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29.4.1929 - Vor 75 Jahren

"Loeser & Wolff" hieß eine Zigarrenfirma im Rostock der Vorkriegszeit. Daraus formte die Familie von Walter Kempowski ihr privates Synonym für eine einwandfreie Sache: "Tadelloeser & Wolff". Als Titel eines der berühmtesten deutschen Romane des 20. Jahrhunderts ist dieser 'Schnack', wie man im Norden sagt, sprichwörtlich geworden und untrennbar verbunden mit der Prominenz und der großen öffentlichen Wirkungskraft, die Walter Kempowski in nunmehr über 40 Jahren rastloser literarischer Arbeit erreicht hat.

Von Joachim Scholl | 29.04.2004
    "Tadelloeser & Wolff" erschien 1971 und machte sogleich Furore als authentisches Sittenbild deutscher Bürgerlichkeit und Mentalität. Glänzend hatte sich Walter Kempowski zurückversetzt ins Jahr 1938, als er neun Jahre alt war und die Erzählung einsetzt. Mit dem wachen, alles registrierenden Blick des Heranwachsenden notiert er das Familiengeschehen, er lauscht den Gesprächen der Erwachsenen, schildert die vielen kleinen Dinge, die den Alltag bestimmen. Ein Urlaub ist da schon eine große Sache, auch wenn es nur in den Harz geht.

    Im Schlossmuseum von Wernigerode wurden wir von einem Kastellan in Landsknechtuniform empfangen. "Immerhinque", sagte da mein Vater. Vor der Tür wurden Aufnahmen gemacht. "Bitte noch ein Stück zurück!" Meine Mutter in wehendem Pelerinenkleid. "Huhu!" Drei Knöpfe mit Quetschfalten wie Sonnen auf der Brust. Zur Sicherheit wurde alles zweimal fotografiert. Mein Bruder benutzte die Ikarett meiner Eltern, sie ließ sich nicht mehr richtig schließen, Ullas Box dagegen funktionierte unentwegt. "Das Einfachste ist doch noch immer das Beste!" sagte mein Vater. "Ja", sagte der taube Oberst, "fabelhaft, wie der Hitler das hingekriegt hat.

    "Tadelloeser & Wolff" bildet das Kernstück einer auf sechs Bände angelegten 'Deutschen Chronik', die Walter Kempowskis Familiengeschichte von 1900 bis ins Jahr 1958 verfolgt. Dabei verdeckt das vielfach gelobte Komödiantische seines Stils keineswegs die Tragik der biographischen Realitäten. Kurz vor Kriegsende, im April 1945 fiel der Vater, mit knapp 16 Jahren musste der junge Walter Kempowski noch in den Krieg. Nach einer mehrjährigen Odysse im Nachkriegsdeutschland, wo er sich in Hamburg und Wiesbaden als Laufbursche, Verkäufer und Druckereilehrling durchschlug, kehrte er 1948 nach Rostock zurück, um dort von den sowjetischen Besatzungsbehörden prompt verhaftet und mitsamt Mutter und Bruder zu 25 Jahren Arbeitslager wegen Spionage verurteilt zu werden. Acht Jahre saß Walter Kempowski im Zuchthaus Bautzen. Nach gottlob vorzeitiger Entlassung holte er in Göttingen sein Abitur nach, studierte Pädagogik und wurde Lehrer. Nebenbei begann er zu schreiben. Zunächst interessierte ihn nur die Geschichte seiner Familie. Doch wie von selbst schälte sich aus den Aufzeichnungen, Briefen, Lebenszeugnissen und zahllosen Notizen eine allgemeinere, repräsentative Erkenntnis heraus. "Tadelloeser & Wolff" war vor allem deshalb auf Anhieb erfolgreich, weil Hunderttausende von Lesern ihre eigene Geschichte darin erkannten.

    Es gibt das Schlagwort von der exemplarischen Existenz, und ich glaube, nur dann kann ein solcher Roman auch eine Breitenwirkung erzielen und überhaupt verstanden werden. Hier setzt der Punkt des Verstehens ein, wenn ich das Allgemeine treffe. Einerseits ist es so: Je privater ich werde, desto allgemeiner werde ich. Je mehr ich bei mir ins Allerprivateste gehe, also in die Familie, desto allgemeiner wird es. Denn die allerprivatesten Dinge sind auch gleichzeitig die Dinge, die uns alle verbinden.

    Walter Kempowski wurde zum Jäger und Sammler deutscher Geschichte, zum herausragenden literarischen Chronisten unsere Zeit. Am eindrucksvollsten manifestiert sich seine Leidenschaft in der Jahrhundert-Collage "Echolot", die auf über 3000 Seiten die ersten beiden Monate des Kriegsjahres 1943 mit authentischen Quellen belegt. Er selbst nannte dieses Werk, das inzwischen auf neun Bände angewachsen ist, eine "Dokumentation der Gleichzeitigkeit, in der das stoische Privatleben neben dem Verrecken, der verbrecherische Luxus neben dem ganz bürgerlichen Weitermachen" stehe. So lautet das Credo seiner Arbeit:

    Einmal ist es das Bedürfnis, die Zeit festzuhalten, und Zeiterereignisse chronisch festzuhalten. Denn irgendwie hat man das Bedürfnis, wenn man selbst meint, einen Schlüssel zur Wahrheit zu haben – ob’s der richige ist, ist die Frage – diese vergangene Zeit so zu überliefern, wie man meint, dass sie wirklich gewesen ist, aus einer geradezu redlichen Einstellung heraus. Ich habe nie etwas geschrieben, was sich nie ereignet hat. Ich bin immer bei der Wahrheit geblieben.

    Dieser Maxime ist Walter Kempowski bis heute treu geblieben. Im Literarischen habe ihn das 'Finden' immer mehr interessiert als das 'Erfinden'. Und seine aufregenden Funde haben unser Bild deutscher Zeitgeschichte stetig verändert, korrigiert und erweitert. Dass er diese Suche unermüdlich weiter betreiben wird, darf man vermuten.