Donnerstag, 18. April 2024

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1970 als Schlüsseljahr der Rockmusik
Die Harten im Englischen Garten

Größer, schneller, weiter? Härter! Während in Deutschland James Last eine Beach Party auf Michael Holms „Straße nach Mendocino“ vor sich hin plätscherte, war in England einiges mehr los: Im Jahr 1970 erschienen dort drei wegweisende Alben, die neue Standards setzen sollten.

Von Fabian Elsäßer | 13.09.2020
    Fünf Männer mit langen Haaren posieren vor Eisenzaun und Hecke und blicken in die Kamera.
    Setzen einen Meilenstein harten Rocks: Deep Purple mit ihrem Album "In Rock" (picture alliance/dpa - S&G and Barratts)
    Musik: Led Zeppelin - "Immigrant Song"
    Wann der Hardrock geboren wurde, ist nicht ganz unstrittig. Einigkeit unter Fans und den Feuilletons herrscht aber darüber, wann er richtig laufen lernte. Im Jahr 1970.
    Musik: Deep Purple - "Child in time"
    Mit – schon in rein tonaler Hinsicht - ungeahnten Höhen. Und ungeahnten Tiefen.
    Musik: Black Sabbath - "Black Sabbath"
    Musik: Simon & Garfunkel - "Bridge over troubled water"
    Ein Jahr der Brüche und Abschiede
    Rückblickend stellt sich 1970 als ein Jahr der Brüche und Abschiede dar. Gleich zu Beginn. Simon & Garfunkel, das Erfolgsduo schlechthin unter den Singer-Songwritern, veröffentlichten im Januar jenes Jahres das Album "Bridge over troubled water" mit dem monumental-ergreifenden Titelstück. Es bleibt ihr Abschiedsgeschenk. Denn auch wenn sich die damals fremd gewordenen Partner in den folgenden Jahrzehnten noch mehrfach für Tourneen und Konzert-Mitschnitte zusammenfanden, nahmen sie nie wieder ein gemeinsames Studioalbum auf.
    Musik: The Beatles- "Don’t let me down"
    Einen noch größeren Einschnitt erlebte die Musikwelt im April 1970: Paul McCartney teilte mit, dass er nicht mehr mit den Beatles arbeiten wolle, und nach einigen Monaten des Hin und Hers wurde die Auflösung der erfolgreichsten und vermutlich einflussreichsten Band aller Zeiten dann auch offiziell besiegelt. Der Schwanengesang war dazwischen zu hören, in Form des Albums "Let it be", erschienen im Mai 1970. Kurzum: Es waren ein paar Plätze im Pop-Olymp frei für neue Helden. Und es war an der Zeit für neue Lautstärke- und Härte-Grade. Was Eric Clapton mit Cream, Pete Townsend mit The Who oder auch die Kinks ein paar Jahre zuvor an verzerrten Endstufen-Geräuschen schon vorgelegt hatten, musste doch zu steigern sein? Als Urknall in dieser Hinsicht gilt der 13. Februar des Jahres 1970. Da nämlich veröffentlichte die Plattenfirma Vertigo mit großem symbolischen Tamm Tamm – es war selbstverständlich Freitag, der 13. – das Debütalbum von vier langhaarigen Männern aus Birmingham.
    Musik: Black Sabbath – "Black Sabbath’’
    Heavy Metal aus der Blechpresse
    Auch wenn die vier Musiker von Black Sabbath mit dem Begriff Heavy Metal lange Zeit wenig anfangen konnten, klebt er bis heute am selbstbetitelten Debütalbum. Und der Song "Black Sabbath" vom Album "Black Sabbath" der Band Black Sabbath galt gar als erster Doom Metal-Song der Welt. So nennt sich das Metal-Subgenre, in dem alles noch einmal deutlich langsamer und tiefer gespielt wird. Auf jeden Fall klang das deutlich anders als die Bands, deren Musik man bis dato als Hard und Heavy-Rock bezeichnet hatte, vornehmlich Led Zeppelin. Das lag einerseits an Ozzy Osbournes wackeligem Gesang, andererseits an dem teuflischen Gitarrensound von Tony Iommi. Die Geschichte dahinter wird immer wieder gerne erzählt: als Hilfsarbeiter in einer Metallfabrik hatte Iommi beim Bedienen einer Blech-Presse aus Unachtsamkeit die Kuppen seines rechten Ring- und Mittelfingers abgequetscht. Um als Linkshänder trotzdem weiter Gitarre spielen zu können, benutzt er seitdem extra angefertigte Fingerhüte und dünnere Saiten und stimmt die Gitarre tiefer, damit sie leichter zu spielen ist. Die ebenfalls leichter zu greifenden sogenannten Power Chords waren und sind ein weiteres zwangsbedingtes Stilmittel. Heavy Metal – ein Betriebsunfall. Eines aber hatten Black Sabbath mit Led Zeppelin gemein. Ihre Musik war, so Tony Iommi:
    "Wir spielten Blues. Das hatten wir alle gemacht, als die erste Black Sabbath-Besetzung zusammenkam. Und eines Tages haben wir geprobt, und ich kam mit diesem Riff an, und alle sagten so: Mann, was ist das denn? Und es waren die Songs Black Sabbath und Wicked World. Die anderen mochten es und wir machten einen Song draus. Wir wussten nicht mal, WAS das war. Wir wussten nur, dass es damals sehr anders war und meinten: lasst uns das mal in einem Blues-Club spielen und schauen, was passiert. Und die Leute mochten es wirklich. Und von da an ging es immer so weiter."
