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29.6.1929 - Vor 75 Jahren

Ob der Bundespräsident nicht besser vom Volk gewählt würde, ob er zu wenig Macht besitze – ja, ob es des Amtes überhaupt bedürfe, wurde Eberhard Jäckel, aus gegebenem Anlass, vor ein paar Wochen gefragt. Seine Antwort reflektierte die Argumente des Historikers: Traditionen solle man nicht ohne Not aufgeben, und was die Wirkungsmacht des Präsidenten angehe, so liege sie seit Theodor Heuss in der Kraft seiner Rede. Jäckel wörtlich: "Damit kann er einiges bewirken, wenn er zum einen den Ton der Zeit trifft und gleichzeitig ein wenig provoziert."

Von Norbert Frei | 29.06.2004
    Gewiss ganz ungewollt hat Eberhard Jäckel, der am 29. Juni 1929 in Wesermünde geboren wurde, mit dieser Formulierung auch Auskunft über sich selbst gegeben: Den Ton der Zeit zu treffen, auf seinem Feld, der Zeitgeschichte, das Mögliche zu sagen, doch immer auch ein bisschen zuzuspitzen – besser lässt sich kaum zusammenfassen, worin der Stuttgarter Emeritus seit Jahrzehnten seine Aufgabe sieht. Genauer gesagt: seit sich seiner Generation, die das "Dritte Reich" aus der Perspektive von Heranwachsenden erlebt hatte, 1945 alle Chancen des Neuanfangs boten.

    Für Jäckel wie für viele, die den Weg in die Geisteswissenschaften wählten, standen dabei Kritik und Aufklärung – und das hieß nicht zuletzt: Selbstaufklärung –, sehr bald in engem Zusammenhang mit einem bewussten Engagement für die Demokratie. Schon die Wahl der Studienorte signalisierte, dass da einer die Welt des Westens kennen lernen wollte. Nach Göttingen, Tübingen und Freiburg im Breisgau zog es den früh vaterlos Gewordenen nach Florida und nach Paris, wo er auch das Thema fand für sein erstes großes Buch: "Frankreich in Hitlers Europa", erschienen 1966. Entgegen der eigentlichen Absicht des Autors rückte der "Führer" darin immer wieder in den Vordergrund. Jäckel zog daraus einen für seine weitere Arbeit folgenreichen Schluss: "Das mag an der besonderen Struktur seiner Herrschaft liegen und sagt über die vielleicht mehr aus als manche oft allzu theoretische Betrachtung."

    Die politische Figur Hitler ließ den Historiker Jäckel fortan nicht mehr los. Seiner mehrfach aufgelegten Studie über "Hitlers Weltanschauung" von 1969 folgte 1986 sozusagen der Ergänzungsband: "Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung". Nicht erst mit dieser Arbeit hatte sich Jäckel als "Intentionalist" bekannt, der im Streit mit den so genannten Strukturalisten auf der totalen Entscheidungsmacht und Letztverantwortung Hitlers beharrte – des "deutschen Diktators", wie er gerne sagt.

    Die Einfachheit seiner Sprache und mitunter der Argumentation haben Jäckel unter Fachkollegen auch Kritik eingetragen – so etwa, wenn er den 30. Januar 1933 als GAU, als den "größten anzunehmenden Unfall" der deutschen Geschichte bezeichnet. Aber diese Bildkraft seiner Botschaften ist zugleich wohl das Geheimnis seiner Popularität. Seit 1969, als er sich neben Günter Grass und anderen Intellektuellen in der Sozialdemokratischen Wählerinitiative für Willy Brandt engagierte, war Eberhard Jäckel jahrzehntelang wie kein zweiter Historiker in den Medien präsent.
    Hitler und der Mord an den europäischen Juden rückten dabei immer stärker in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Nach dem Erfolg der amerikanischen Fernsehserie "Holocaust" kritisierte Jäckel, dass es im "Land der Täter" – und zwar im Westen wie im Osten – an Forschungsanstrengungen mangele. Er selbst organisierte daraufhin 1984 in Stuttgart eine viel beachtete internationale Konferenz zu der Frage, wie der Entschluss zur so genannten "Endlösung" zustande kam. Aus der mehrteiligen Dokumentation "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", die er 1990 mit Lea Rosh in der ARD präsentierte, ging sein hartnäckiges Engagement für das Berliner Holocaust-Denkmal hervor. Wenn es im nächsten Frühjahr eröffnet wird und Eberhard Jäckel darüber eine gewisse Genugtuung empfände – niemand könnte es ihm verargen.

    Dieser Massenmord war gewiss ein Verstoß gegen die Moral, ein Verbrechen, selbstverständlich. Aber sein Wesen erfasst man erst dann, wenn man erkennt, dass er aus einem Verstoß gegen die Vernunft hervorging. Sein Wesen und seine Einzigartigkeit war die vernunftwidrige Annahme, dass die Juden, alle Juden, die jüdischen Kinder in Warschau und Amsterdam, die jüdischen Einwohner von Trontheim und von Rhodos allesamt Gegner waren. Das konnte nicht sein. Das war nicht so. Die Nazis aber glaubten es und daher war der Nationalsozialismus zunächst und zutiefst eine Katastrophe des menschlichen Geistes, eine Katastrophe der Aufklärung.