Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

30 Jahre Wiedervereinigung
"Einen Austausch am Leben zu erhalten, ist Aufgabe der Gesellschaft"

Die Schriftstellerin Heike Geißler wurde 1977 in der ehemaligen DDR in Riesa geboren. Es gehe ihr in ihren Büchern und ihrem Leben um Forderungen, die nicht nur individuell und konsumorientiert sind, sondern die Verbesserungen für Gesellschaften bringen, sagte die Autorin im Dlf.

Heike Geißler im Gespräch mit Miriam Zeh | 13.09.2020
Die Schriftstellerin Heike Geißler
Um unzumutbare Arbeitsverhältnisse, die Menschen nicht respektieren, geht es in Heike Geißlers Buch "Saisonarbeit" (Adrian Sauer)
Zahlreiche Diskurse haben die Gesellschaftsbildung der deutschen Einheit über 30 Jahre in Ost und West begleitet, kontrovers diskutiert, auch skeptisch hinterfragt - alle fünf Jahre ergab sich dadurch ein neues Bild über das Zusammenwachsen. Was sehen wir heute? "Essay und Diskurs" führt Gespräche zu Einheits- und Zukunftsfragen mit Literatur-, Kulinarik-, Popkultur- und Wende-Menschen.

Die Ost-West-Rolle - eine Gesprächsreihe in sechs Teilen

Miriam Zeh: Heike Geißler wurde 1977 im sächsischen Riesa geboren, wuchs in Karl-Marx-Stadt auf und sie steht auch als renommierte Autorin und Übersetzerin in vielfacher Verbindung zu ihrem Heimatbundesland Sachsen und zu dessen Mitbürger und Mitbürgerinnen. Heike Geißler war für eine Nacht zwar nicht die Königin von Deutschland, aber inoffizielle sächsische Ministerpräsidentin und Innenministerin, sie sagte den Sächsinnen und Sachsen bereits nach den Landtagswahlen im Osten 2018: 'Ich habe die Nase voll von Verschwörungstheorien' und sie trug bei der Wiedervereinigung vor 30 Jahren einen dunkelblauen Anorak, leider lange bevor der US-amerikanische Essayist Mark Reiff Blau zur wahren Farbe der Seelenfreiheit erklärte und zum Ausdruck eines Widerwillens gegenüber der Konformität. Um das alles und um noch viel mehr geht es jetzt, um alles nämlich, was für Sie, Heike Geißler, die Wiedervereinigung bedeutet. Und vielleicht fangen wir ja mit dem dunkelblauen Anorak an. Frau Geißler, als die Mauer fiel, waren Sie ein schüchternes, zwölfjähriges Mädchen im dunkelblauen Anorak, so beschreiben Sie sich zumindest selbst in einem Artikel für den britischen "Observer" aus dem letzten Jahr. Und dieses zwölfjährige Mädchen hat sich geschämt dafür, aus der DDR zu kommen. Warum?
Heike Geißler: Ich glaube, es war erst einmal meine Angewohnheit, mich zu genieren, zu schämen. Das ist etwas, was mir über meine Mutter sozusagen mit nicht so viel Muttermilch, aber mit dem Milchpulver mitgegeben wurde. Und ich habe das Leben in der DDR sowie aber letztendlich eigentlich alle Dinge, die mich und mein Aufwachsen betrafen, offensichtlich als defizitär betrachtet. Vielleicht ist es auch ganz naheliegend, wenn alle Zeit die Bewunderung auf beispielsweise die Westautos gerichtet ist, die einen auf der Autobahn überholen, oder die Fixierung auf das Westgeld, das man dann zu verwandeln hatte, um in diesem Intershop einkaufen zu können. Also, da hat natürlich so eine Prägung stattgefunden, die einen ganz glorreichen Fokus auf Produkte, auf eine andere Herkunft gerichtet hat. Ich hatte den Eindruck, da irgendwie ganz defizitär unterwegs zu sein, eine Farbverpuffung sozusagen. Man kommt in eine Welt, und die ist bunt und die sagt die ganze Zeit, ich bin schöner, ich bin lauter, ich bin knallig. Und ich persönlich bin sehr affin, es gibt andere Leute, die ruhen in sich und können mit einem dunkelblauen Anorak, bevor er modern wurde, auch durch eine neonfarbene Welt gehen, ohne sich zu genieren. Ich konnte das nicht.
