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30.5.1994 - Vor 10 Jahren

Schon zu Lebzeiten war er eine Legende. Genauer eine "leyenda" negra". Nur: in der Tradition der spanischen "schwarzen Legende" wird immer der Gegner verteufelt. Nach dem Prinzip: Die Hölle sind die anderen. Die Figuren von Juan Carlos Onetti und ihr Autor allerdings malten sich selbst schwarz.

Von Ruthard Stäblein | 30.05.2004
    Unter meinen Romangestalten gibt es einen gewissen Diaz Grey, ein Mensch ohne Ambitionen. Diaz Grey hat viel von Onetti. Ein Zeuge der laufenden Ereignisse, ein ziemlich zynischer. Er lebt sein Leben, amüsiert sich und lässt es niemanden merken. Einer der den Satz zur Anwendung bringt: Was der Mensch verdient ist Ironie und Mitleid.

    Onetti schrieb die schmalsten Romane der Weltliteratur und mit die düstersten dazu. Sein Erstling, "Der Schacht", den er mit 30 verfasste und der erst Jahrzehnte später wahrgenommen wurde, hat nicht einmal 70 Seiten. Seine Helden sind Versager und Untergeher, eingebildete machos und wirkliche desperados. Sie halten sich an Abenteuern fest, die sie erträumen und halluzinieren, um zu überleben. Wurzellose Städter wie dieser Juan Maria Brausen aus dem Roman "Das kurze Leben". Allein der Titel sagt schon viel. Der von Frau und Firma enttäuschte Werbetexter Brausen flieht aus seiner "Mäuseexistenz" in die Nachbarwohnung einer Prostituierten und weiter in die Stadt Santa Maria, die "in Wirklichkeit" eine Ausgeburt seiner Phantasie ist. An dieser imaginierten "Pampa aus Stein" baut Onetti in mehreren Romanen weiter - Das Leben ist zu kurz, um es sich von der schnöden Wirklichkeit vorschreiben zu lassen.

    Das Leben von Onetti indessen war fast 85 Jahre lang, obwohl dies Lebenswandel und – einstellung des Autors nicht vermuten lassen.

    Geboren werden und sterben, das erscheint mir völlig absurd. Was mir das Leben gegeben hat und wofür ich sehr dankbar bin, das ist eine Art Ausgleich für dieses Todesurteil, das wir seit unserer Geburt mit uns herumschleppen. Ich glaube, das größte Glück überhaupt habe ich in der körperlichen Liebe gefunden. Alle glücklichen Momente meines Lebens waren bestimmt durch Hingabe, durch Bewusstseinsverlust; die Liebe und an zweiter Stelle eine gewisse Dosis Alkohol, die mir ein beruhigendes Gefühl des Vergessens schenkt. Und schließlich die von außen gesehen wichtigste Sache: Das Schreiben. Wenn ich schreibe, hört die Welt auf zu existieren. Ich brauche keine Atombombe, um sie zu zerstören. Wenn ich schreibe, bin ich absolut glücklich.
    Allein die Kunst kann perfekt sein.
    Juan Carlos Onetti ist 1909 in Montevideo als Sohn eines Zollbeamten geboren. Das Gymnasium bricht er ab. Er hält sich mit einfachen Jobs über Wasser, bis er mit 30 Redakteur einer Zeitschrift wird. Mit 21 heiratet er zum ersten Mal: Eine Cousine. Kurze Zeit später die Schwester der Cousine. Er ehelicht zwei weitere Frauen, zuletzt die Geigerin Dorothea Muhr.
    Er arbeitet für Reuters in Montevideo und dann in Buenos Aires. Zurück in Montevideo wechselt er in eine Werbeagentur. Als Mitglied einer Jury wagt es Onetti 1974, eine Anti-Folter-Erzählung zu prämieren. Dafür landet er unter der Militärdiktatur von Uruguay im Gefängnis.

    1975 setzt er sich nach Spanien ab. Zwei Jahre lang kann er keine Zeile schreiben. Er verkriecht sich in seiner Matratzengruft, liest am liebsten Marcel Proust im Bett und raucht und bedient seine Krankheit, den Alkoholismus. Um den Mann mit der Mönchsspinnenschrift bildet sich eine Art Geheimkult. Dem Literaturbetrieb bleibt er fremd. Auch wenn er mit 72 Jahren den längst verdienten höchsten spanischen Literaturpreis Cervantes bekommt.
    Juan Carlos Onetti hat die dunklen Seiten des Lebens in äußerst klaren Sätzen und mit wenigen Strichen erfasst. Dabei kann der schwarze Meister der Kürze auch den Leser verwirren, wenn er Fiktionen über Fiktionen, Träume über Halluzinationen schichtet. Aber seine Düsternis und seine Gespenster gehören zum Sternenhimmel der Weltliteratur.