    Und schon erlklingt der zweite Paukenschlag
    Musik: Black Sabbath - "Behind the wall of sleep"
    Abgesehen von der Gitarrenstimmung klingt das Black Sabbath-Debüt-Album nach heutigem Hörverständnis fast etwas dünn, nicht recht ausbalanciert. Manche Song-Ideen wirken zudem unausgegoren, wie der Heavy-Rock-Walzer "Behind the wall of sleep". Aber immer wird klar, dass die vier Musiker – übrigens allesamt aus ärmlichen Verhältnissen, im Gegensatz zu vielen anderen erfolgreiche Bands dieser Zeit – eine klare Vorstellung von einem neuen, eigenen Sound hatten. Toni Iommi:
    "Vom ersten Tag an mit Sabbath habe ich experimentiert. Wir haben immer versucht, es düsterer und heftiger hinzukriegen. Weil wir ja nur Gitarre, Bass und Schlagzeug hatten. Es gab keine zweite Gitarre, keine Keyboards, gar nichts, und deswegen wollten wir den Klang so groß machen wie wir konnten. Deswegen habe ich runtergestimmt und mir auch mal eine siebensaitige Gitarre machen lassen. Aber die konnte ich nicht so oft gebrauchen, deswegen kam ich wieder auf die übliche Sechsaitige zurück.
    Musik: Black Sabbath - Wicked World
    Der zweite große Hardrock-Paukenschlag des Jahres 1970 erklingt in Großbritannien im Juni, in Deutschland erst im Herbst.
    Musik: Deep Purple - "Speed King"
    Ein Stapel Langspielplatten steht in einem Geschäft, das Cover der vordersten zeigt die Gesichter der Musiker als Steinreliefs: das Album "Deep Purple in rock"
    Alles andere als ein Ladenhüter: die LP "Deep Purple in Rock" in Plattenregal, 1970 erschienen. (dpa / picture alliance / Daniel Kalker)
    Deep Purple gibt es zu diesem Zeitpunkt schon gut drei Jahre. Die Band ist bis dahin in den USA wesentlich erfolgreicher als in Europa, aber ihr Ruhm gründet weitgehend auf Coverversionen, darunter auch so bekannter Künstler wie den Stones und den Beatles. Deep Purple spielen sie wahlweise schneller oder deutlich langsamer, auf jeden Fall pompöser und, ja vielleicht etwas härter. Aber ein richtiges Profil hat die Band noch nicht, zumal Keyboarder Jon Lord sie 1969 zu einem Konzert mit Orchester überredet.
    "In Rock" bringt die musikalische Wende
    Das ist zwar irgendwie wegweisend, doch mit dem Wissen um solche Grausamkeiten wie Metallicas Live-Album mit Streicherkleister oder orchestrierte Scorpions-Auftritte fragt man sich inzwischen doch: wohin? Das Album Deep Purple "In Rock", ihr fünftes, bringt die große Wende. Beeindruckt von den ersten beiden Led Zeppelin-Alben wollte Gitarrist Ritchie Blackmore einen härteren Sound. Keyboarder Jon Lord erinnerte sich einige Jahre vor seinem Tod 2011, wie man heute noch auf dem auf dem offiziellen Deep Purple-Video-Kanal nachhören kann:
    Jon Lord: "Was Ritchie auf "In Rock spielt", hat er etwa anderthalb Jahre lang ausprobiert. Manches davon kann man schon auf dem dritten Album hören. Auch mein Orgelspiel wurde härter, und ich habe nach einem Weg gesucht, wie es neben Ritchies Gitarre bestehen konnte. Und ich habe ihn für "In Rock" rechtzeitig gefunden. Das war die Richtung, in die die Band ging. Aber sie wurde erst möglich durch die Ankunft von Ian Gillan und Roger Glover." Glover am Bass, Gillan am Mikrofon. Das Ergebnis: markerschütternd, wie zum Beispiel im Song "Into the fire".
