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25 Jahre "Nuova Orchestra Scarlatti"
Barockmusik gegen die Krise

In Italien kämpfen viele Orchester um ihr Überleben - besonders öffentlich finanzierte Ensembles sind betroffen. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat das "Nuova Orchestra Scarlatti" aus Neapel in diesem Jahr Grund zu feiern: In den letzten 25 Jahren haben beide Klangkörper viel erreicht.

Von Thomas Migge | 10.09.2018
    Orchestra Scarlatti Young
    Das Orchestra Scarlatti Young unterstützt junge Musiker, die aus benachteiligten Familien kommen. (Nuova Orchestra Scarlatti /Klaus Bunker)
    Ein Klarinettist, junge Leute und gestandene Musiker und private Unterstützung – 25 Jahre Nuova Orchestra Scarlatti und Orchestra Scarlatti Young. Mozarts drittes Violinkonzert, Köchelverzeichnis 216, Allegro. Aufgeführt in einer prächtigen barocken Kirche. Mitten im spanischen Viertel in Neapel, im historischen Herzen der Stadt unter dem Vesuv. Es musizieren die jungen Künstler des Orchestra Scarlatti Young. Italiens Musikkritikern zufolge eines der besten Jugendorchester des Landes. Keiner der Musiker ist älter als 25 Jahre.
    Sie alle leben in Neapel. Viele von ihnen in den heruntergekommenen Stadtrandquartieren. Dort, wo die neapolitanische Mafia regiert, die von dem investigativen Bestseller-Journalisten Roberto Saviano beschriebene Camorra. Mara Vanelli spielt Violine im Orchestra Scarlatti Young. Die 24-jährige Violinistin stammt aus Scampia, aus jenem berühmt-berüchtigten Viertel, in dem Savianos Reportagebuch "Gomorra" spielt, und wo auch die davon inspirierte gleichnamige Fernsehserie gedreht wurde. Mara Vanelli hatte in Scampia keine Möglichkeit, ein Instrument zu erlernen oder in einem Orchester zu spielen. Deswegen musste sie immer wieder den langen Weg in die Innenstadt auf sich nehmen, um dort Unterricht nehmen zu können.
    Schwierige Situation für junge Musiker
    "Italien ist sicherlich kein einfaches Land für junge Musikinteressierte und Musiker. Wie Sie vielleicht wissen, haben die meisten Orchester finanzielle Probleme, müssen sogar schließen. Für jemanden, der mit Leidenschaft dabei ist, ist das eine schwierige Situation."
    Aber zum Glück lernte Mara das Orchestra Scarlatti Young kennen. Das war vor sieben Jahren. Damals nahm sie an einer Audition teil und wurde gleich genommen. Seitdem fährt sie mehrfach in der Woche mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Scampia aus, mehr als eine Stunde dauert die Fahrt, ins historische Zentrum, in die Salita Vetriera, wo das Orchester in der ehemaligen Barockkirche Santa Maria in Betlemme seinen Sitz und Probenraum hat.
    Mara Vanelli: "Wir betreiben hier, wenn man so will, musikalischen Widerstand gegen das institutionelle Desinteresse unserer Politiker. Zum Glück geht das. So brauchen wir nicht ins Ausland zu gehen. Italien ist ein wunderschönes Land, aber viele von uns Musikern müssen emigrieren. Das ist eine hässliche Realität."
    Ein Kind der gravierenden italienischen Orchesterkrise
    Von der die Violinistin bislang verschont bleibt. Über Arbeit kann sie sich beileibe nicht beklagen. Das Orchestra Scarlatti Young hat einen gut gefüllten Konzertkalender. Nicht nur in diesem Jahr, dem Jahr seines 25-jährigen Bestehens, sondern auch für die kommenden Jahre, in Italien und im Ausland. Das Orchestra Scarlatti Young wie auch das Nuova Orchestra Scarlatti, beide entstanden im Jahr 1993, sind in gewisser Weise ein Kind der gravierenden und chronischen italienischen Orchesterkrise. Orchestergründer und Klarinettist Gaetano Russo:
    "Im Jahr 1992 entschied die öffentlich-rechtliche RAI drei ihrer Orchester zu schließen. Um Geld zu sparen. Geschlossen wurde auch mein Orchester, das RAI-Orchester in Neapel, in dem ich mitgespielt habe. Ich versuchte, diese Entscheidung zu verhindern, denn Neapel braucht ein symphonisches Orchester."