"Konsum ist wie ein Alkoholrausch"
Zeh: Sie haben sich dann aber von ihrem ersten Westgeld, von ihrer ersten D-Mark, einen neonfarbenen Rucksack gekauft.
Geißler: Ja, er hatte drei Neonfarben, mittlerweile gibt es ja da noch mehr, und er ging auch sehr schnell kaputt. Natürlich hilft das für den Moment, das ist etwas, was ich lange Jahre auch versucht habe zu verstehen, aber mittlerweile endlich mal verstanden habe. Konsum kann kurz irgendwas ausrichten, es ist wie ein Alkoholrausch sozusagen, der einen kurz beglückt. Aber danach benötigt man entweder mehr oder die nächste Stimulanz. Und natürlich brauchte ich dann weitere Produkte, das ist ja ganz klar. Im Westen hat das nicht funktioniert, einen Rucksack zu kaufen, hat mich erfreut als dieses letztendlich ja doch recht kleine Mädchen, recht junger Mensch, der ich da war. Zurück im Osten war er bunt genug, um mich aufzuwerten und einen irgendwie … vielleicht zu einem Insassen dieser zeitgenössischen Welt zu machen, die sich da so sehr veränderte. Und für mich am sichtbarsten im Bereich der Konsumwelt, weil ich da so eine relativ spezielle Fixierung habe, ja, hatte.
Zeh: Dieses Mädchen, über das wir jetzt gesprochen haben, das ist in Chemnitz aufgewachsen, vor und nachdem es Karl-Marx-Stadt hieß. War die Politik, auch die Politik der Wiedervereinigung, war das etwas, was dieses Mädchen interessiert hat?
Geißler: Gute Frage. Ich nehme an, ja. Nur eben, was habe ich davon wahrgenommen? Gespräche der letzten Jahre haben mir gezeigt, dass ich natürlich beispielsweise eine ganz andere Erfahrung der damaligen Zeit habe als mein Mann, der teilweise Kontakt zu Bürgerrechtlern und Bürgerrechtlerinnen hatte, das alles hatte ich nicht. Ich nehme an, mich hat tatsächlich die Oberfläche der Politik, das, was vielleicht in der Tagesschau kam, betroffen und interessiert. Und am ehesten habe ich mitgefiebert bei all diesen Dingen, die mein direktes Leben betroffen haben und natürlich auch das Leben meiner Eltern. Und da gab es recht schnell Veränderungen wie Kurzarbeit oder Umstrukturierungen an Arbeitsplätzen. Die Schulen natürlich wurden verändert, das alles weniger abstrakt und intellektuell als wahnsinnig konkret: Auf welche Schule komme ich, welche Perspektiven habe ich. Und mich hat relativ plakativ schon noch diese Öffnung der Welt interessiert – irgendwie als Versprechen. Der Weg vom Plattenbau-Kinderzimmer, das ja nur ein halbes Zimmer war, in meinem Fall zumindest, zum "Bravo"-Starschnitt, also, wie könnte ich das schaffen? Das war sozusagen, was mich interessiert hat. Und Politik hat mich, fürchte ich, glaube ich, eben tatsächlich nicht so interessiert, wie sie mich jetzt interessiert. Jetzt bin ich damit beschäftigt, diese Texte auszugraben, diese Zeitdokumente zu lesen und nicht unbedingt zu schürfen, aber Gegenden, quasi historische Gegenden, Landschaften zu erkunden, die aus Archiven kamen, die man in ganz vielen Büchern auch findet. Und das ist für mich bereichernd und, glaube ich, setzt mich auch noch mal zusammen. Also, die damalige Zeit war durchaus geprägt eher von fast sowas wie archaischen Gelüsten nach so etwas wie Madonna, Weltruhm, und alles besitzen, der Kaufrausch.
"Warum sind manche Jobs wirklich schrecklich?"
Zeh: Wenn Sie jetzt retrospektiv auf diesen Weg schauen vom zwölfjährigen Mädchen im dunkelblauen Anorak. Es ist dann nicht der "Bravo"-Starschnitt geworden, aber doch eine andere, beachtliche Karriere zu einer international angesehenen Schriftstellerin. Besonders, wenn ich an Ihren zuletzt erschienenen Roman "Saisonarbeit" denke, 2014 bei "Spector Books" in Leipzig erschienen, und er stieß dann vier Jahre später in der englischen Übersetzung von Katy Derbyshire auf eine sehr große Resonanz auch in den USA, erschien dann in dem renommierten, links-intellektuellen Verlag "Semiotexte". Hat irgendwann dieser Erfolg, auch diese internationale Anerkennung als Autorin, als Übersetzerin, hat Sie das dann irgendwann von dieser Scham befreit? Gab es irgendeine biographische Stufe in Ihrer Karriere, wo Sie dachten, jetzt sehe ich aber meine Herkunft aus der DDR noch mal aus einer anderen und nicht defizitären Perspektive?