    Bach statt Blues
    Einen Hardrock-Shouter wie den jungen Ian Gillan wird es wahrscheinlich nie wieder geben. Der Mann ist ein Jahrhundert-Talent. Einerseits sind da diese Schreie, andererseits ist da diese lyrische Trauer, wie im legendären Stück "Child in Time", ein Song, der so komplex und so anspruchsvoll ist, nicht nur für den Sänger, dass Deep Purple spätestens in den 90er-Jahren zu den Akten legen.
    Musik: Deep Purple - "Child in time"
    Nicht nur die stimmlichen Fähigkeiten unterscheiden Deep Purple 1970 von Black Sabbath und Led Zeppelin. Auch die Wahl der Waffen – Ritchie Blackmore spielte eine Fender Stratocaster, und die klingt einfach spitzer, klirrender als die Gibson-Gitarren, die Jimmy Page und Tony Iommi bevorzugten. Deep Purples Sound war aber auch deswegen anders, weil ihre Blues-Einflüsse im Vergleich zu den anderen beiden marginal sind und sie stattdessen auf europäische Hochkultur verweisen. Schlagzeuger Ian Paice ist vom Jazz beeinflusst, und alle Mitglieder kennen Bach und Beethoven zumindest vom Hörensagen, Keyboarder Jon Lord hat sie sogar studiert.
    Eine Orgel wie ein wildes Tier
    Das könnte einer der Gründe sein, warum "In Rock" in den USA wesentlich niedriger in den Charts landete als frühere Deep Purple-Alben und sich trotz einer späteren Gold-Auszeichnung viel schlechter verkaufte als die Black Sabbath und Led Zeppelin- Alben desselben Jahres. Auf der anderen Seite sorgt gerade das Instrument des klassisch gebildeten Jon Lord für einen deutlichen Härteschub. Eigentlich spielt man eine Hammond-Orgel über einen Leslie-Verstärker, der durch zwei rotierende Lautsprecher diese markante Modulation erzeugt.
    Jon Lord "Das war aber nicht hart genug für das, wo wir mit "In Rock" hingekommen waren. Also habe ich mich , keine Ahnung warum, vielleicht durch einen Geistesblitz, gefragt, was wohl passieren würde, wenn ich sie durch einen 200-Watt-Verstärker von Marshall jagen würde. Es wurde zu einem fast unkontrollierbaren Tier, das ich wie bescheuert bearbeiten musste, um es zu kontrollieren. Es wurde auch technisch viel schwieriger. Aber Junge – war ich glücklich!"
    Was Lord meint, hört man zum Beispiel in seinen kleinen Zwischenspielen im Song "Living Wreck". Das könnte tatsächlich ein wildes Tier sein, das da faucht und brüllt.
    Musik: Deep Purple - "Living Wreck"
    Geschichtsbewusste Fans harter Rock-Musik können sich also getrost auf 1970 als Schlüsseljahr für Hardrock und Heavy Metal verständigen. Ob man nun das Black Sabbath-Debüt höher gewichtet als die Neu-Erfindung von Deep Purple mit "In Rock", darüber lässt sich trefflich streiten. Lars Ulrich von Metallica, ergo Schlagzeuger der erfolgreichsten Metal-Band aller Zeiten, ist jahrgang 1964 und damit zu jung, um beide als Kind gehört zu haben. Aber er hat seine Entscheidung getroffen.
    Lars Ulrich: "Deep Purple "In Rock"! Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe und respektiere Black Sabbath, und sie hatten auch einen Einfluss auf mich, aber das war viel später. Als ich mit Musik anfing, war Deep Purple das erste Konzert, das ich gesehen habe. Und sie waren mir musikalisch für viele Jahre am nächsten."
    Dass Metallica-Schlagzeuger Lars Ulrich sich zu Deep Purple "In Rock" bekennt, ergibt in einem weiteren Sinne Sinn. Denn Metallica und andere Thrash Metal-Bands waren Mitte der 90er-Jahre stark beeinflusst von der britischen Band Iron Maiden. Die wiederum bezog sich wesentlich stärker auf Deep Purple als auf Led Zeppelin. Die im wirkmächtigen Rock-Jahr 1970 ja auch ganz anders klangen.
    Zeppelin mit Banjo an Bord
    Nach dem sehr blueslastigen Debüt 1968 und dem zweiten Album 1969, das Hardrock mitdefinierte, zog sich die Band 1970 für die Aufnahmen von Nummer II aufs Land zurück. Und so klang das dann auch. Bassist Jon Paul Jones konnte sich an Synthesizern, Mandoline und Orgel als Multiinstrumentalist betätigen, Gitarrist Jimmy Page öfter zur akustischen Gitarre oder gar zum Banjo greifen. Trotzdem oder gerade deswegen sind Songs wie das neu interpretierte Volkslied "Gallow’s Pole" auch heute noch originell.
