Dienstag, 19. März 2024

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30 Jahre Mauerfall
Als Volontärin beim Westsender RIAS Berlin

In unserer Serie erinnert sich unsere Landeskorrespondentin an ihre Zeit als Volontärin im RIAS Berlin. Der "Rundfunk im amerikanischen Sektor" galt in der DDR als Feindsender. Nach dem Mauerfall war sie als junge Reporterin ständig im Einsatz und berichtete über die letzten Monate der DDR.

Von Anke Petermann | 22.10.2019
Das Logo des Rias Berlin auf dem Dach des Rundfunkhauses in Berlin-Schöneberg, aufgenommen am 24.10.1986.
Landeskorrespondentin Anke Petermann war während des Mauerfalls Volontärin beim RIAS Berlin (picture-alliance/dpa)
Dass ich den SED-Politiker Günter Schabowski mit seiner verwirrten Zettelbotschaft ernst nahm und deshalb die Nacht der Grenzöffnung verpasste, werde ich mir nie verzeihen. Seine Pressekonferenz über die neue Reiseregelung für DDR-Bürger hatte ich am frühen Abend des 9. Novembers live auf der Mattscheibe in meinem WG-Zimmer in Berlin-Moabit verfolgt. Von der Mauer nur 15 Fahrradminuten entfernt. Leiernd abgelesen hatte der Sprecher des SED-Zentralkomitees:
Den Mauerfall verschlafen
"Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt."
Jetzt gibt es Antragsverfahren, dachte ich, und ob Genehmigungen dann wie versprochen "kurzfristig" und Visa "unverzüglich" erteilt werden, hängt bestimmt davon ab, wie "brav" ein DDR-Bürger war. Telefonisch versuchte ich, eine Bekannte in Ost-Berlin zu erreichen, um zu fragen, wie sie das Ausreise-Antragswesen versteht - ständig besetzt. Durchaus normal damals. Todmüde ging ich früh schlafen. Am nächsten Morgen radelte ich auf dem Weg von Moabit ins Schöneberger RIAS-Funkhaus durch ein auch im Westen komplett verändertes Berlin geradelt, wuselig, aufgeregt und aufregend. Eine Stadt, die Tag für Tag neue Schleusen öffnete. Und viel Stoff für Volontärseinsätze bot. Zum Beispiel im Untergrund des Ost-Berliner Bezirks Mitte.
Reportagen aus dem Untergrund
RIAS-Moderatorin: "Ein weiterer Übergang, der eröffnet wurde, ist der U-Bahn-Übergang Jannowitzbrücke, von dort meldet sich jetzt Anke Petermann."
"Ja, Punkt 12 Uhr sind dort die ersten Züge eingetroffen und haben gehalten, unter dem Beifall der Wartenden. Der U-Bahnhof ist hell erleuchtet, er strahlt in gelben Kacheln. Die Leute, die früher dort her gefahren sind, die kannten ihn nur dunkel und finster. Von oben war er zugemauert, jetzt ist alles offen."
"Geisterbahnhöfe" nannten die Berliner die beim Mauerbau verbarrikadierten Stationen, und in der Tat hatte ich es selbst als gespenstisch erlebt, auf der Fahrt mit der U 8 vom Wedding nach Kreuzberg sechs verdüsterte Bahnhöfe mit gedrosselter Geschwindigkeit und ohne Halt zu passieren. Doch das war jetzt vorbei: Der Ex-Geisterbahnhof Jannowitzbrücke bekam Ein- und Ausstieg samt provisorischer DDR-Passkontrolle durch Volkspolizisten.
"Die Kontrolle ist relativ lasch. Man guckt in den Pass, manchmal ist das Visum nicht dabei, dann wird auch mal ein Auge zugedrückt. Und die Leute, die rauskommen, sind fasziniert, sagen, ‚es ist ein tolles Gefühl, und es ist einfach unfassbar, hier zu stehen‘."
Eintauchen in eine fremde Welt
Und für mich ebenso unfassbar, von diesem ehemals verbotenen Ort zu berichten. Mein Mauerfall: im Untergrund. Für die RIAS-1-Abendsendung sammelte ich Originaltöne, traf dabei unter anderem auf Brandenburger aus Königswusterhausen. In meinen Ohren klang das damals exotisch wie eine Karibik-Insel. Die DDR-Bürger wiederum schauten teils begeistert, teils misstrauisch auf das dachartige RIAS-Logo auf meinem blauen Mikrofon-Windschutz. "Eine freie Stimme der freien Welt" wollte der RIAS sein, im SED-Sprech stand er aber als "Stimme des Klassenfeindes" für antisozialistische Hetze und Spionage. Die meisten Ausflügler erzählten mir dennoch freimütig von den Erlebnissen ihrer ersten West-Expedition:
"Sehr schönes Gefühl!" - "Wir waren ganz aufgeregt, so mit den Kindern, die sind ja selber auch aufgeregt, denn wir waren noch niemals in der BRD, weil wir auch keine Verwandten, nichts haben. Und so können die Kinder mal einen Blick in eine ganz andere Welt nehmen. Wir fahren auf jeden Fall wieder zurück, meine kleine Tochter und mein Mann sind noch zuhause. Aber ich glaube, dadurch dass wir jetzt mal in West-Berlin sind, wir mal ein bisschen mehr Liebe zum eigenen Land finden werden."
Viel Zeit blieb aber nicht, um die Liebe zum eigenen Land, der gewendeten DDR, zu kultivieren. Vielleicht zu wenig Zeit, da hielt ich es damals mehr mit dem zögerlichen Sozialdemokraten Oskar Lafontaine als mit Kanzler Helmut Kohl, der auf Wiedervereinigung drängte.
RIAS-Moderator: "Auch die Abendausgabe der Rundschau vom 2. Oktober wird sich im Wesentlichen mit der DDR am letzten Tag ihres Bestehens beschäftigen."
Schnelles Ende der DDR
Wie Schüler die letzten Tage der DDR Anfang Oktober 1990 erlebten und ob sie in der bevorstehenden Wiedervereinigung einen Grund zum Feiern sahen - das habe ich 14- und 15-Jährige an der Polytechnischen Oberschule Friedrich Ebert in Berlin-Mitte damals gefragt.
"Für jeden ist es nicht gerade ein Feiertag. Also, ich war gegen die Wiedervereinigung, weil ich fand, das wäre besser gewesen, wenn es DDR auch geblieben wäre." - "Ich war auch nicht so richtig für Wiedervereinigung, denn ich hätte auch lieber, dass die DDR ihren eigenen Weg geht, aber so – ist ja nichts mehr zu ändern." - "Ich bin nicht direkt gegen und nicht direkt für die Einheit, denn wenn man jetzt den Weg der DDR so betrachtet, hätte das gar nicht anders sein können, wir hätten uns ja nicht selber helfen können. Wir hatten ja nicht das Geld. Aber gegen Einheit spricht eigentlich wegen den sozialen Verhältnissen, die drüben gehen, also mit Arbeitslosigkeit und so." - "Jetzt werden ja auch die ganzen Mieten teurer. Ich hätte mich eher gefreut, wenn die Grenzen offen geblieben wären und man könnte mal rübergehen einkaufen oder ein bisschen verreisen." - "Wir fahren zu meiner Tante und feiern ein bisschen, denn meine Tante ist für die Einheit."
Schüler-Stimmen vom 2. Oktober 1990, als junge Reporterin haben sie mich berührt. Und mir schon damals signalisiert: So leicht würde nicht zusammenwachsen, was lange nicht zusammengehört hatte.