    Doch die RAI-Verantwortlichen und auch die Stadt Neapel, die von den Orchestermusikern auf Knien darum gebeten wurde, diese musikalische Institution ihrerseits finanziell zu unterstützen, um sie am Leben zu erhalten, waren nicht dazu bereit einzulenken. Der Klarinettist Russo aber gab nicht auf. Mit Hilfe von Freunden, Musikern, Unternehmern, katholischen Geistlichen und vielen musikbegeisterten Bürgern Neapels schuf er in nur wenigen Monaten ein neues Orchester: das Nuova Orchestra Scarlatti. Und für Nachwuchsmusiker das Orchestra Scarlatti Young. Gaetano Russo:
    "Wer ganz fest an etwas glaubt muss tätig werden. Man darf nicht warten, bis andere irgendwann etwas unternehmen. Wir sind ein rein privates Orchester. Wir haben die Rolle übernommen, die eigentlich ein öffentliches Orchester ausüben sollte. Gut, dass wir existieren, denn in all den Jahren unseres Bestehens ist niemand hier in dieser Stadt auf die Idee gekommen, ein neues, öffentlich finanziertes Orchester auf die Beine zu stellen."
    Das Nuova Orchestra Scarlatti
    Das Nuova Orchestra Scarlatti (Nuova Orchestra scarlatti/ Klaus Bunker)
    Das Repertoire beider Orchester ist breit gefächert: vom Barock, nicht nur Scarlattis, bis hin zu zeitgenössischer Musik. Während das Nuovo Orchestra Scarlatti inzwischen die Position eines städtischen Symphonieorchesters ausfüllt, wie es einst das RAI-Orchester innehatte, und mit Konzerten im In- und Ausland brilliert, konzentriert sich der Klarinettist zunehmend auf Musikpädagogik. Fast 20 Jahre lang unterrichtete er in Grund- und Mittelschulen Neapels. In einer didaktischen Realität, in der der Musikunterricht in der Regel unter ferner liefen läuft. Seine musikpädagogischen Erfahrungen begann er in seinem Orchestra Scarlatti Young umzusetzen.
    Hilfe für benachteiligte Jugendliche
    Gaetano Russo leitet immer wieder die Proben seines Jugendorchesters, das ihm besonders am Herzen liegt. Wie auch jene jungen Musiker, die aus problematischen familiären Realitäten stammen. Ihnen hilft die Stiftung des Orchesters auch finanziell, soweit das mit dem ohnehin schon begrenzten Mitteln möglich ist. Die Stiftung, in der die beiden Orchester zusammengefasst sind, hilft auch mit eigenen Unterkünften, gerade für jene jungen Musiker, die unter besonders dramatischen Familienproblemen leiden – keine Seltenheit in einer Stadt, in der rund 35 Prozent aller Familien als arm und kriminell involviert gelten. Der Jugendliche Lucio Del Monte profitiert davon:
    "Ich bin 14, im Oktober werde ich 15. Meine Leidenschaft ist die Oboe. Vor knapp vier Jahren hat mir Maestro Russo beigebracht, die Oboe zu spielen."
    Immer wieder, wenn er es bei seinen arbeitslosen Eltern, die beide drogenabhängig sind, nicht aushält, schläft er in der Familie eines der erwachsenen Musiker des Nuovo Orchestra Scarlatti. Lucio sagt, dass er endlich glücklich sei. Er habe sehr gute Freunde gefunden, eine Art neues Zuhause und er darf soviel Musik machen wie er will.
    Wie dem jungen Oboisten ergeht es nicht wenigen Youngstern des Jugendorchesters. Ihre Geschichten ähneln sich. Geschichten in einer Stadt, die wie keine andere in Italien von Armut, sozialer Vernachlässigung und der Vorherrschaft der organisierten Kriminalität geprägt ist - gegen die kein Kraut gewachsen zu sein scheint. Eine Stadt, in der die beiden Orchester ein Leuchtturm gelungener privater Kulturpolitik sind.