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1979 und der Islamismus
Als "Ungläubige" Mekka befreiten

Vor 40 Jahren, am 20. November 1979, besetzten Aufständische die Große Moschee in Mekka. Das stellte Saudi-Arabien vor militärische und theologische Probleme. Das Königreich brauchte zwei Wochen, bis das wichtigste islamische Heiligtum zurückerobert war.

Von Christian Röther | 14.11.2019
Pilger (r) küssen die Kaba, links Sicherheitskräfte, aufgenommen am 29. November 1979, während sich noch etliche Besatzer in den Kellergewölben verborgen halten. Am 20. November 1979 stürmen etwa 250 Anhänger einer islamischen Sekte die Haram-Mooschee in Mekka und nehmen mehrere hundert Gläubige als Geiseln. Drei Tage später stürmt die Nationalgarde Saudi-Arabiens das wichtigste Heiligtum der islamischen Welt. Etliche Besatzer sowie Soldaten kommen ums Leben, zahlreiche Geiselnehmer fliehen in die Katakomben der Moschee. Erst am 4. Dezember 1979 legt der letzte Aufrührer die Waffen nieder.
29. November 1979: Während sich noch etliche Besatzer in den Kellergewölben verborgen halten, besuchen Pilger (r) unter Aufsicht von Sicherheitskräften bereits die Kaaba (picture-alliance / dpa - Bildarchiv / UPI)
20. November 1979: Rund 500 bewaffnete Männer besetzen die Große Moschee in Mekka. Die Moschee beherbergt das wichtigste islamische Heiligtum: die Kaaba. Die Männer nehmen hunderte Pilger als Geiseln und postieren Scharfschützen auf den Minaretten. Ihr politisches Ziel: Sie wollen die vergleichsweise liberale saudische Regierung stürzen, erklärt der Islamwissenschaftler Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik:
"Es handelte sich um eine Gruppe von Islamisten, die alle der Auffassung waren, dass der Modernisierungskurs des saudi-arabischen Staates, die pro-westliche Orientierung des saudi-arabischen Staates, in die Irre führten. Und sie besetzen die Große Moschee, um die Familie Saud, die damals in Saudi-Arabien schon seit über 200 Jahren herrschte, zu stürzen."
Die Aufständischen kommen nicht nur aus Saudi-Arabien, sondern auch aus anderen arabischen Staaten. Sie eint auch ein religiöses Ziel. Das hängt mit dem Datum zusammen: dem Beginn eines neues islamischen Jahrhunderts.
Steinberg: "Der Zeitpunkt der Moscheebesetzung war tatsächlich nicht zufällig. Es war der 1.1. des Jahres 1400 nach muslimischer Zeitrechnung. Und ein großer Teil der Attentäter, unter ihnen der Anführer Dschuhaimān al-ʿUtaibī, glaubte, dass sie an diesem Tag die Ereignisse der Apokalypse einläuteten."
"Enorme Entschlossenheit und Opferbereitschaft"
Die Aufständischen hoffen, dass nun die Endzeit anbricht. Oder besser: Sie wollen selbst aktiv dazu beitragen, dass die Endzeit anbricht. Und sie hoffen auch, dass sich gemeinsam mit ihnen alle Muslime weltweit erheben werden, um die "wahre islamische Ordnung" wiederherzustellen. Solche Endzeitvorstellungen zählen nicht unbedingt zu den offiziellen Lehren des sunnitischen Islams. Aber die Aufständischen hatten sich erfolgreich in Endzeitstimmung versetzt.
Steinberg: "Ein Element dieser Prophezeiungen war das Wiederauftauchen einer Messias-ähnlichen Figur, des Mahdi. Und die Moscheebesetzer – zumindest ein Teil von ihnen – glaubte daran, dass der Mahdi unter ihnen sei. Und es ist möglicherweise ein Grund für diese enorme Entschlossenheit und Opferbereitschaft der Moscheebesetzer, dass sie tatsächlich glaubten, dass die Ereignisse der Apokalypse beschleunigt werden könnten, indem sie nun die Große Moschee von Mekka besetzen und das Ende der Zeiten einläuten."
Diese Gruppe vermeintlicher Besetzer wird nach Beendigung der Kämpfe um die Moschee der Presse vorgeführt.
Die Moschee-Besetzer werden nach Beendigung der Kämpfe der Presse vorgeführt (picture-alliance / dpa - Bildarchiv / UPI)
Die saudische Regierung ist mit dieser Situation zunächst ziemlich überfordert, so Guido Steinberg:
"Wenn man sich das einmal vorstellt: 500 Mann in einem Heiligtum, die dann noch hunderte Pilger, vielleicht sogar tausende Pilger zu Geiseln nahmen, dann ist das eine Herausforderung für Sicherheitskräfte. Vor allem deshalb, weil im Bezirk um die Große Moschee eigentlich das Tragen von Waffen verboten ist."
