Dienstag, 16. April 2024

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30 Jahre Großdemonstration in Leipzig
Schlüsselmoment der Friedlichen Revolution in der DDR

Rund 70.000 Menschen versammelten sich am 09. Oktober 1989 in Leipzig, um für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Die politische Führung ließ sie gewähren. Durch Videoaufnahmen von zwei Ostberliner Bürgerrechtlern wurden die Ereignisse weltweit öffentlich.

Von Alexandra Gerlach | 09.10.2019
Am Montag, dem 9. Oktober 1989, findet nach dem Montagsgebet in der Nikolaikirche die historische, friedliche Montagsdemonstration mit über 70.000 Teilnehmern statt. Schweigend und ohne Transparente ging es vom Karl-Marx-Platz um den Leipziger Innenstadtring - im Bild am so genannten Blauen Wunder, einer Fußgängerbrücke am Richard-Wagner-Platz, unmittelbar neben dem Konsument-Kaufhaus "Blechbüchse". Foto: Volkmar Heinz/dpa-Zentralbild/ZB | Verwendung weltweit
Am 9. Oktober 1989 fand nach dem Montagsgebet in der Nikolaikirche eine Demonstration mit über 70.000 Teilnehmern statt - schweigend und ohne Transparente (dpa-Zentralbild)
"Das erste Bild ist, als ich vom Kirchturm mit meinem Freund Aram runterfilmte und die geschätzten 70.000 uns entgegen kamen und wie kraftvoll 70.000 Menschen rufen können: ‚Keine Gewalt!‘ – ‚Schließt Euch an, wir sind keine Rowdies!‘ – ‚Völker hört die Signale, des Menschen Recht!‘ – ‚Neues Forum zulassen!‘ – ‚Gorbi, Gorbatschow, Gorbatschow!‘"
Erzählt Siegbert Schefke, einer der beiden jungen Videofilmer von 1989:
"Also, wenn ich das alle fünf Jahre , auch heute noch mal auf Video sehe, da kriege ich Gänsehaut und weiß genau, wie wir da im Taubendreck gelegen haben, wie wir die Masse erwartet haben und wie wir gehofft haben, dass kein Schuss fällt."
"Mensch da oben, da steht Stasi!"
Nur 500 Meter entfernt vom Standort der beiden auf einem Kirchturm am Leipziger Ring, ziehen die Demonstranten vom 9. Oktober 1989 an der "Runden Ecke", der Zentrale der Leipziger Stasi vorbei. Wenn da nicht geschossen werde, würde es friedlich bleiben, hofften Siegbert Schefke und Aram Radomski etwas ängstlich:
"Und oben sagte immer mein Freund Aram zu mir: ‚Mensch da oben auf den Hochhäusern, da steht Stasi! Wenn wir die sehen, sehen die uns auch.‘ Und da hat Aram erst mal mit einem Kaugummi das Kameralicht abgeklebt."
Bereits eine Woche zuvor waren die beiden jungen Aktivisten aus Berlin mit ihrer teuren über Beziehungen erworbenen Videokamera in Leipzig gewesen, doch anders als am 09. Oktober, hatten sie sich nicht getraut zu filmen:
"Wir hatten einfach zu viel Angst. Wir waren einfach unfähig. Da wurde geknüppelt, da wurde geprügelt vor der Thomaskirche und deswegen. Heute wissen wir natürlich: Der 09. Oktober ist der Tag der Entscheidung, der wichtige Tag der Entscheidung. Aber das wussten wir am 09. Oktober noch nicht."
Missstände in der DDR gefilmt
Siegbert Schefke ist damals 30 Jahre alt und lebt in Berlin auf dem Prenzlauer Berg. Der Sohn eines Maurers aus Eberswalde in Brandenburg arbeitet als Oberbauleiter beim VEB Wohnungsbaukombinat in Berlin. 1986 gehört er mit zu den Mitgründern der Umwelt-Bibliothek in den Kellerräumen der Ost-Berliner Zionsgemeinde und gerät damit in den Fokus der Staatssicherheit.
Schefke ist gut vernetzt, auch mit ausgebürgerten Ex-DDR-Bürgern, wie Roland Jahn, und arbeitet mit an den monatlich erscheinenden "Umwelt-Blättern", die über die massive Umweltzerstörung in der DDR berichten. Schefke organisiert sich eine Videokamera und beginnt Missstände in der DDR zu filmen.
"Mir war klar, mit einer Videokamera kannst du ganz viel bewirken in der DDR. A hat keiner eine Videokamera und B hat keiner das Know-how wie die gedrehten Kassetten in den Westen kommen. Wir haben ungefähr 30 Beiträge schon davor gedreht. Waldsterben, Städteverfall, Giftmülldeponien, das Entstehen der Opposition in der DDR, Neues Forum."