Geißler: Ich glaube, am deutlichsten war es erst mal so etwas wie ein Schamgefühl, belassen wir es beim Beispiel, sozusagen des Schamgefühls, permanentes Defizit, den Mangel, das Manko irgendwie zu empfinden und sich als die Dümmste im Raum, die Unfähigste, also diese negativen Superlative. Das ermüdet, und irgendwann hat mir auch doch Betrachten der Welt gezeigt, eventuell bin ich es nicht, und sei es drum, anderen geht es eigentlich ganz oft genauso. Wir alle treten an mit Defiziten und was soll es, wir sind ja nicht auf der Welt, damit alles gelingt, sondern vielleicht irgendwie als Betrachterinnen und Betrachter von Geschehnissen und um Erfahrungen zu machen und auch zu stolpern und uns gegenseitig aufzuhelfen und so weiter. Das ist ein bisschen pathetisch, aber das, glaube ich, ist irgendwann meine Einstellung geworden. Und natürlich bin ich ja mittlerweile auch Mutter und ich sehe, das trägt sich weiter. Ich will nicht eine sich permanent schämende Mutter sein, für eine Herkunft, vielleicht auch nicht so viel zu besitzen. Wir sind durchaus in Kontexten unterwegs, in denen Leute einiges besitzen und was soll es? Ich will das nicht ausgleichen, ich will es nicht überdecken, ich will sagen: Ja, ist so, aber wie können wir anders auf die Welt blicken, wie können wir Forderungen stellen, die nicht nur individuelle, konsumorientierte Forderungen sind, sondern Forderungen, die Verbesserungen für letztendlich Gesellschaften oder, noch größer formuliert, die Welt bringen, das Miteinander, solidarisches Miteinander, ein wirkliches Miteinander. Und das hat sich verändert, definitiv. Sicherlich hat es damit zu tun, dass ich Bestätigung erfahren habe für die Dinge, die ich tue. Das Buch "Saisonarbeit" war schwer erkämpft, da musste ich sehr mit mir ringen, um herauszuschälen, worum es eigentlich geht. Warum sind bestimmte Jobs, bestimmte Lebensweisen wirklich schrecklich, und nicht nur, dass man vielleicht zu zart dafür ist oder zu schwach oder kein Interesse daran hätte, sondern warum sind Zustände, die Menschen nicht respektvoll behandeln und letztendlich tendenziell eher als Maschinen denn als Menschen, nicht zu vertreten, selbst wenn es das Individuum aushalten kann. Aber aushalten ist eben nicht unbedingt die Perspektive, um die es geht.
Päckchen und Pakete laufen in der Halle der neuen Zustellbasis des Postzustellers Deutsche Post DHL in Norderstedt (Schleswig-Holstein) auf einem Band. 
"Saisonarbeit": Im Bauch von Amazon
Das Buch "Saisonarbeit" der Leipziger Autorin Heike Geißler ist ein radikal subjektiver, doch hoch politischen Erfahrungsbericht über ihre Zeit beim weltgrößten Online-Versandhandel.
"Literarische Zäsur durch die Wende"
Zeh: Wenn Sie retrospektiv darüber nachdenken würden, was Ihnen geholfen hätte, so etwas wie Sozialscham zu überwinden. Sie haben im Vorgespräch den französischen Soziologen Didier Eribon erwähnt mit seinem autobiographischen Essay "Rückkehr nach Reims", 2016 war die deutsche Übersetzung von Tobias Haberkorn ja ein enormer Erfolg gewesen in Deutschland, und ich glaube auch, weil dieses Genre der Intellektuellenbiographie bei uns, ganz anders als in Frankreich, gar keine Tradition hat oder nicht so eine lange Tradition hat. Didier Eribon schildert in diesem Buch, "Rückkehr nach Reims", eben seinen Aufstieg als homosexueller Sohn aus dem Arbeitermilieu dieser nordfranzösischen Kleinstadt Reims ins Pariser Intellektuellenmilieu. Wären solche Erzählungen für Sie eine Unterstützung gewesen, um so eine öffentliche Diskussion über soziale Herkunft anzustoßen, sei es jetzt eine ostdeutsche Herkunft oder es kann ja auch eine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie sein.
