Dienstag, 23. April 2024

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20 Jahre Abraham Geiger Kolleg
Durch Wissen zum Glauben

Das am 12. November 2000 eröffnete Abraham Geiger Kolleg in Berlin war die erste Ausbildungsstätte für Rabbiner und Kantoren des liberalen Judentums in Kontinentaleuropa nach der Shoa. Heute vermitteln Dozenten aus aller Welt auf Hebräisch und Aramäisch unter anderem jüdische Geschichte und Religionsphilosophie.

Von Gunnar Lammert-Türk | 12.11.2020
    Die Studentin Anita Kantor steht im Abraham Geiger Kolleg vor einem Schrank mit Thorarollen.
    Das Abraham Geiger Kolleg bildet seit 20 Jahren liberale Rabbinerinnen und Rabbiner für die größer gewordene deutsche Gemeinschaft aus. (picture alliance / Wolfgang Kumm / dpa)
    "Da haben wir hier die Lotte Schwarz-Bibliothek, einen Bibliotheksraum, wie Sie sehen können mit vielen Periodika, mit Bibelexemplaren verschiedenster Herkunft, aber auch ein Seminarraum. Und das Interessante an diesem Raum ist, dass es der einzige Raum war, als das Kolleg sozusagen an diesen Standort kam. Damals war hier sowohl Lehre als auch Verwaltung als auch Buchhaltung. Alles in einem Raum."
    Bescheidene Anfänge
    Tobias Barniske führt durch die Räume des Abraham Geiger Kollegs in einem Haus in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg. Die erste Ausbildungsstätte für Rabbiner und Kantoren des liberalen Judentums in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg fing bescheiden an.
    Am 12. November 2000 eröffnet, nutzte sie hier zunächst nur einen Raum in Wohnzimmergröße. Zwei bis drei Studenten gab es damals. Derzeit sind es 19 und das Kolleg hat sich über mehrere Etagen ausgebreitet. Da und dort stehen Kisten auf dem Flur. Denn im nächsten Jahr zieht das Kolleg in sein neues Domizil, einen kleinen Landschlosskomplex im Parkgelände von Sanssouci in Potsdam.
    Walter Homolka steht während eines Interviews zu 20 Jahre Abraham Geiger Kolleg vor einem Bücherregal.
    Walter Homolka, Rabbiner, Gründer und Direktor des Abraham Geiger Kollegs (picture alliance / Wolfgang Kumm / dpa)
    Rektor Walter Homolka erzählt, was der Anlass für seine Gründung war:
    "Der Fall der Mauer öffnete die Tore weit für russische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Das bedeutete eine Herausforderung für die existierenden jüdischen Gemeinden, weil auf einmal aus 25.000 fast 250.000 Menschen wurden. Und wir haben uns dann seit 1997 überlegt, woher sollen die Rabbiner kommen, die hier in diesen Gemeinden arbeiten, es gab ja ganz viele Neugründungen auch. Mein Mentor, Rabbiner Walter Jacob, und ich haben dann beschlossen, dass es eigentlich nur Sinn macht, eine Ausbildungsstätte in Deutschland zu errichten."
    Für dieses Vorhaben kooperierte das Abraham Geiger Kolleg zunächst mit der Potsdamer Universität und seinem Studiengang Jüdische Studien. Als es 2013 das Institut für jüdische Theologie gründete, wurde die Ausbildung von liberalen Rabbinern und Kantoren fester Bestandteil der Potsdamer Universität. Dozenten aus aller Welt vermitteln jüdische Geschichte und Religionsphilosophie, Liturgie und Musik, die Deutung der Bibel und des Talmud, Hebräisch und Aramäisch. Auch die Studenten kommen aus vielen Ländern, denn nicht nur für die jüdischen Gemeinden in Deutschland werden hier Rabbiner und Kantoren ausgebildet. Deshalb hat das Kolleg entsprechende Kooperationen aufgebaut.
    Rabbiner Walter Homolka, Rektor des Abraham Geiger Kollegs, spricht am 01.12.2016 bei der Rabbinerordinationsfeier in der Synagoge der Liberalen Juüdischen Gemeinde in Hannover.
    20 Jahre liberale Rabbinerausbildung in Deutschland 
    Seit 1999 bildet das Abraham Geiger Kolleg Rabbiner und Kantoren aus, Frauen und Männer aus unterschiedlichen Ländern. Es hat sich zu einer der führenden jüdischen Ausbildungsstätten weltweit entwickelt. Vor 20 Jahren hatte das kaum jemand vermutet.

    "Einmal", so Walter Homolka, "natürlich mit Moskau. Also es ist möglich, unser Rabbinerstudium zu absolvieren, dass man also bis zum Bachelor in Moskau studiert, dann das Jahr in Israel macht mit unsern Studierenden aus Potsdam, dann nur für den letzten Teil, den Magisterteil, Masterteil, nach Potsdam kommt. Das hat dann auch nochmal eine gute Wirkung hin auf die Integration dieser Absolventen, die ja dann wieder in Russland arbeiten sollen."
    International vernetzt
    Auch mit Budapest und São Paulo in Brasilien sind Kooperationen in Vorbereitung. Diese Internationalität hat die Rabbinerin Yasmin Andriani während ihres Studiums am Abraham Geiger Kolleg begeistert:
    "Wir hatten immer freitagmorgens noch Unterricht, Tora-Unterricht drei Stunden lang von neun bis zwölf. Die kleinen Köfferchen standen schon in der Ecke von den Leuten. Und dann flogen sie aus nach Paris, nach Stockholm, nach Italien, nach Österreich, in die verschiedenen deutschen Gemeinden natürlich, also überall ging's hin, in die Ukraine und nach Moskau sogar und nach Polen und Tschechien. Also, man verstreute sich dann übers Wochenende, also für den Schabbat, und war dann da im Einsatz und kam dann am Sonntag zurück und am Montag fing wieder die Studentenwoche an."
    Während eines Festaktes an der Universität Potsdam zur Eröffnung des bundesweit ersten Universitätsstudiengang für Jüdische Theologie sitzen Besucher der Veranstaltung im Audimax der Universität.
    200 Jahre Judaistik
    1812 durften sich jüdische Studierende erstmals im deutschsprachigen Raum an eine Universität einschreiben. Sieben Jahre später gründeten jüdische Intellektuelle einen Verein, der sich wissenschaftlich mit dem Alltagsleben jüdischer Menschen auseinandersetzte.
    Geigers Vision eines liberalen Reformjudentums
    Der Namensgeber des Kollegs, das Yasmin Andriani und andere besucht haben - 41 sind es inzwischen - gehörte 1870 zu den Begründern der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, die 1942 von den Nationalsozialisten geschlossen wurde. Zuvor hatte er sich vergeblich für die Einrichtung einer jüdischen theologischen Fakultät in Breslau eingesetzt.
    Die gibt es nun in Potsdam und mit ihr - zum ersten Mal in Deutschland - jüdische Theologie als Fach an einer Universität. So, wie es sich Abraham Geiger gewünscht hatte und ganz im Geist dieses Vordenkers eines liberalen Reformjudentums.