht durch nichts als eine neue Melodie des Wandels. Und bis heute bedeutet das sehr viel!"
    Roro war einige Jahre in Deutschland. Mit dem Geld, das sie dort verdient hat, kommt sie zurück nach Marokko – und erfüllt sich ihren Traum. 2009 kauft sie im Surfer-Dorf Sidi Kaouki ein kleines, einfaches Hotel am Strand. Es ist alles fast so wie damals:
    "Die Energie, die ich jetzt noch habe… ich glaube, ich zehre noch von dieser Zeit."
    Roro hat gefunden, was sie gesucht hat, eigentlich schon vor 50 Jahren:
    "Wärme, Herzlichkeit. Nähe, Freiheit: Wir mussten eigentlich nur glücklich sein."