Geißler: Die habe ich ja beide. Ich weiß es nicht, ich glaube, die Frage danach, was hilft oder was hätte geholfen, die kann ich überhaupt nicht beantworten. Ich würde sagen, all diese Texte gibt es, bestimmt waren sie auch schon vor dem Jahr 2016 verfügbar. Und ich weiß, ich habe Texte dieser Art in meiner Kindheit gelesen, also, ich bin mit einer Kinderliteratur groß geworden, die ganz viel meiner Wirklichkeit, meiner damaligen Wirklichkeit gespiegelt hat. Das sind sehr spannende Texte, die ich jetzt auch im Vorfeld unseres Treffens noch mal konsultiert habe, und ich merkte, da passiert auch ganz viel, wenn ich die lese. Es gab eine Unterbrechung, es gab einfach eine literarische Zäsur durch die Wende, ich habe andere Dinge gelesen, ich habe plötzlich Groschenromane gelesen, "Bianca", ich habe "Bravo", "Bravo Girl" gelesen, all diese Dinge. Ich habe vielleicht auch "Trotzkopf" gelesen, aber da kamen ganz andere Erzählungen auch über das Aufwachsen von jungen Frauen, Mädchen, das Gehen in die Welt an mich heran. Und ich glaube, ich war nicht bereit, also, ich habe tatsächlich Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" jetzt erst gelesen. Ich konnte das vorher nicht, weil es mir zu viel erzählt. Da gibt es ein Territorium, ein zeitlich abgestecktes Territorium in meiner Vergangenheit, das auch die Zeit der Wende und die Nachwendezeit umspannt, das ich eigentlich nicht kenne und aus unterschiedlichen, mir noch gar nicht bekannten Gründen auch noch nicht betreten kann. Aber mir helfen eben Schlüssel, wie sie Eribon liefert, oder Erklärungen, die für mich einiges klar machen. Was bedeutet es, wenn ich zum Beispiel, ich komme aus einem Arbeiterhaushalt, das war für mich in der DDR die totale Normalität. Aber dann wechsele ich, ich beginne zu studieren und merke, da kommen Wörter, die sind für meine Eltern vielleicht unverständlich. Also, man entfernt sich, man hat andere Interessen. Und ich glaube, damit bin ich nie bewusst umgegangen, weil ich kein Beispiel hatte dafür, wie man damit umgeht und dass das passiert. Und ich bin die Einzige in dieser Familie, die studiert hat und die jetzt vielleicht ein Leben als Schriftstellerin führt. Dass das irgendwie auch für Konflikte sorgt und Lücken und Abbrüche, das war mir nicht bewusst. Ich habe es sozusagen bemerkt, aber nie die Notwendigkeit verspürt, daraus eine Problembeschreibung zu entwickeln, ein Problem, mit dem man umgehen könnte. Und dann kommt natürlich irgendwie schon auch noch die Zäsur, die durch die Wendejahre geschehen ist. Also, wenn man sich vorstellt, ich war damals zwölf, mein Vater war, glaube ich, 38, 39, jünger als ich jetzt. Und in diesem Alter weiß man, zumindest damals hatte man eine extrem deutliche Perspektive davon, wie das Leben abläuft, sofern man nicht irgendwie den außergewöhnlichsten und vielleicht regimekritischsten Weg schon mal eingeschlagen hat. Und plötzlich kommt ein Wandel in das Leben und es kommt ganz viel, was man nicht in der Hand hat. Und ich als Jugendliche fand das verheißungsvoll und habe niemals das Regulierende, das auch Einengende, das über einen Hinwegfegende mitbekommen. Am Rande natürlich schon, ganze Fabriken werden für eine Mark verkauft, ja, diese Anekdoten kommen dann noch, aber was an emotionalem Aufwand dazugehört, sich in so einer Zeit zurechtzufinden als erwachsener Mensch mit der Verantwortung für immerhin ein Kind, für die Aufrechterhaltung des Lebensunterhaltes, die Perspektive. Ich glaube, das kann man schon noch als Katastrophe beschreiben, wenngleich es natürlich dadurch auch positive Veränderungen gab.
