Freitag, 19. April 2024

Archiv

30 Jahre Wiedervereinigung
Neues Erzählen von der DDR

30 Jahre nach der Wiedervereinigung gehen Autorinnen und Filmemacher neue Wege, um von der DDR zu erzählen - jenseits der Klischees von Täter, Mitläufer und Opfer. Können ein neuer Blick und eine spezifisch ostdeutsche Perspektive auf die Geschichte dabei helfen, die tiefgreifenden Unterschiede zwischen Ost und West zu überwinden?

Gesprächsleitung: Wolfgang Schiller | 20.09.2020
Mary Fulbrook, Laila Stieler, Johannes Nichelmann, Jakobine Motz, Dörte Fiedler, Ulrike Bajohr und Wolfgang Schiller (vlnr.) während einer Diskussion über das Erzählen über die DDR
Noch immer gibt es Unterschiede zwischen Ost und West (Deutschlandradio / Hajo Drees)
In Politik, Justiz, Verwaltung und Wirtschaft sind Menschen mit ostdeutscher Biographie in den Spitzenpositionen stark unterrepräsentiert. Viele Menschen aus dem Osten fühlen sich benachteiligt und zurückgesetzt. Ein Teil dieses Gefühls rührt aus der Entwertung ihrer Biographien, die viele Menschen in den Jahren nach der Wende erfahren haben.
Wie könnte man ein differenziertes Bild der DDR zeichnen, das diesen Erfahrungen und Leistungen gerecht wird, ohne die DDR zu verklären, oder die verbrecherischen und gewalttätigen Seiten des Regimes zu verharmlosen? Und was könnten die erzählerischen Formen des Radios dazu beitragen?
Zu diesen Fragen diskutierten beim Kölner Kongress 2019 die Historikerin Mary Fulbrook (University College London), die Filmemacherinnen Laila Stieler ("Gundermann") und Jakobine Motz ("Adam und Evelyn"), sowie die Feature-Autor*innen Dörte Fiedler ("Neuland"), Ulrike Bajohr und Johannes Nichelmann ("Nachwendekinder"). Gesprächsleitung: Wolfgang Schiller
Zahlreiche Diskurse haben die Gesellschaftsbildung der deutschen Einheit über 30 Jahre in Ost und West begleitet, kontrovers diskutiert, auch skeptisch hinterfragt - alle fünf Jahre ergab sich dadurch ein neues Bild über das Zusammenwachsen. Was sehen wir heute? "Essay und Diskurs" führt Gespräche zu Einheits- und Zukunftsfragen mit Literatur-, Kulinarik-, Popkultur- und Wende-Menschen.

