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20 Jahre nach Genozid in Ruanda
"Über dem Land lag ein Leichengeruch"

Vor 20 Jahren wurden in Ruanda innerhalb von 100 Tagen mindestens 800.000 Menschen bestialisch ermordet. "Dieser Völkermord ist mit einer Präzision sondergleichen geplant worden", sagte Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme", im DLF.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 04.04.2014
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme"
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme" (dpa / picture-alliance / Britta Pedersen)
    Christoph Heinemann: Wir bewegen uns gedanklich jetzt in ein Land, in dem bestimmte Strafgefangene orangefarbene Häftlingskleidung tragen, eine Signalfarbe, die anzeigt, hier büßt ein Völkermörder, ein Genuzidär. Wofür, das beschreibt der frühere Afrika-Korrespondent Bartholomäus Grill in einem Artikel in dieser Woche im "Spiegel": Ärzte bringen ihre Patienten im Krankenbett um, Lehrer massakrieren ihre Schüler, Nonnen überschütten Gläubige mit Benzin und zünden sie an. Und der nationale Rundfunk, Radio Milles Collines, ermuntert sie: "Ruanda ist Hutu-Land, wir sind die Mehrheit, sie sind eine Minderheit aus Verrätern und Eindringlingen. Wir werden diese Tutsi-Rebellen auslöschen."
    Heinemann: Vor 20 Jahren wurden in 100 Tagen 800.000 Menschen ermordet. Die Hutus kühlten ihr Mütchen an der Minderheit der Tutsis. Es begann mit dem Absturz eines Flugzeuges, in dem sich Präsident Juvénal Habyarimana befand. Und Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen "Cap Anamur" und "Grünhelme", erklärt, was dieser Absturz auslöste.
    Rupert Neudeck: Das war der Beginn des Völkermordes, genau um 20:23 Uhr an dem Abend des 6. April. Dieses Flugzeug kam zurück von Arusha, von einer sehr erfolgreichen Konferenz, die dazu führen sollte, dass Ruanda in Einheit zwischen Hutus und Tutsis zusammen wieder regiert worden wird. Es war ein Premierminister, eine Premierministerin benannt, und dann kam es zu diesem Abschuss. Wir wissen heute, dass es nicht die Rebellen waren. Jahrelang hat man gesagt, die Rebellen unter Paul Kagame haben das gemacht, aber wir wissen heute, dass es im französischen Sektor Hutu-Extremisten waren, die besorgt waren, dass Habyarimana, der Präsident, zu moderat mit den Tutsis umgeht, und deshalb weiß man heute, dass das der entscheidende Auslöser für diesen Völkermord war. Zwei Stunden später gingen die Todesschwadronen durch Kigali, dann durch das ganze Land, und wahrscheinlich sind es bis an eine Million gewesen. Meistens Tutsi, aber auch – das muss man immer noch klar sagen – versöhnungsbereite Hutus, die sind auch ermordet worden.
    Heinemann: Wie hatten beide Volksgruppen bis dahin zusammen gelebt?
    Neudeck: Wir wissen heute genau, dass die Hutus die Bauern sind und dass die Tutsis die Viehzüchter und die Adeligen waren. Das waren, marxistisch würde man sagen, zwei Klassen innerhalb der Gesellschaft. Das hat sich dann so ausdifferenziert, dass es einen Kampf der Ethnien gab, der zum Bürgerkrieg ausgeartet ist und dann zum Völkermord.
    Heinemann: Wie wurden Mitbürger quasi über Nacht zu Mördern?