Pegida hat "Vorurteilen eine Professionalisierung" gegeben
Zeh: Sie haben das schon angesprochen, diese Entwicklung, diese politische Entwicklung, die Sie auch selber durchgemacht haben, von so einer individualistischen Perspektive zu einer gesellschaftlichen zu kommen. Etwas ganz Ähnliches macht Didier Eribon ja auch in "Rückkehr nach Reims", in Frankreich ist das schon 2009 übrigens erschienen, und zwar verknüpft er seinen Lebensbericht auch mit einer Analyse des aufkeimenden Rechtspopulismus in Frankreich. Und zwar sieht Eribon große Teile der Arbeiterschaft, und dazu gehört eben auch zum Beispiel seine eigene Mutter als Fabrikarbeiterin, von der kommunistischen Partei enttäuscht. Und anstatt diese ehemalige kommunistische Frontstellung von Arbeiterinnen und Arbeitern versus Bourgeois, sich damit zu identifizieren, wurde also so ein Identifikationspotenzial ersetzt von rechtsextremen Parteien wie dem Front National, die eben Französinnen und Franzosen gegen Ausländer aufspielen. Ist das eine Analyse, die Sie zumindest in Teilen auf Deutschland übertragbar sehen?
Geißler: Vermutlich schon. Was er ja auch sagt, ist, dass so etwas wie die Ausländerfeindlichkeit oder eine Skepsis Leuten aus anderen Ländern gegenüber auch davor schon war, also bevor diese rechten Parteien so stark wurden, gab es das auch, nur gab es eben nicht die Plattform dafür, sondern die Leute waren links oder haben links gewählt, hatten aber ihre Vorbehalte. Und das lässt sich eindeutig auf Deutschland übertragen. Ich finde, das anschaulichste Beispiel für mich aus der Gegenwart ist nach wie vor eigentlich Pegida, wenn man daran denkt, wie haben sie angefangen und sie nennen sich patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes, fast ist es schon ein bisschen vergessen, aber natürlich leider nicht. Und das ist ja auch die Erfolgsgeschichte einer Angst, die installiert wird, die erfunden wird und die benannt wird. Viele Leute hatten eben plötzlich Angst vor der Islamisierung des Abendlandes. Vorher hatten sie was anderes, da hatten sie vielleicht noch konkretere Vorwürfe, Vorurteile. Vorurteile gibt es natürlich en masse, aber plötzlich hat es eben eine Richtung erhalten und dadurch auch eine Professionalisierung. Ich habe Angst vor der Islamisierung, das konnte man dann deutlicher hören, auch in O-Tönen im Fernsehen, eben auch in der mich umgebenden Welt. Und ich wurde ja tatsächlich irgendwie Schriftstellerin und werde das auch immer mehr und kriege immer mehr Lust auf Fiktion. Und die Frage ist ja schon, was kann ich dem entgegensetzen. Ich komme ja nicht gegen die an, bedauerlicherweise ist das nicht so einfach, nicht mit der Geduld, die ich habe, und die ist klein, aber ich persönlich muss mich immer wieder gegen diese Überschreibungen zur Wehr setzen, die in mir ja auch stattfinden, und kann das mit Fiktion, so halte ich es in mir drin. Aber ich halte das eben, was Eribon da vorschlägt, oder seine Analyse für vollkommen auch auf Deutschland übertragbar, ja, ganz klar.
Diskurs aufrechtzuerhalten "ist Aufgabe der Gesellschaft"
Zeh: Sie haben, Frau Geißler, einen Großteil Ihres Lebens in Sachsen verbracht. Heute wohnen Sie in Leipzig und Sie äußern sich ja auch immer wieder politisch zur Lage in diesem Bundesland. Es gab ja in den letzten fünf Jahren so einen Wandel in Ihrer Haltung oder in Ihrer Ansprache an Ihre Mitbürger. Ich habe es schon erwähnt, am Morgen des 10. August 2015 ging eine nächtliche Videoaufnahme von Ihnen auf Facebook online, es war der Sommer, in dem viele Geflüchtete in Deutschland Asyl gefunden hatten. Und es war auch der Sommer, in dem sich vor allem in Sachsen oder auch in Sachsen der Fremdenhass entladen hatte – in Freital, in Heidenau, Clausnitz hatten Menschen protestiert vor Asylunterkünften, Anschläge verübt auf Flüchtlingsheime. Und Sie erklärten sich nun in diesem Video frei nach Rio Reiser zur sächsischen Ministerpräsidentin und Innenministerin und Sie halten eine kurze Videoansprache an ihre Mitbürger. Und da hören wir mal kurz rein:
Geißler Videoansprache: Liebe Sächsinnen und Sachsen, ich bin ein Mensch. Auch Sie, liebe Sächsinnen und Sachsen, sind Menschen. Außerdem sind alle, die Sie kennen, und alle, die Sie nicht kennen, Menschen. Auch jene, die manche von Ihnen, liebe Sächsinnen und Sachsen, nicht kennenlernen oder sehen oder wahrhaben wollen, sind Menschen. Das dürfen Sie nicht vergessen.