Militärische und theologische Probleme
Die Regierung hat also nicht nur ein militärisches Problem, sondern auch ein theologisches: Gewalt gegen Moscheen ist verboten, und in der heiligen Stadt Mekka darf eigentlich nicht gekämpft werden. Die Moschee gewaltsam zurückerobern – das geht also nicht einfach so. Die Regierung versucht es daher erst mal mit Durchsagen per Lautsprecher.
Die "Brüder in der Moschee" sollen sich ergeben, heißt es. Die Besetzung sei untersagt durch Gott und den Koran. Doch die Aufständischen überzeugt das nicht. Also sucht die saudische Regierung Rat bei den führenden islamischen Rechtsgelehrten des Landes. Sie sollen die theologischen Hürden beseitigen, die der militärischen Rückeroberung im Weg stehen.
"Als das Rechtsgutachten vorlag, das die Stürmung der Moschee erlaubte, zeigte sich dann, dass die saudi-arabischen Sicherheitskräfte mit einer solchen Aktion gegen einen starken, hochmotivierten und gut ausgebildeten Gegner vollkommen überfordert waren. Und erst mit Hilfe einiger französischer Spezialisten gelang es dann so nach ungefähr zwei Wochen, die Moscheebesetzer zurückzudrängen – zuerst in die Keller unterhalb der Moschee – und sie dann zu schlagen."
"Moscheebesetzer hatten politischen Erfolg"
Dabei verlieren auch hunderte Sicherheitskräfte und Geiseln ihr Leben. Und als rauskommt, dass eine französische Anti-Terror-Einheit die Rückeroberung ermöglichte, hat die saudische Regierung das nächste theologische Problem: Denn Nicht-Muslimen ist es eigentlich verboten, die Heilige Stadt Mekka zu betreten.
"Diese französische Hilfe wurde von den Saudis immer sehr, sehr diskret behandelt. Es waren wohl auch nur wenige Spezialisten, die an der Aktion teilnahmen. Es geht auch immer mal wieder das Gerücht um, dass die pro forma konvertieren mussten, bevor sie an der Aktion teilnahmen."
Zerstörte Holzgeländer im Innenhof der Moschee, aufgenommen am 29. November 1979. Am 20. November 1979 stürmen etwa 250 Anhänger einer islamischen Sekte die Haram-Mooschee in Mekka und nehmen mehrere hundert Gläubige als Geiseln. Drei Tage später stürmt die Nationalgarde Saudi-Arabiens das wichtigste Heiligtum der islamischen Welt. Etliche Besatzer sowie Soldaten kommen ums Leben, zahlreiche Geiselnehmer fliehen in die Katakomben der Moschee. Erst am 4. Dezember 1979 legt der letzte Aufrührer die Waffen nieder.
Zerstörte Holzgeländer im Innenhof der Moschee, aufgenommen am 29. November 1979 (picture-alliance / dpa - Bildarchiv / UPI)
Ob nun "ungläubig" oder pseudo-konvertiert: Mit Hilfe der Franzosen werden die Aufständischen besiegt. Und wer von ihnen die Kämpfe überlebt, wird hingerichtet. So endet dieser erste große islamistische Terrorakt der Geschichte. Aus islamistischer Perspektive war die Besetzung der Moschee trotzdem kein reiner Misserfolg:
"Die Moscheebesetzer von 1979 hatten durchaus politischen Erfolg. Sie waren in der Mehrheit radikale Wahhabiten, die zurück wollten zum ursprünglichen Purismus der Bewegung, wie er im 18. Jahrhundert noch bestanden hatte. Und die saudi-arabische Regierung hat aus ihrer Sicht aus diesen Attentaten gelernt, indem sie nach 1979 eine Art konservative Wende durchgesetzt hat."
"Die konservative Wende von 1979 zurückdrehen"
Der Wahhabismus, diese besonders konservative Auslegung des sunnitischen Islams – sie ist in Saudi-Arabien Staatsreligion, seit das Königreich 1932 gegründet wurde. Doch in den 70er-Jahren hatten die wahhabitischen Gelehrten keinen sonderlichen großen Einfluss. Das ändert sich nach der Moscheebesetzung. Die Religionspolitik – das ganze Land wird konservativer, reaktionär und antiliberal. Das prägt das Königreich bis heute. Doch seit einigen Jahren gibt es eine kritische Debatte darüber, sagt der Islamwissenschaftler Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik:
"Die prominenteste Person ist der aktuelle Kronprinz Muhammad bin Salman. Der hat nämlich in einem Interview im Jahr 2018 sehr deutlich gesagt, dass diese konservative Wende von 1979 zurückgedreht werden muss. Er hat sehr deutlich gesagt, dass er mit dem Königreich in die Zeit der 70er-Jahre zurück will. Und das bedeutet religiös und sozial eine Liberalisierung des Landes."
Ob man dem Kronprinzen seinen Reformwillen abnimmt oder nicht: Die Besetzung der Großen Moschee von 1979, sie beschäftigt Saudi-Arabien bis heute.