In diesem Umfeld lernt er den Fotografen Aram Radomski kennen, der am 09. Oktober mit ihm gemeinsam nach Leipzig fährt:
"Nach Leipzig kommen war schon mal eine Schwierigkeit für mich, weil mich zuhause die Stasi bewacht hat, und ich über das Dach zuhause in Berlin ausgestiegen bin. Und dann haben wir auf der Autobahn mit meinem Trabant Militärkonvois überholt. Und Aram sagte: ‚Die haben doch etwas vor in Leipzig, die fahren doch nicht umsonst dahin.‘ Und als wir so durch Leipzig den Innenstadtring abliefen, haben wir in den Nebenstraßen Militärs gesehen. Heute wissen wir: Es waren tatsächlich sechs-, siebentausend Männer unter Waffen, die da standen. Das wussten wir damals Gott-sei-Dank nicht."
Angst für der "chinesischen Lösung"
Unter den Leipziger Demonstranten ist an diesem Abend die Unruhe groß. Erst wenige Wochen zuvor hat die chinesische Staatsführung auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens die junge Demokratiebewegung des Landes von Panzern niederwalzen lassen. Auch in Leipzig ist die Lage brenzlig, erinnern sich diese Zeitzeugen in einer Dokumentation des MDR:
"Wir haben alle gewusst, dass die Pekinger Lösung im Bereich des Möglichen war. "
"Und mit diesem Gefühl sind alle 70.000 Menschen in die Stadt gegangenen, aus dieser Verzweiflung, aus dieser Angst, aus dieser Hoffnungslosigkeit heraus, das war die einzige Möglichkeit: Jetzt entweder die oder wir."
Auch Werner Schulz, DDR-Bürgerrechtler und langjähriger Grünen-Politiker hat die Bilder dieses schicksalhaften Abends noch fest im Kopf. Es sei nicht die Angst, die sich als prägender Eindruck in seinem Bewusstsein festgesetzt habe, sagt Schulz, eher eine Art Aufbruch:
"Ich glaube es war eher die Überwindung einer Duldungsstarre, denn der Unmut war allenthalben zu greifen, seit Jahren. Überall wurde gemeckert, überall gab es Kritik, aber die Leute haben sich nicht getraut. Es war nicht nur Angst, es war auch so eine Ohnmacht, die auf diesem Land lastete, bedingt durch das Trauma des 17. Juni, von 53, wo man hart durchgegriffen hat."
"Unglaubliche Bilder aus Leipzig" in den Tagesthemen
Rund 21 Minuten Material filmen Schefke und Radomski an diesem Abend in der für Journalisten gesperrten Messestadt. Unter größter Vorsicht und mit Hilfe der Pfarrersfamilie verlassen sie unentdeckt den Kirchturm. Die Kassetten übergeben sie später dem heimlich nach Leipzig gereisten Spiegel-Korrespondenten Ulrich Schwarz, der das Material an die ARD nach Hamburg weiterleitet.
"Ich weiß noch, wie mein Freund Aram sagte: ‚Siggi, wenn morgen die Bilder im Westfernsehen laufen, und die Welt die sieht - das wird nicht nur die DDR und Deutschland verändern, das wird Europa und die Welt verändern."
Am 10. Oktober, kündigt der Moderator der Tagesthemen Hanns Joachim Friedrichs "unglaubliche Bilder aus Leipzig" an, die von einem italienischen TV-Team aufgenommen worden seien. Eine Tarnung zum Schutz der wahren Kameramänner aus dem Osten, die nach einer ersten Enttäuschung dann doch ihre eigenen Bilder erkennen. Sie hätten geahnt, dass dies ein historischer Moment werden würde, sagt Schefke überzeugt:
"Als wir die Bilder gemacht haben und den Beweis erbringen konnten, das sind nicht ein paar wie die SED-Zeitungen schrieben, ein paar besoffene Rowdies, die Fensterscheiben einwerfen, das ist nicht das Volk. Nein, wir haben das Volk gefilmt. Wir haben geschätzte 70.000 im Bild gehabt und konnten der Welt zeigen: Da passiert etwas ganz großes in Leipzig, da wird Weltgeschichte vielleicht den Abend schon geschrieben."
Einen Monat später fiel die Mauer.