Zeh: War das eine inoffizielle Antrittsrede als Ministerpräsidentin, die Menschen überzeugen sollte, die im Sommer 2015 in Freital, Heidenau, Clausnitz demonstriert hatten?
Geißler: Erst mal, das muss ich der Vollständigkeit halber dazusagen, ich lege nach wie vor auch Wert darauf, ich war durchaus auch Ministerpräsident und Innenminister, also ich wollte das Komplettpaket. Das Problem ist, dass ich jetzt viel deutlicher sehe, das wissen die ja, dass das Menschen sind, das wissen wir alle. Aber das eigentliche Problem ist ja, das ist denen scheißegal. Also denen, den Menschen, die attackieren, die diffamieren, die angreifen, die voller Feindseligkeit und Hass sind und die Gründe, wie ich meine, eben durchaus falsch verorten. Aber was mich damals wirklich extrem bestürzt hat, war, dass der damalige Ministerpräsident Sachsens Tillich und auch der Innenminister, das war Ulbig, die haben geschwiegen. Und zwar … Ich weiß nicht wie lange, aber sie haben lange geschwiegen, viel zu lange. Und ganz konkret der Auslöser, das zu machen oder letztendlich dann zu sagen, waren die Angriffe auf die Heime, auf die Unterkünfte in Dresden vor allem. Es gibt schreckliche Bilder, und ich merke auch, wenn ich mich daran erinnere, dass es mich nach wie vor sprachlos macht, was mich auch fast ein bisschen überrascht, weil ich immer davon ausgehe, ich habe mich längst daran gewöhnt und habe mich daran gewöhnt, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken und das von europäischer Politik letztendlich ja gewollt wird, so eingerichtet wird, dass Menschen … dass an Grenzen geschossen wird, wir hatten das in Griechenland, Türkei und so weiter, das ist Gegenwart. Diese Gewöhnung hat einerseits stattgefunden, und doch bleibt Erschütterbarkeit. Und mich hat das damals, muss ich sagen, schockiert und eben sprachlos gemacht, was da geschieht. Ich kann nach wie vor natürlich und werde nie Verständnis für diese Entwicklungen haben – bei aller Bereitschaft, auch über individuelle Biografien Beteiligter zu erfahren, zu reden, auch zu erfragen. Aber das ist schon falsch relativiert an dieser Stelle. Und dieses Gefühl der Ohnmacht ist dann für niemanden angenehm, es führt aber in meinem Fall natürlich dazu, dass ich auch nicht mehr schreiben kann, dass ich Dinge nicht in Worte fassen kann. Und letztendlich, diese Rede war weniger der Versuch, Menschen anzusprechen, als überhaupt leben zu können, schreiben zu können. Darum ging es. Das hat ja dann erst mal geklappt, aber auch nicht sehr nachhaltig. Und was erreicht man damit, ich weiß es nicht. Natürlich habe ich auch ein paar schriftliche Anfeindungen bekommen, die nicht besonders erfreulich waren. Ich habe auch viel Lob dafür bekommen und einfach tatsächlich sehr viel Aufmerksamkeit. Aber verändert habe ich ja nichts dadurch.
Zeh: Sie schreiben dann drei Jahre später in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung": Nach den Landtagswahlen in Sachsen 2018, wo also fast jeder und jede Dritte die AfD gewählt hat, da schreiben Sie, wenn Sie noch einmal die Sächsinnen und Sachsen adressieren würden, dann würden Sie Ihnen sagen, Zitat, fuck you, ich habe die Nase voll von Menschenfeindlichkeit, Intoleranz und Angst. Und weiter im Text heißt es, grundsätzlich will ich nicht mehr mit Rechten reden. Was war da in der Zwischenzeit passiert?
