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1989 - Tod von Wolfgang Neuss
Enfant terrible des deutschen Bürgertums

Er nannte Richard von Weizsäcker nur "Richie" und sprach sich für die Legalisierung von Cannabis aus. Bis heute gilt Wolfgang Neuss als scharfzüngigster Satiriker der deutschen Nachkriegszeit und Schandschnauze der Nation. Als der "Mann mit der Pauke" am 5. Mai 1989 starb, verlor Deutschland einen seiner bedeutendsten Kabarettisten.

Von Regina Kusch | 05.05.2014
    Musik:
    "Ach das könnte schön sein, als friedlicher Bürger
    sein ehrbares Leben so ganz auszukosten.
    Ach das könnte schön sein, ein friedlicher Bürger,
    bei dem die Pistolen und Patronen verrosten. "
    Wolfgang Neuss hat nie das Leben eines ehrbaren Bürgers geführt, nach dem er sich als Räuber in der Leinwandkomödie "Das Wirtshaus im Spessart" so sehnte. Im Gegenteil, er war zeitlebens das Enfant terrible des deutschen Bürgertums.
    "Ich habe schon als Kind mit Vorliebe ganze Sätze in den Mund genommen und nur einige Worte ab und zu mal verschluckt. Später hab ich dann die eine oder andere Lippe mal riskiert, dadurch wurde aus dem Mündchen langsam eine Schnauze."
    Viel lieber hätte der 1923 in Breslau geborene Neuss als Clown gearbeitet und nicht im ungeliebten, vom Vater verordneten Schlachterberuf. So meldete er sich mit 17 an die Ostfront. Um dem Krieg möglichst schnell wieder zu entfliehen, habe er sich den Zeigefinger der linken Hand abgeschossen, erzählte er später. Nachdem er schon im Lazarett sein schauspielerisches Talent bewiesen hatte, machte er nach dem Krieg in West-Berlin schnell Karriere als Kabarettist. Zusammen mit seinem Freund und Kollegen Wolfgang Müller landete er einen Gassenhauer nach dem anderen.
    Musik:
    "Jetzt kommt das Wirtschaftswunder,
    jetzt kommt das Wirtschaftswunder,
    der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder.
    Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik.
    Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg."
    Befreundet mit Grass und Enzensberger
    Neuss spielte Theater unter Erwin Piscator, drehte über 50 Filme, unter anderem "Die Drei von der Tankstelle", "Auf der Reeperbahn nachts um halb Eins", "Der Hauptmann von Köpenick" oder "Rosen für den Staatsanwalt". Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger zählten zu seinen Freunden, Dieter Hildebrand oder Gerhard Poldt legten ihm ihre Kabarett-Programme vor. "Das Ungeheuer von Loch Neuss", wie er sich selber nannte, begeisterte 1951 in der Waldbühne 20.000 Berliner und wurde seitdem "Mann mit der Pauke" genannt, der nicht nur Ulbrichtwitze riss, sondern genauso über die westdeutsche Wiedervereinigungsrethorik spottete.
    "Entweder wir sind intelligent und ehrlich, dann sind wir nicht wiedervereinigungsgläubig. Oder wir sind intelligent und wiedervereinigungsgläubig, dann sind wir nicht ehrlich. Oder wir sind ehrlich und wiedervereinigungsgläubig, dann sind wir nicht - aber wer will schon dämlich sein. "
    Der Tod seines Freundes Wolfgang Müller stürzte Neuss in eine Krise. Trotzdem beendete er mit Wolfgang Gruner das mit Müller begonnene Filmprojekt "Wir Kellerkinder", die Geschichte des HJ-Trommlers Macke Prinz, der in seinem Keller zuerst einen Kommunisten vor den Nazis und später seinen Vater vor der Entnazifizierung versteckt. Das brachte ihm den Boykott der Deutschen Filmverleiher ein.
    Filmausschnitt "Wir Kellerkinder":
    "Das Wort, das mein Oller jedenfalls am meisten schrie, hieß ‚wofür? Wofür? Wofür?' ... Und dann entweder alle oder keiner, sagte er und dann guckte er mich an und sagte, schließlich hätten wir doch alle mitgemacht. ... Jetzt wusste ich genau, warum ich meinen Vater immer gut leiden konnte. Ich kannte ihn nicht."
    Um für seinen nächsten Film "Genosse Münchhausen" zu werben, verriet Neuss in der Bildzeitung den Mörder des populären Durbridge-Fernsehkrimis und riet dem Publikum lieber ins Kino zu gehen, anstatt fernzusehen, wofür er sogar Morddrohungen erhielt. In den 70er Jahren machte er durch seinen lautstarken Vorsatz, wieder unbekannt zu werden, und durch Verurteilungen wegen Drogenkonsums auf sich aufmerksam. Seinen letzten großen Fernsehauftritt hatte er 1983, als er Berlins Bürgermeister Richard von Weizsäcker, den er mit Richie ansprach, von der Cannabis-Legalisierung zu überzeugen versuchte.
    "Im Übrigen sind wir uns einig, auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen."
    Überraschenderweise kamen Neuss und von Weizsäcker gut miteinander aus.
    "Der Kerl war von einer Souveränität in seinem Charakter und auch in seinem Verstand, dass es mir ganz und gar unvergessen geblieben ist. Er war doch in seinen Empfindungen, und in seinen Gedanken immer er selbst."
    Die letzten Lebensjahren
    In den letzten Lebensjahren verließ Wolfgang Neuss seine möbellose Charlottenburger Wohnung, die ihm eine Freundin mietfrei überlassen hatte, nur noch selten. Er bezog Sozialhilfe und verzichtete provokativ auf Zahnersatz, den er sich erst anschaffen wollte, wenn es wieder etwas zu lachen gäbe. Vielleicht wäre das geschehen, wenn er den Mauerfall noch erlebt hätte. Doch er starb ein halbes Jahr vorher, am 5. Mai 1989, an einem Krebsleiden und wurde, wie ein ehrbarer Bürger, auf dem Zehlendorfer Prominentenfriedhof an der Seite von Wolfgang Müller beigesetzt.