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2011 – Jahr der Energiewende

Im weltweiten Vergleich wurden die Deutschen zu jener Nation, die die drastischsten Konsequenzen aus der Atomkatastrophe von Fukushima zog. Nachdem die schwarz-gelbe Bundesregierung zunächst den Atomausstieg der Vorgänger revidiert hatte, steuerte sie um und stellte die Weichen in Richtung eines grundlegenden Umstiegs auf erneuerbare Energien.

Von Philipp Schnee | 29.12.2011
    Bundeskanzlerin Merkel am Tag nach dem Erdbeben in Japan:

    "Ich finde an einem solchen Tag darf man nicht einfach sagen, unsere Kernkraftwerke sind sicher. Sie sind sicher. Und trotzdem muss man nachfragen, was ist zu lernen aus so einem Ereignis."

    Der deutsche Lernprozess dauert bis in den Juni. Dann steht der schrittweise Ausstieg aus der Atomkraft: Bundesumweltminister Röttgen:

    "Bekannterweise werden ja acht Kernkraftwerke, die jetzt auch nicht am Netz sind, auch nicht mehr ans Netz gehen."

    Die restlichen folgen bis ins Jahr 2022. Deutschland wird damit zum Vorreiter, auch zum Versuchslabor, was den Umstieg auf neue Energien angeht.

    Das Stromnetz gilt als Achillesferse. 3800 Kilometer an neuen Leitungen, große Trassen vom Norden in den Süden sind nötig, sagt die Deutsche Energieagentur Der Anteil der Erneuerbaren soll steigen, schrittweise, bis 2030 auf 50 Prozent.

    Und: In zehn Jahren sollen 20 Prozent weniger Strom verbraucht werden: Die Förderung von Gebäudesanierungen soll dabei helfen. Das aber reicht nicht aus: Es wird auch eine Renaissance der fossilen Energien geben, es braucht wohl auch neue Kohle- und Gaskraftwerke.

    Die Reaktionen der Bundesregierung:

    Netzausbau-Beschleunigungsgesetz, Planungs-Beschleunigungsgesetz –
    mit dem Bau neuer Stromtrassen, mit dem Bau neuer Kraftwerke – muss es jetzt schnell gehen. Auch weil Ängste aufkommen, Ängste geschürt werden.

    Blackout heißt die Warnung: Im Winter könnten die zur Verfügung stehenden Strommengen nicht ausreichen. Besonders RWE-Chef Jürgen Großmann – der Mr. Atom – tut sich hervor: Er warnt, es könnte notwendig werden, einzelne Regionen, etwa den Großraum Stuttgart, auf "Dunkel" zu stellen. Ohne Licht, ohne Heizung durch den Winter? Die Bundesnetzagentur bekommt den Auftrag, das zu überprüfen: Ihr Ergebnis: Ein Reserve-AKW vorzuhalten, dass ist unsinnig und teuer: Drei Gas- und Kohlekraftwerke stehen für den Notfall bereit.

    Auch eine Deindustrialisierung Deutschlands droht, rufen die Kassandren. Die Bundesregierung hält dagegen - die Energiewende schafft mehr Arbeitsplätze als dass sie vernichtet. Trotzdem ergreift sie Maßnahmen: Bundesumweltminister Röttgen:

    "Die Wettbewerbsfähigkeit des Strompreises ist ein extrem wichtiges Thema für die energieintensive Industrie. Ich habe unterstrichen, betont, ich will, dass die energieintensive Industrie, die im internationalen Wettbewerb steht, auch von Belastungen, die andere zu tragen, haben ausgenommen wird."

    Die Industrie erhält ihre Zugeständnisse: Befreiungen für die Unternehmen mit großem Stromverbrauch: Von der sogenannten EEG-Umlage und ab Sommer zusätzlich Entlastungen vom Netzentgelt – allein diese zweite Umverteilung soll rund eine Milliarde wert sein. Zuviel des Guten, meinen Verbraucherschützer bald, zu viel des Guten auf Kosten der privaten Stromkunden – sie legen Beschwerde in Brüssel ein.

    Unversöhnlich hart zeigen sich die Energieunternehmen: Eon reicht Klage ein gegen die Rücknahme der Laufzeitverlängerung. RWE und Vattenfall denken über ähnliche Schritte nach. Und auch gegen die Brennelementesteuer schießen sich die Manager der einstigen "Brückentechnologie Atomkraft" ein:

    "Wer keine Brücke will, kann auch keine Brückenmaut nehmen."

    Die Klagen sind erfolgreich: Rund 170 Millionen Euro erhalten RWE und Eon vom Fiskus zurück, allein in diesem Jahr – wegen verfassungsrechtlicher Bedenken gegen die Brennelementesteuer.

    Die Bilanzen verhagelt es den "Big Four" aber trotzdem: EnBW verhandelt mit dem Haupteigner, dem Land Baden-Württemberg, über eine neue Kapitalspritze. RWE versucht sich zur Aufbesserung der Kapitaldeckung an der Börse, sammelt 2,1 Milliarden Euro ein und Eon verliert 30 Prozent seines Börsenwertes, rechnet zum ersten Mal in seiner Geschichte mit Verlusten:

    Auch Stellenabbau wird überall angekündigt. Eon streicht 11.000 weltweit, RWE 8000 – nicht wenige davon werden Arbeitnehmer in Deutschland betreffen.

    Aber - die Misere bei den Energieversorgern - ist daran allein der Ausstieg aus der Atomkraft schuld, wie es die "Big Four" gerne nahe legen? Es ist Zweifel angebracht. RWE rechnete schon vor Fukushima mit einem Umsatzrückgang von mehr als 30 Prozent, Eon belasten hohe Abschreibungen im Ausland. Und, inzwischen klingt das auch alles etwas anders: Eon-Chef Johannes Teyssen:

    "Es kommen sicherlich unternehmerische Versäumnisse der Vergangenheit zusammen mit den Eingriffen der Politik und den Herausforderung des Marktes. Schuldzuweisungen, der eine hat dieses zu verantworten, der andere jenes, wird den Menschen nicht gerecht, wird der Sache nicht gerecht. Eine solche Aufteilung ist mir nicht möglich."

    2012 wird spannend. Ein Brief aus der Branche warnt noch zum Ende des Jahres: Der dringend benötigte Stromanschluss der Windparks in der Nordsee könnte scheitern. Die Bundesregierung kündigt eine "Informationsoffensive" an, um lokale Widerstände gegen Neubauten zu brechen, im Sommer 2012 soll dann ein Zehnjahresplan für den Ausbau des Stromnetzes stehen. So langsam könnte der Umbau an Fahrt aufnehmen.

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