    Musik: Led Zeppelin - "Gallow’s Pole"
    Aber auch auf dem dritten Led Zeppelin-Album gab es Hard – und Heavy-Momente. Alles andere hätte die Fans wohl auch verstört. Mit dem ersten, dem "Immigrant Song" stampfte das Quartett kräftig mit dem Fuß auf und schuf damit auf nicht einmal zweieinhalb Minuten Länge eine echte Heavy-Metal-Blaupause.
    Musik: Led Zeppelin - "The Immigrant Song"
    Das dritte Led Zeppelin-Album wirkt im Vergleich zum Black Sabbath-Debüt oder Deep Purple in Rock aus musikalischer Sicht womöglich unentschlossener. Es zeigt aber auch, dass hier eine Band zusammenspielt, die ihren Stil schon gefunden hat und gerne erweitern möchte. Und die auch wirtschaftlich so satt ist, dass sie sich alle Freiheiten erlauben kann.
    Verkaufszahlen, die für sich sprechen
    Zum Vergleich: Led Zeppelin "III" wurde in den USA laut dem Musikverband RIAA sechs Millionen mal verkauft, während vom Black Sabbath-Debüt eine und von Deep Purple in Rock gar nur eine halbe Million Exemplare abgesetzt wurden. Led Zeppelin konnten es sich schlicht und ergreifend leisten, ein missglücktes Songfragment wie "Celebration Day" dem willig kaufenden Publikum mit großer Geste darzureichen. Schließlich hatte das Album ein Glücksrad-Cover, bei dem man durch Drehen an einer innenliegenden Pappscheibe auf Aussparungen der Hülle unterschiedliche Symbole erscheinen lassen konnte. Wer braucht da noch Musik?
    Musik: Led Zeppelin - "Celebration Day"
    Zwei langhaarige Musiker stehen auf einer Bühne, der dunkelhaarige links spielt GItarre, der Mann mit blonden Locken hält ein Mikrofon in der Hand.
    Led Zeppelin: Leadsänger Robert Plant (r.) und Gitarrist Jimmy Page bei einem Auftritt im März 1970 in München. (picture-alliance / dpa)
    Gitarrenfürst Jimmy Page sieht Led Zeppelin "III" bis heute als Dokument einer Zeit, in der die ganze Musikszene auf eine gesunde Art und Weise in Bewegung gewesen sei.
    Jimmy Page: "Oh absolutely, absolutely. Not just guitar wise, but I think music in general. Everything was sort of pushing and moving. It was quiet healthy."
    In Bewegung war 1970 zum Beispiel auch die Karriere von Eric Clapton, der nach Jahren mit den Yardbirds – bei denen übrigens auch Jimmy Page schon spielte - und der Supergruppe Blind Faith sein Solo-Debüt veröffentlichte.
    In Vergessenheit geratene Debütalben
    Musik: Eric Clapton - "Blues Power"
    Auch Emerson Lake & Palmer brachten ihr erstes Album auf den Markt.
    Musik: ELP - "Knife-Edge"
    Auch die britische Band UFO, die später ebenfalls Hardrock-Blaupausen liefern sollte, sich hier aber noch im Post-Psychedelischen verstrickte.
    Musik: UFO - "Treacle People"
    Und noch ein Debüt aus dem Jahr 1970 hat der Großteil der Menschheit längst vergessen, obwohl es in diesem Fall ein wegweisendes war. Das britische Quartett Wishbone Ash veränderte die Spielregeln für Rockbands:
    Musik: Wishbone Ash - "Errors of my ways"
    Besetzt wie die Beatles, bis hin zum singenden Bassisten, dafür aber mit zwei Leadgitarristen, die gerne nacheinander, miteinander, gegeneinander und auch um geschmackvolle Intervalle wie Terz oder Quarte versetzt – auf jeden Fall immer zusammen spielten. Die Musik des Debütalbums namens "Wishbone Ash" ist nur in Ansätzen Hardrock, eigentlich nur im Finale des mehr als zehnminütigen Klassikers "Phoenix". Der enthält übrigens ironischerweise ein Zitat von Deep Purples "Child in time", das nur wenige Monate älter ist, vielleicht weil Wishbone Ash damals deren Vorgruppe waren. Wie auch immer: Gitarristen, die später Metal-Bands wie Iron Maiden gründeten, nannten als Einflüsse neben Deep Purple auch gerne Jethro Tull oder: Wishbone Ash. Der Hardrock-Urknall von 1970 hatte seine Ursachen also auch da, wo man ihn gar nicht hört. Oder vermuten würde. Aber: Er wirkt bis heute nach.
    Musik: Wishbone Ash - "Phoenix"