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200. Geburtstag von Jacob Burckhardt
Kulturhistoriker, konservativer Skeptiker und Individualist

Der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt war kein Weltveränderer. Seine Fans verehrten ihn zu Lebzeiten als pessimistischen Warner und Fortschrittgegner, aber auch als gekonnten Erzähler. Anlässlich seines 200. Geburtstages widmet die "Zeitschrift für Ideengeschichte" Burckhardt ihre aktuelle Ausgabe.

Von Richard Schroetter | 21.05.2018
    Zeitgenössisches Porträt des schweizer Kunst- und Kulturhistorikers Jacob Burckhardt (1818-1897)
    Die Rezeptionsgeschichte des Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt ist voller Auf und Abs (picture-alliance / dpa / Bifab)
    Nicht Karl Marx, dem berühmten Verfasser des Kommunistischen Manifests, dessen 200. Geburtstag gerade offiziell rechtschaffen gefeiert wurde, nein, dem Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, dem Autor der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", auch er Jubilar und vor 200 Jahren im Mai geboren, widmet die "Zeitschrift für Ideengeschichte" ihre jüngste Nummer, die - das können wir uns hier nicht verkneifen, kurz anzumerken - in ihrer schmückenden Unterzeile als Standorte außer "Marbach Weimar Wolfenbüttel Grunewald - neuerdings, man staune auch - Preußen" angibt. Was hätte wohl der "Prophet aus Basel", der auch ein frecher Spötter sein konnte, und seine Studienzeit im angeblich so "öden" preußischen Berlin zubrachte, zu dieser redaktionellen Feinjustierung gesagt? Doch das nur am Rande.
    Jacob Burckhardt war eine eigenwillige Persönlichkeit, nur schwer einzuordnen und vielleicht gerade deswegen so anregend. Er war unglaublich bewandert in der europäischen Kulturgeschichte, doch lehnte er jegliches Spezialistentum als einseitig ab und nahm einen gewissen Dilettantismus gerne in Kauf.
    Zitat: "Welcher sich ein Vergnügen aus dem macht, woraus sich andere löblicherweise eine Qual machen."
    Der junge Burckhardt wäre wohl gerne Dichter geworden, doch beließ er es bei poetischen Versuchen und studierte - auf Wunsch des Vaters - erst Theologie, dann wechselte er zur Historie und zur Philosophie über und endete schließlich als respektabler Professor der Geschichte an der Universität Basel.
    Generationen von aufgeschreckten Bürgern und verunsicherten Intellektuellen verehrten den pessimistischen Warner, der an der Bildung Alteuropas hing und die Massen fürchtete, als Leitbild deutschsprachiger Historiografie verehrt, erklären die Editoren, Robert E. Norton und Stefan Rebenich, dieser Ausgabe der "Zeitschrift für Ideengeschichte". Doch
    Zitat: "Seit 1968 war es damit vorbei. Vielen Lesern waren nun seine zivilisationskritischen, bildungsaristokratischen, eurozentrischen und fortschrittsskeptischen Äußerungen suspekt. Die Wissenschaft hat Burckhardt inzwischen ganz zu entzaubern versucht. Seinen historischen Realismus hat man als Satire gelesen. Den einen ist er Vorläufer von Militarismus und Rassismus, den anderen Antisemit und Antihumanist."
    Ein Auf und Ab in der Rezeptionsgeschichte
    Rezeptionsgeschichtlich ging es mit Burckhardt in den letzten 100 Jahren auf und ab, wie Stefan Rebenich in seinem Beitrag ausholend beschreibt. Schon am Tag seines Begräbnisses distanzierte sich die Fachwelt von ihm und erklärte ihn als wissenschaftlich überholt.
    Nach 1918 - das intellektuelle Klima hatte sich inzwischen massiv geändert - wurden seine Werke, besonders "Die weltgeschichtlichen Betrachtungen", begierig aufgenommen. Auch im Dritten Reich vereinnahmte man ihn. Leichtfertig hingeworfene
    Zitat: "Judenfeindliche Aussagen und seine unbefangene Verwendung des Begriffs der Rasse machten ihn unter Nationalsozialisten durchaus populär. … Allein, im Dritten Reich galt Burckhardt manchen als Gegner des neuen Staates und seiner Ideologie. Seine Art der Kulturgeschichtsschreibung und ihre inhärente ästhetische Dekadenz sollten überwunden werden. … Burckhardt galt als Inbegriff einer apolitischen Geschichtsschreibung."
    Angepasster Unangepasster
    Woran sich auch der "Kronjurist des Dritten Reiches", der Staatsrechtler Carl Schmitt offenkundig stieß. Auch das gehört, wie Rebenich detailliert darlegt, zur Rezeptionsgeschichte dieses angepassten Unangepassten. Anders als Burckhardt erwarb sich Schmitt nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner "Theorie des Partisanen" in gewissen linken Kreisen unter den Achtundsechzigern Ansehen und Respekt. Apropos 1968 - zur Erinnerung. Das war auch ein Burckhardt-Jubiläums-Jahr.
    Zitat: "In Paris brennen rund um die Sorbonne die Barrikaden. Die Bereitschaftspolizei greift hart durch. Hunderte von Verletzten sind zu beklagen. Studenten und Arbeiten finden im Kampf gegen die bestehende Ordnung zusammen.