    Neudeck: Das ist ja das Geheimnis des Landes, das immer noch nicht aufgeklärt ist. Ich habe eine gute Bekannte in Ruanda, die ihre Mutter hat ermordet sehen, und die ist zu dem Mörder ihrer Mutter gegangen, um herauszubekommen, wie er in dem Dorf, wo sich alle kannten, wie er die Machete geschwungen hat und aus welchem Grunde und welchem Motiv, um ihre Mutter zu ermorden. Das ist das Urbild des Völkermords, das noch keiner richtig aufklären kann. Dazu kommt, dass es das katholischste Land in Afrika war. Es gab keines, in dem der Sieg, der Erfolg der katholischen Mission – der katholischen mehr noch als der protestantischen – so erfolgreich, so grandios flächendeckend gewesen ist, und deshalb konnte man sich natürlich überhaupt nicht vorstellen, dass in so einem missionierten, zivilisierten Land, das auch von europäischer Entwicklungshilfe in den letzten fünf Jahrzehnten ganz hervorragend gelebt hatte, niemand hat sich vorstellen können, dass es zu einem solchen Ausbruch von grauenhafter Brutalität und Gewalt gekommen ist. Man muss immer wissen: Die Mehrzahl dieser Ermordeten sind mit der Machete, also mit dem Buschmesser zerhackt worden. Für die Pistole und die Kugel musste man schon zahlen, um sich damit ermorden zu lassen.
    Heinemann: Die Katholische Kirche hat aber ihre Rolle als moralische Instanz in diesem Konflikt nicht gespielt?
    Neudeck: Nein. Sie hat eine bis heute nicht aufgearbeitete Rolle in dem Konflikt. Sie weigert sich bis heute, absichtlich, unabsichtlich, die Rolle, die sie in diesem Konflikt eingenommen hat, wahrzunehmen.
    Heinemann: Die Katholische Kirche in Ruanda, oder die Weltkirche?
    Neudeck: Beide, die Katholische Kirche in Ruanda und damit auch die Weltkirche, denn es gab bisher keinen Versuch, die ruandische Kirche, die lokale Kirche oder die nationale Kirche dazu zu bewegen, etwas zu machen, was zum Beispiel die polnischen und die deutschen Bischöfe gemacht haben nach dem Holocaust, zu entschuldigen und zu vergeben, um Vergebung zu bitten. Das alles ist bis heute nicht geschehen. Wir wissen, dass Kirchen in Ruanda, mindestens fünf, voll waren mit Tutsis, die dorthin geflohen waren, weil das das Sanktuarium ist. Das ist ein Weltgesetz, nach dem Heiligtümer nicht von Militärs und von Milizen tangiert werden. Dort fand der Völkermord geradezu reißenden Absatz, weil die Menschen konnten viel schneller ermordet werden in den Kirchen, in denen sie sich zu Tausenden gesammelt haben.
    Bischof Kamphaus von Limburg, der ehemalige Bischof von Limburg, hat mir erzählt: Er war der erste Bischof der Weltkirche, die dort nach Ruanda gekommen ist. Er hat mir erzählt, dass er in einem Konklave von ruandischen Bischöfen gesessen hat, und die haben alle geschwiegen. Sie haben nichts gesagt. Schweigen ist auch ein Eingeständnis von Schuld.
    Heinemann: Ruanda erlebte in 100 Tagen quasi im Zeitraffer, wofür andere Vernichtungsregime zwölf Jahre oder länger benötigten. War dieser Völkermord geplant?
    Neudeck: Ja. Dieser Völkermord ist mit einer Präzision sonder gleichen geplant worden. Wir wissen das auch von dem großartigen Kommandeur der UNO-Friedenstruppen, die es in Ruanda gegeben hat, vor dem Völkermord. Der hat im Januar, am 23. Januar 1994, also drei, vier Monate vor dem Beginn des Ausbruchs dieses Massakers, den Generalsekretär der Vereinten Nationen gebeten, das Mandat umzuschreiben, weil er hatte Informationen über einen Agenten, der sich bei ihm gemeldet hatte, dass dieser Völkermord jetzt unmittelbar bevorstehe, und er wusste, wo die Stellen waren, wo die Waffen und die Macheten gesammelt wurden, der wusste, wo sich die Milizen, die Völkermörder getroffen haben. All das hat nicht dazu geführt, dass die UNO ihm dieses andere Mandat gegeben hat. Der für ihn zuständige stellvertretende Generalsekretär hieß Kofi Annan. Der hat ihm gesagt, nein, du musst weiter dort Dein Amt wahrnehmen nach dem Mandat, musst beobachten beide Parteien, um zu sehen, was daraus wird.
