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23.4.1929 - Vor 75 Jahren

George Steiner, der heute 75 Jahre alt wird, ist einer der Gelehrten, die auf uns als Herausforderung wirken. Er ist durch den Radius der Kenntnisse, über die er verfügt, und der Sprachen, die er wie selbstverständlich beherrscht, dem Durchschnittsintellektuellen weit überlegen. Er stellt in seinen Büchern Fragen, die bereits von der Theologie in kleiner Währung veräußert werden, mit so grundsätzlicher Einfachheit, dass sie wie Boten aus einem anderen Zeitraum wirken.

Von Wilfried F. Schoeller | 23.04.2004
    George Steiner ist seinem Beruf nach vergleichender Literaturwissenschaftler und hat beispielsweise in Cambridge, Genf und Princeton gelehrt; seit 1994 ist er vorwiegend in Oxford tätig. Aber er hat in alle Winkel des intellektuellen Daseins mit seinen Büchern hineingewirkt. Er will nichts anderes sein als Leser - und zwar mit einer Ausschließlichkeit, die sich vom Trubel um Neuerscheinungen, vom Lärm um Autoren, vom Gerede und Gewerbe des Literaturbetriebs in seiner Einsamkeit nicht beirren lässt. Er braucht nichts als seine Zurückgezogenheit, um sich, im Bild des geduldigen, mönchischen Entzifferers von Texten, selbst zu lesen.

    Ein guter Leser ist für ihn einer, der dem Text antwortet, der sich ihm gegenüber verantwortlich fühlt. George Steiner bewegt sich in seinen Arbeiten am liebsten am Horizont unserer geschichtlichen Erfahrung. Von der Bibel bis zur Genforschung zieht er in seinem Buch "Grammatik der Schöpfung" einen gedanklichen Bogen. Es geht ihm um den Schöpfungsakt, den er in der abendländischen Kunst deutet. Er versteht sich als Zeuge am Ende eines Wegs. Er diagnostiziert, dass wir den Wunsch verloren hätten, die Sterblichkeit zu überwinden und die Idee des Schöpfungsakts, des transzendierenden Moments, weiter zu tragen.

    Mit Tagesfragen der Literatur hat er sich nie aufgehalten. Gegen die Beliebigkeit der Postmoderne setzt er eine kardinale Einfachheit bohrender Erkenntnisfragen: Was heißt "übersetzen"? Gibt es eine "absolute Tragödie"?

    George Steiner ist als Sohn Wiener Juden 1929 in Paris geboren. Er wuchs mehrsprachig auf. In seinem autobiographischen Buch "Errata" hat er davon erzählt: "Sprachen flatterten durchs Haus. Englisch, Französisch und Deutsch im Esszimmer und im Salon. Das 'Potsdamer Deutsch' meines Kindermädchens im Kinderzimmer; Ungarisch in der Küche..." 1940 floh die Familie nach New York, dort und in Chicago hat er studiert. Seine Heimat ist überall: nämlich in der Literatur. Im Babel der großen Texte ist er zuhause, nirgendwo anders. In seinem Buch über "Sprache und Schweigen" hat er 1967 auch auf das Wiedergängertum von Sprache hingewiesen, darauf, dass sie als entmenschte und barbarische, im Dienst des Holocaust, zurückkehren könne. Dann gebe es nur noch die Rettung ins Schweigen. George Steiner ist als Jude vom Ernst der Texte geprägt.

    Er ist, schroff genug für seine Leser, einer der überragenden Universalgelehrten unserer Zeit: Naturwissenschaften und Mathematik, bildende Kunst, Musik und Religion sind ihm, der das Auseinanderdriften der Wissenschaften beklagt, genauso zugänglich und verfügbar wie es die europäische Literaturgeschichte ist. Mit dieser Überlegenheit wirkt er oft wie eine Provokation und wie ein fremder Gast in den Niederungen des Textalltags. Er versteht sich als Diener einer unermesslichen Kulturgeschichte, als Deuter eines Zeitpanoramas, in dem unsere eigene Lebenszeit nur einen begrenzten Textausschnitt bietet.