Dienstag, 23. April 2024

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30 Jahre Mauerfall
Grenzer-Stammtisch in Oberfranken

Als die Mauer gebaut wurde, war der Deutschlandfunk-Bayern-Korrespondent Michael Watzke noch nicht einmal geboren. Dennoch ist die Mauer und ihr Ende für ihn auf Ewig mit dem bayerischen Grenzschutzbeamten Otto Oeder verbunden: dem Mann, der als Zeichen der Versöhnung den ersten Grenzer-Stammtisch gründete.

Von Michael Watzke | 31.10.2019
Pioniere der Volksarmee der DDR beim Bau der Mauer durch die Ortschaft Mödlareuth. Rechts hinter dem Schlagbaum beobachtet ein Angehöriger des westdeutschen Grenzschutzes die Bauarbeiten an der innerdeutschen Grenze, die mitten durch den Ort führt.
Die Innderdeutsche Grenze trennte Deutschland in Ost und West (dpa)
Als Walther Ulbricht einst log: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten", da war ich noch gar nicht geboren. Als später Ronald Reagan forderterte: "Mr. Gorbatschow, tare down this wall", da bastelte ich Mauern aus Lego. Noch später, als Günter Schabowski stammelnd die Maueröffnung verkündete: "Das tritt -, nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich", da spielte ich Jugendfußball und zirkelte Bälle über Freistoß-Mauern.
Für Politik interessierte ich mich null. Mit der Mauer und ihrem Zusammenbrechen habe ich mich erst später befasst, als ich von NRW nach Bayern zog. Hier im Süden gab es, anders als im Westen, eine direkte Grenze zur DDR. Und in Oberfranken, ganz im Norden Bayerns, gibt es bis heute den Grenzer-Stammtisch und Otto Oeder.
Bekanntschaft mit einem ehemaligen bayerischen Grenzsoldaten
"Ich war schon am 10. November 1989 – da ist bei uns nachts um 1.45 Uhr, die Autobahn A9 Berlin-München aufgemacht worden."
Otto Oeder war damals bayerischer Grenzschutz-Beamter. Jahrzehntelang hatte er an der deutsch-deutschen – oder genauer: der thüringisch-bayerischen Grenze – patrouilliert. Manchmal konnte er drüben auf der anderen Seite der Saale, DDR-Wehrdienstleistende sehen. Junge Kerle, die zum Dienst an der Grenze abkommandiert waren.
"Da habe ich mir oft gedacht: Mensch, die sind gegenüber. Wir sind nachts in Rufweite durch die Wälder entlang der Grenze gelaufen. Oder die haben mit dem Fernglas rübergeguckt zu mir. Und wir konnten nicht zusammenkommen. Und da habe ich gesagt: Ich möchte, dass zusammenwächst, was zusammengehört. Und deswegen wäre das erste, dass man den Jungs die Hand reicht, die damals nicht zu uns rüberkonnten."
30 Jahre Mauerfall: Meine ganz persönliche Wende
30 Jahre Mauerfall: Meine ganz persönliche Wende (imago images / Winfried Rothermel)
Deutsche Einheit am Grenzer-Stammtisch
Also gründete Oeder schon bald nach dem Mauerfall den Grenzer-Stammtisch, einen monatlichen Treffpunkt von Grenzsoldaten aus Ost und West. Die setzen sich seitdem mal in Thüringen, mal in Bayern auf ein Bier zusammen. Und ratschen, wie man in Bayern sagt. Anfangs waren sie nur ein halbes Dutzend.
"Drei Grenzsoldaten von drüben – und drei aus dem Westen. Damit wir was miteinander erzählen und lachen konnten. Wir singen auch: das Grenzerlied, das Rennsteig-Lied. Und erzählen, was wir hier zusammen erlebt haben."
Ich habe diesen Grenzer-Stammtisch mehrmals als Journalist besucht und darüber berichtet. Ich habe die alten Männer interviewt und ihre Lieder aufgenommen. Zum Beispiel das Rennsteig-Lied mit einer extra gedichteten Mauerfall-Strophe:
"Diese Wege auf den Höhen darf ich wieder gehen, Freiheit ist errungen…"
"Bei uns am Grenzer-Stammtisch fühlt man, dass alles eins ist. Das ist zusammengewachsen, wie es sein soll. Aber es gibt immer noch Betonköpfe. Es fehlt hüben wie drüben schon noch ganz schön viel, damit zusammenwächst, was zusammengehört."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Der ehemalige Grenzsoldat Otto Oeder aus Oberfranken (Deutschlandradio (Michael Watzke))
Wie das mit dem Zusammenwachsen geht, das kann man bei Otto Oeder daheim erleben. Hinten im Garten seines kleinen Reihenhauses steht im wahrsten Wortsinn ein Komposthaufen der Geschichte. Dort nutzt Oeder den alten, deutsch-deutschen Grenzzaun zur Humus-Erzeugung. ER hat die Barrikaden aus Edelstahl mit dem Seitenschneider abgeknipst und um die Holzumrandung des Komposthaufens gebaut.
"Diesen Zaun verwende ich für friedliche Zwecke. Für meinen Komposthaufen. Da sind die Bienen drauf und die Hummeln, ganz friedlich. Das berührt mich immer wieder, wenn ich im Garten bin, dass dieser Zaun Menschen getrennt und gequält hat. Jetzt erfüllt er friedliche Zwecke. Und er rostet nicht, das ist der Vorteil!"
Naturidyll statt Selbstschussanlagen
Otto Oeder hat Schwerter zu Pflugscharen gemacht. Vor 30 Jahren half er mit, ein Loch in den Grenzzaun zu schneiden. Damit sich Thüringer und Bayern an den Ufern der Saale umarmen konnten.
Vor zwei Jahren hat der quirlige Rentner Otto Oeder eine Rede gehalten – bei der Hochzeit seines Sohnes. In Dresden. Denn Oeders Schwiegertochter ist eine Sächsin. Kennengelernt hat sie Oeders Sohn in München. Oeder konnte sich ein Augenzwinkern nicht verkneifen.
"Da hab ich schon gesagt: 'Liebe Hochzeitsgäste. Dieses Fest heute wäre nicht möglich, wenn ich nicht gewesen wäre. Weil ich hab‘ hier die Grenze aufgemacht!‘"
Die Hochzeits-Gesellschaft hat damals herzhaft gelacht. Und auch ich muss jedes Mal schmunzeln, wenn ich Otto Oeder besuche und seine Geschichten am Grenzer-Stammtisch höre. Die Mauer und ihr Ende sind für mich immer mit Otto Oeder verbunden.
"Dass wir zusammengehören - das ist doch das Allerwichtigste!"