Geißler: Gute Frage, was da passiert war. Als Pediga, Legida begann, haben viele gesagt, mit denen rede ich nicht. Und ich habe immer gesagt, wir müssen das machen, das ist total wichtig. Da stecken ja viele Ostbiografien oder Themen dahinter, die nicht aufgearbeitet sind und die angeschaut werden müssen. Jeder hat irgendwie einen Platz auf dieser Welt, auch mit seinen Erzählungen. Und irgendwann, glaube ich, ist mir klargeworden, ich glaube, ich bin die, die zuhört, aber mir wird nicht zugehört eigentlich. Das ist so ein bisschen eine komplizierte Situation, weil ich natürlich … ich kann ein Buch schreiben und wenn ich Glück habe, wird es veröffentlicht. Ich kann bloggen, das können natürlich aber auch alle. Also, ja, ich habe eine gewisse Aufmerksamkeit, die muss ich mir auch relativ umständlich erarbeiten, aber mein Grundgefühl war irgendwann, das ist eine so einseitige Sache. Oder nimmt man diese Bezeichnung, die besorgten Bürger, ich habe sehr dafür plädiert zu sagen, ja, ich bin besorgter oder ich bin die Besorgteste. Auch ich muss stattfinden, meine Sorgen müssen stattfinden in diesem Diskurs, auch die Sorgen meinesgleichen und auch die anderer Leute, wir können uns nicht nur um die sogenannten besorgten Bürgerinnen und Bürgern, auch da gehören ja Frauen dazu, kümmern. Und die Gefahr von rechts, mittlerweile scheint das ja irgendwie auch durchgedrungen zu sein in Regierungskreise hinein, dass wir schon seit Jahren, Jahrzehnten eine letztendlich Unterwanderung durch rechte Gruppierungen hier haben. Und das zu negieren jahrelang, hat mich frustriert, und wie das alles schwappt in die Selbstverständlichkeit und die Selbstgewissheit dieser Leute. Ich muss einschränkend sagen, ich bin total bereit, dass alle mit allen sprechen, und das darf man auch nicht aufgeben. Aber einen Diskurs, einen Austausch am Leben zu erhalten, das kann nicht unbedingt nur meine Aufgabe sein, sondern dafür braucht es eben die Gesellschaft, dafür braucht es Strukturen der Länder und des Staates, die heißen Bildung, die heißen Jugendtreff, die heißen Spielplätze, Skaterbahnen, die heißen: Kümmert euch doch alle umeinander und gebt Geld dafür aus! Aber ich persönlich ziehe stärkere Grenzen, sobald das für mich erkennbar wird, dass es in eine antisemitische Richtung geht, sage ich Stopp, sobald es homophob wird, sobald behauptet wird, keine Ahnung, Homosexualität ist nicht normal, sobald behauptet wird, die deutsche Familie muss irgendwie aus Vater, Mutter, Kind, Kind, Kind bestehen. Da bin ich natürlich auch eine Vertreterin, aber nein, so ist es nicht. Die Welt ist komplexer und das ist sehr überfordernd, aber das ist auch gar nicht so eine schlechte Sache, dass sie komplex ist. Und Unterkomplexität hat einen zu hohen Preis, den mag ich nicht mehr tragen, den mag ich auch nicht mehr hören. Ich habe so viel Zeit darauf verschwendet, Text aus meinem Kopf zu fegen, der eben beispielsweise Relativierung von Verbrechen ist, Relativierung von auch vielleicht Geldverteilung, Relativierung von unumstößlichen Wahrheiten und Gewissheiten. Und ich habe auch schon so viele Verschwörungstheorien aus meinem Kopf gefegt, das dauert zu lange, so viel Zeit habe ich nicht.
"Ich möchte mich treiben lassen"
Zeh: Was ist denn für Sie heute noch ein Medium, in dem solche Dialoge stattfinden können? Ist Literatur noch etwas, wo das stattfindet, oder sind es eher diese Orte, die Sie gerade erwähnt haben, Jugendtreff, das eigene Wohnviertel vielleicht auch. Sie haben erzählt, Sie wohnen in Leipzig in einem Viertel, das gerade gentrifiziert wird, und es gibt auf der einen Seite diese kernsanierten Altbauten mit den wenigen skandinavischen Möbeln drin und auf der anderen Seite die Alteingesessenen im unsanierten Haus.