    Zwei Wochen nach dem Ausbruch des Völkermordes am 6. April nahm die französische Luftwaffe den Flughafen von Kigali ein und hat dafür gesorgt, dass die über 1100 weißen, wertvollen Menschen mit dem richtigen, dem sauberen Pass evakuiert wurden, und danach hat man die Ruander dem Morden, dem gegenseitigen Morden überlassen. Über dem Land lag ein Leichengeruch. In allen kleinen Bächen und Flüssen lagen Leichen, die dort verwesten.
    Heinemann: Wie wurden nach dem Totentanz die Mörder wieder zu Mitbürgern?
    Neudeck: Das ist ein ganz langer Prozess, der natürlich noch längst nicht zu Ende ist. Aber ich kann den Ruandern nicht verhehlen, dass ich bewundere, wie sie es bisher schon geschafft haben, wieder zusammen zur Arbeit zu gehen. Ich habe erlebt in einer Berufsschule, die wir in Ruanda aufgebaut haben, wie Hutus und Tutsis, Studenten, Kinder, die den Völkermord kaum noch erlebt haben, außer über ihre Eltern, wie sie wieder zusammen in die Schulen gehen, wie sie zusammen die Arbeit wieder aufnehmen, wie sie zusammen versuchen, einen Stolz auf das Ruanda zu entwickeln. Das ist etwas, was man positiv zu Buche halten muss. Es ist natürlich klar, dass man bei einem solchen Totalzusammenbruch der Gesellschaft nicht gleich die reine Demokratie erwarten kann, die wir gerne wünschen möchten für die Ruander. Es ist ein autoritäres Regime mit Polizeistaats-Instrumenten. Dennoch kann ich nicht umhin zu sagen, dass für die Jahre nach dem Völkermord Ruanda das Beste aus seiner Situation gemacht hat, was man sich vorstellen kann. Es gibt jetzt eine traditionelle Versöhnungskonferenz, die in allen Dörfern stattfindet, nach dem Vorbild von Südafrika, wozu alle Bewohner des Dorfes kommen müssen und wo dann versucht wird, Wahrheit und Versöhnung, Wahrheit und Gerechtigkeit wieder herauszufinden und damit auch die Justiz zu entlasten, die natürlich in einem Land, in dem es Hunderttausende von Tätern gibt und nicht einzelne nur, die Justiz entlasten kann. Das ist etwas, was im Moment im Gange ist in Ruanda. Aber der Prozess der Heilung der furchtbaren Wunden, die die beiden Klassen, die beiden Teile des Landes sich zugefügt haben, wird noch mehrere Generationen dauern.
    Heinemann: Herr Neudeck, man wirft Ihnen gelegentlich vor, dass Sie Präsident Paul Kagame in einem zu guten Licht dastehen lassen würden. Unter ihm haben Oppositionelle und Andersdenkende nichts zu lachen, das ist klar. Hat er das Land befriedet, kann man das mit autoritären Mitteln befrieden, oder hat er das Land einfach nur im Griff?
    Neudeck: Er hat es erst mal im Griff, was mir eine Ministerin, die kritisch ihm gegenüber steht, mal gesagt hat. Er hat es geschafft, dass Ruanda kein Somalia wurde. Die Gefahr hätte es gegeben und das habe ich sehr ernst genommen.
    Zweitens: Die Probe steht noch bevor. Paul Kagame hat gesagt, dass er 1918 oder _19 bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten wird.
    Heinemann: 2018 oder _19?
    Neudeck: Ja. Die Probe steht bevor. Das ist eine Probe, die meistens afrikanische Staatschefs nicht bestehen, wie wir wissen. Ich setze eigentlich darauf und habe ihn auch so kennen gelernt, dass man zu seinem Wort stehen kann. Das wäre für Ruanda ein gutes Zeichen. Ich bin davon sehr eingenommen gewesen, dass er dieses Land den Völkermord nicht aus Kraft der internationalen Staatengemeinschaft, nicht aus Kraft der Europäer, sondern aus eigener Kraft geschafft hat. Er hat es geschafft, mit seiner disziplinierten Armee damals diesen Völkermord zumindest zu beenden.
    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen "Cap Anamur" und "Grünhelme". Wir haben das Gespräch gestern Abend aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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