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27.6.1954 - Vor 50 Jahren

Der Ministerrat der UdSSR gibt bekannt. Das erste mit Atomenergie betriebene Kraftwerk hat in der Sowjetunion mit der Erzeugung von Kraftstrom begonnen. Dieses neue Kraftwerk, das eine Kapazität von 5000 Kilowatt hat, wird die Industrie und Landwirtschaft der umliegenden Bezirke mit Strom versorgen.

Von Klaus Kuntze | 27.06.2004
    Aber da dies eine - auch noch nach Stalins Tod - typische sowjetische Regierungserklärung war, fehlte 1. eine Standortangabe und 2. ein präzises Datum der Inbetriebnahme. Dabei hätte es für Moskau eigentlich nichts zu verbergen gegeben. Im Gegenteil. Wurde doch nach 1938, als die Spaltbarkeit des Urankerns entdeckt worden war, die Entwicklung ganz in militärische Bahn gelenkt. An den Kernreaktoren interessiert die Produktion von waffenfähigem Plutonium und nicht das Potential der zugleich anfallenden hohen Temperatur.

    1945 zerstören die ersten US-Atombomben Hiroshima und Nagasaki. Und schon zwei Jahre danach erklärt Molotov, Stalins Aussenminister. Die Vereinigten Staaten von Amerika besitzen das Geheimnis der Atombombe nicht mehr allein. 1949 testet die Sowjetunion erfolgreich ihre erste atomare Waffe.

    Moskau kommt an dieser Stelle des Kalten Krieges erstmals zum Durchatmen. Kriegsschäden und -verluste verlangen wie die sündteure Atomrüstung nach einer hochproduktiven Volkswirtschaft. Aber der wachsende Energiebedarf stösst auf die landestypischen Widersprüche : Öl, Gas, Kohle und Wasserkraft liegen in klimatisch ungünstigen Breiten, weit entfernt von den Gebieten, in denen sie am meisten gebraucht würden.

    Wenn die Sowjetunion sich mit einem dichten Netz von Kraftwerken bedeckt haben wird, dann wird unser kommunistischer Wirtschaftsaufbau zum Vorbild für Europa und Asien werden.

    Tatsächlich aber sieht sich Moskau in dieser Zeit weiter denn je entfernt von dieser Vision Lenins. Nach 1949 werden daher Anregungen der Wissenschaft aufgegriffen, Energie aus Kernkraft zu gewinnen. Der greise Stalin muss noch genickt haben. Erfahrung fehlt.

    Aus einem Geheimlabor bei Suchumi werden Aleksandr Lejpunskij und Dmitrij Blochinzev, zwei namhafte Kernphysiker, abkommandiert, ein Kraftwerk zu entwickeln.

    Die Wahl für das Objekt fällt auf eine Stelle im Grünen, die die Benennung Obninsk erhält. Schnittpunkt zwischen dem Fluss Protva, der als Wasserreservoire ausersehen wird und einer Verkehrsachse, 90 Kilometer von Moskau entfernt, in Richtung Südwesten.

    Heinz Barwich, einer der von Moskau 1945 "erbeuteten" deutschen Wissenschaftler, hört trotz strengster Geheimhaltung von der Arbeit in Obninsk. Einige seiner deutschen Kollegen, schreibt er...

    ... waren an Spezialproblemen der Reaktorentwicklung beteiligt gewesen, ohne allerdings mit Reaktoren selbst in Berührung zu kommen. Sie hatten in unmittelbarer Nähe der Baustelle des ersten sowjetischen Atomkraftwerks gearbeitet, jedoch keinerlei Einzelheiten darüber erfahren.

    Heute wissen wir, dass der Bau im Herbst 1951 begonnen und im Frühjahr 54 beendet wurde. Zur optimalen Steuerung des Reaktors braucht es dann noch einige Wochen, am 27. Juni 1954, einem Sonntag, ist es so weit : der Brennstab erhitzt Wasser, Dampf treibt eine Turbine an. Die Leistung ist mit fünftausend Kilowatt eher sehr bescheiden. Obninsk konnte deshalb auch im Jahre 2002 sang- und klanglos als unrentabel abgeschaltet werden. Einen Trumpf glaubte Moskau damals in die Hand bekommen zu haben.

    Die Inbetriebnahme dieses Atomkraftwerkes bedeutet einen realen Schritt zur Ausnutzung der Atomenergie für friedliche Zwecke.

    Neben dem Propagandaeffekt zählt die Volkswirtschaft. Im Jahr 2000 solle die Kernkraft 40 Prozent Anteil am Energiesektor haben. Utopische Träume vom Gartenbau im Hohen Norden, von der Erschliessung wasserloser Gebiete im Süden gehen mit einer erstaunlichen Bedenkenlosigkeit zusammen. Selbst Andrej Sacharov, der prominente sowjetische Physiker, erklärt noch 1975 in seiner Rede zum Friedensnobelpreis.

    Wir dürfen nicht gegen den Bau grösserer Kernkraftwerke zu Felde ziehen, da die Energieversorgung zu den Grundlagen unserer Zivilsation gehört.

    April 1986. Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Für Russland heute eher eine Episode. Der mit Obninsk begonnene Weg wird weiter begangen.