    In Basel hingegen feiern die städtischen Honoratioren den 150. Geburtstag Jacob Burckhardts. Die Gedenkrede hält sein bedeutender Biograf Werner Kaegi. Er beruhigt die bürgerliche Festgesellschaft … mit einer Sentenz aus Burckhardts Vorlesung 'klaren Kopf zu bewahren und den Mut zu den jeweils nötigen Entscheidungen zu finden'."
    Kein Weltveränderer
    Tatsächlich war der Individualist und konservative Skeptiker Burckhardt kein Weltveränderer, kein Mann probater Rezepte zur Rettung von Gegenwart und Gesellschaft. Aber er lässt sich auch nicht so einfach verorten, wie immer wieder geschehen.
    Ein gutes Beispiel ist Burckhardts Verhältnis zum Islam. In "einschlägigen Webseiten" in Deutschland und Amerika, so Martin A. Ruehl in seinem Heft-Artikel, werde Burckhardt immer wieder "Gegner, ja als Feind des Islams" angeführt. "Die Einschätzungen übersehen wichtige", so Ruehl,
    Zitat: "zum Teil unveröffentlichte - Äußerungen und vereinfachen ein kompliziertes, facettenreiches Bild. (…). Differenzierte Kommentare zum Islam finden sich nicht nur in den Vorlesungen über die Geschichte des Mittelalters, sondern auch in den sogenannten 'Weltgeschichtlichen Betrachtungen', der 'Kultur der Renaissance' und in dem Vortrag über die Reisen der Araber. … Die gängigen rassistischen Typologien des Orientalismus (barbarisch, irrational, fanatisch usw.) treten in diesen Schriften kaum in Erscheinung. Im Gegenteil, Burckhardt beschreibt die Araber als ein 'geistreiches und entbehrungsfähiges Volk mit unermesslichem Selbstgefühl der Einzelnen und der Stämme' … und preist ihre Gastfreundschaft, wohltätigen Einrichtungen, allgemeine Menschlichkeit und Würde."
    Burckhardt kann erzählen
    Was Burckhardt überdies auszeichnet und so besonders macht: Er kann erzählen, eine Tugend, die seit Herodot für Historiker von Format unabdingbar ist.
    Siegfried Kracauer erlaubt sich in diesem Zusammenhang sogar den etwas suspekten Begriff der Story. Was Kracauer damit gemeint haben mag, verifiziert Simon Strauss in seinem einfühlsamen Essay "Lob des Dilettanten. Eine Bildbeschreibung". Es gibt keine objektive Geschichte, es gibt nur große Erzählungen - Dramatisierungen. Simon Strauss:
    "Burckhardt betrachtet die Geschichte eben nicht als einen alten, knarrenden Archivschrank, in dem man hin und wieder melancholisch den Staub von den Folianten bläst, sondern als ein wirkungsvolles Kraftreservoir, aus dem man jederzeit schöpfen kann. Er lässt die Vergangenheit nicht vergehen, sondern holt sie nah an sich heran, will sie spüren und erfahren."
    Hören wir Burckhardt selbst dazu:
    "Die Geschichte ist und bleibt mir Poesie im größten Maßstabe; wohl verstanden, ich betrachte sie nicht etwa romantisch-fantastisch, was zu nichts taugen würde, sondern als einen wundersamen Prozess von Verpuppungen und neuen, ewig neuen Enthüllungen des Geistes."
    Seitenhieb auf die System-Philosophie
    Unüberhörbar der ironische Seitenhieb an die System-Philosophie gerichtet, an die Herrschaften Hegel und Co, die ja immer alles besser wissen und schärfer durchdringen:
    "Ihr … dagegen geht weiter, Euer System dringt in die Tiefen der Weltgeheimnisse ein, und die Geschichte ist Euch eine Erkenntnisquelle, eine Wissenschaft, weil ihr das primus agens seht, oder zu sehen glaubt, wo für mich Geheimnis und Poesie ist."
    "Geheimnis und Poesie" - ein unendliches Thema. Erwähnen wollen wir in diesem Zusammenhang neben dem Heft-Schwerpunkt Jacob Burckhardt noch einen höchst possierlichen Essay von Ulrich Raulff über die Amselforschung. Er scheint auf den ersten Blick ganz und gar nichts mit dem Baseler Historiker zu tun haben. Doch indirekt führt er Burckhardts Überlegungen fort. Denn auch der Amselgesang hat eine Historie - zumindest als Forschungsgegenstand. Verhält es sich nicht mit der Weltgeschichte, die uns so faktenreich entgegentritt, so fragt sich Ulrich Raulf, wie mit der Gesang bzw. die Sprache, von Amsel und Nachtigall:
    "Wir können vielleicht ein musikalisches Thema erkennen, ein Motiv in der Strophe einer Amsel, aber wir können kein verbales Äquivalent dafür finden. Es ist, als sprächen die Vögel in einer Sprache, die uns 'etwas sagt', ohne dass wir sie 'übersetzten' könnten. So gesehen wäre die Sprache der Vögel eine absolute Fremdsprache: nahe dem Idiom der Poesie und unserer Alltagssprache um das entscheidende Etwas ferner."
    "Zeitschrift für Ideengeschichte Heft XII/1", Verlag C.H. Beck, München 2018.