Geißler: Ich glaube, die Orte sind überall, und ich habe auch mich da entschieden, dass ich mit meinem Beruf, der eben durchaus ungewöhnliche Arbeitszeiten bietet, manchmal lasse ich mich draußen treiben und komme ab von meinen Vorhaben, das sind Ausnahmen. Und ich will für diese Ausnahmen irgendwie Zeit haben, ich möchte mich treiben lassen, ich will mich auch in Gespräche treiben lassen, in Begegnungen. Ich will neugierig sein und da immer wieder vielleicht mit einem frischen Blick täglich, einmal durchgeschüttelt nach draußen gehen und gucken wie so ein Hund, rumschnüffeln, wer ist denn noch hier und Hallo, wer bist denn du? Also, diese Perspektive, die mag ich total und die will ich mir auch nicht nehmen lassen, auf die lege ich Wert. Ich möchte neugierig rausgehen und ich möchte diese Neugierde und Abenteuerlust auch vorleben. Und dann ergeben sich Begegnungen und kleine Gespräche, die gibt es überall. Und manchmal werden sie ausführlicher. Was jetzt sozusagen Orte angeht, die ich nicht erschaffe, die ich teilweise auch dann gar nicht besuche, da gibt es ja teilweise schon noch sehr funktionierende Strukturen, auch in Sachsen. Aber da muss man sich natürlich darum kümmern, teilweise durch Privatinitiativen, teilweise aber auch dadurch, dass man politischen Druck ausübt, um Mittel verfügbar zu machen, dass diese Orte weiter existieren können. Bedauerlicherweise ist eben durch Bemühungen der AfD, gibt es regelmäßig Orte, die von der Schließung bedroht sind, wo man also funktionierende Jugendarbeit, die dann unter dem Verdacht steht, zu links zu sein oder so, unterbindet – und das ist tendenziell total gefährlich. Nicht nur, weil die Rechten da reinkommen, sondern weil man einfach Menschen auch aus ganz sinnvollen Beschäftigungen und Gefügen zieht, weil man die Unterstellung äußert, sie seien linksextrem.
"Ich bin sehr gehorsam, aber ich habe gute Ideen"
Zeh: Wir haben jetzt am Anfang unseres Gesprächs über diese Herkunftsscham gesprochen oder darüber, wie die Wiedervereinigung Biografien geprägt hat. Ist das etwas, dieser Teil Ihrer Biografie, was Ihre Erziehung in irgendeiner Form prägt oder was Ihre Kinder irgendwie mitnehmen? Oder ist diese Scham von Ihnen dann sozusagen mit der nächsten Generation überwunden und haben Ihre Kinder da möglicherweise gar nicht mehr so viel mit zu tun?
Geißler: Ich bin erst vor Kurzem tatsächlich dazu gekommen, mir darüber Gedanken zu machen, was ich übernommen habe von meiner Mutter und von deren Mutter, also da sind es hauptsächlich die Mütter, glaube ich, die da sehr prägend waren, dann wurde mir klar, Moment, auch ich habe ja einen Einfluss. Und was ich am deutlichsten beobachte ist so etwas wie: Ich möchte keine Probleme machen, ich möchte nicht stören. Ich bin tatsächlich mit so viel Disziplin groß geworden, Aufforderungen zu Disziplin, mit so viel Überwachung und mit so viel Geheimniskrämerei. Auch die Geheimnisse sozusagen, ich komme aus Strukturen der Verheimlichung, politisch und persönlich. Und ich weiß nicht genau, was liegt mir davon noch inne und was trage ich weiter. Da sind viele Dinge, die muss ich mir noch genauer anschauen und momentan mache ich das. Ich versuche irgendwie, herauszufinden, wie ich damit, ohne überaufmerksam zu sein, bewusst umgehen kann, aber vor allem eben auch ein Bewusstsein erzeugen kann. If life gives you lemons, make lemonade.
Zeh: Ja, und ich glaube, wenn ich den Gehorsam, den Sie gerade so betont haben, ein bisschen spiegeln darf: Also, Sie haben immerhin ja auch gesagt, als wir uns darüber unterhalten haben, na ja, wir haben jetzt so und so viel Zeit, aber wenn wir länger brauchen, wenn wir noch mehr reden müssen, dann besetzen wir einfach das Funkhaus, das war zumindest Ihre Idee, also ...
Geißler: Ja, ich bin sehr gehorsam, aber ich habe gute Ideen. Aber wir werden es wahrscheinlich nicht machen.
Zeh: Wahrscheinlich nicht, zumindest nicht heute, wir sind nämlich leider schon am Ende unseres Gesprächs.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.