Die Ost-West-Rolle - eine Gesprächsreihe in sechs Teilen

Wolfgang Schiller: Der Sozialwissenschaftler Thomas Abel hat vor zehn Jahren die Darstellung der Ostdeutschen in deutschen Leitmedien untersucht, in der "FAZ", der "SZ", der "TAZ" und dem "Spiegel", und zwar einmal für den Zeitraum 1989/1990 und einmal für den Zeitraum um den fünften Jahrestag der Vereinigung herum, 1995. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich die meinungsführende Qualitätspresse schon damals bei der Darstellung der Ostdeutschen ausschließlich an westdeutschen Identitätsbedürfnissen orientiert hat. Jene Erfahrungen, Werte und Deutungsmuster der ostdeutschen Teilgruppe, die keine dieser Identitäten bestätigen, werden durch diese Diskursstruktur als falsch oder irrelevant dargestellt oder eben überhaupt nicht behandelt. Das führe dazu, dass sich die Ostdeutschen symbolisch desintegriert fühlten oder, anders gesagt, als Bürger zweiter Klasse sähen. Fast 30 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen und es scheint, dass sich daran nicht viel geändert hat - oder etwa doch? Ich fange mit Ihnen an, Ulrike Bajohr, Sie waren 1989 beim DDR-Rundfunk, bei DT64. Nach der Wende kamen Sie zum Deutschlandfunk. Aus Ihrer eigenen Erfahrung heraus: Inwieweit trifft diese Diagnose der Presse auch für das Radio zu?
Verzerrtes Bild in den Medien
Ulrike Bajohr: Es stimmt schon, dass man auch im Deutschlandfunk den Osten gesehen hat als eine Gesellschaft von Unterdrückten, die von einigen wenigen Funktionären regiert werden und später als eine Gesellschaft von entweder Dissidenten oder Stasi-Spitzeln, also verkürzt ausgedrückt. Natürlich, diese Grautöne dazwischen - am Anfang - hat man wenig gespürt.
Schiller: Laila Stieler, Sie waren kurz vor der Wende an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam, haben dort Drehbuch studiert, waren also gerade fertig mit dem Studium mit der Wende. Hatten Sie damals eigentlich das Bedürfnis, Geschichten von der DDR, über die DDR zu erzählen?
Laila Stieler: Also ich habe Dramaturgie, Filmwissenschaft studiert, Drehbuch gab es erst später, aber das habe ich mir dann erobert. Aber wir haben erzählt. Wir haben 1992 einen Film erzählt, Andi Dresen und ich, der hieß "Stilles Land", da ging es darum, wie an einem Provinztheater in Anklam die Wende erlebt wird oder auch nicht erlebt wird. Der Film kam in die Kinos, den wollte keiner sehen.
Schiller: Woran lag das, dass es keiner sehen wollte?
Stieler: Es brannte den Leuten, glaube ich, nicht auf den Nägeln, also die wollten andere Sachen sehen zu der Zeit. Ich tröste mich jetzt öfter damit, dass der Film … Ja, gut, ist ein Debütfilm. Ich habe ihn letztes Jahr mal wieder gesehen und da stehen mir immer die Haare zu Berge über die Dialoge. Aber davon abgesehen erlebt der Film jetzt sozusagen so was wie ein Revival, der wird jetzt hin und wieder mal gebracht. Also der hat jetzt mehr Zuschauer als damals, 1992.
Schiller: Jakobine Motz, Sie sind einen Jahrgang nach Laila Stieler an der Hochschule für Film und Fernsehen gewesen, haben dort Kamera studiert. Wie ging es Ihnen mit dem Bild von der DDR, was damals im Film oder auch in den Medien transportiert wurde?
Jakobine Motz: Also ganz konkret das Jahr 90, da wurde ein einziger Film produziert und fertig gestellt, und das war, glaube ich, auch der von Andi. Ansonsten brach das komplett ein, weil alle sehr mit sich zu tun hatten, mit der Neuorientierung, mit dem, wie man so sein Leben hinkriegt. Und ich glaube, dass das auch ein Grund ist, warum auch speziell Ostdeutsche gerade nicht solche Geschichten angeschaut haben, weil sie halt mit dem zu tun hatten, was da auf sie zukommt, und das war was ganz anderes. Und zurückzuschauen, da war in dem Moment vielleicht noch nicht der Zeitpunkt, also und so ging es mir auch.
Geschäftsleute mit Trolleys laufen über einen Gang 
Bezahlung von Frauen und Männern - Deutliche Unterschiede zwischen Ost und West
Der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen ist im Westen größer als im Osten, das geht aus einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. Im Osten sind zudem mehr Frauen in Führungspositionen. Ein Grund dafür ist, dass es im Osten mehr Betreuungsangebote für Kinder gibt.
Warum die Eltern sind wie sie sind
Schiller: Johannes Nichelmann, Sie sind 1989 geboren in Ostberlin, kurz vor dem Mauerfall, kennen die DDR also nur aus Erzählungen und den Medien. In einem Buchprojekt und für ein Radio-Feature beschäftigen Sie sich jetzt mit Menschen Ihresgleichen, mit Nachwendekindern. Inwiefern betrifft diese symbolische Desintegration, die ich genannt habe, auch Ihre Generation?
Johannes Nichelmann: Ja, wir sind ja quasi … Viele Leute sagen, auch die Soziologen, die sich damit beschäftigen, sind inzwischen so der Meinung, dass es quasi die Generation ist, die wie die Kinder von Einwanderern funktioniert, nicht in allen Facetten, natürlich haben Einwandererkinder noch mit vielen anderen Dingen zu tun, Diskriminierung, Angst vor Abschiebung und so weiter, aber trotzdem, dass ähnliche Mechanismen greifen, mit dem Unterschied, dass wir nicht mehr in das Land unserer Eltern reisen können zum Beispiel. Also ich habe einen jungen Mann aus Berlin getroffen, der einen Trabant fährt als seine kleine Zeitmaschine, weil er nicht mehr in das Land seiner Eltern fahren kann und sich aber so sehr wünscht, das einfach mal kennenzulernen und zu verstehen, warum seine Eltern sind, wie sie sind, und seine Großeltern so sind.
Schiller: Dörte Fiedler, Sie sind zehn Jahre älter als Johannes Nichelmann, darf ich verraten, in Leipzig aufgewachsen. Inwiefern deckt sich das Bild in den Medien von der DDR mit Ihren Kindheitserinnerungen und den Erzählungen der Eltern?
Dörte Fiedler: Ich glaube, das, was ich in den Medien kennengelernt habe, als ich am Aufwachsen war und das dann irgendwie abgeglichen habe mit mir selber, das habe ich überhaupt nicht unbedingt in Beziehung gesetzt, sondern es war halt alles irgendwie Erfahrungsgelände, in das man hineinschaut. Also es war eigentlich alles erst mal unbewertet. "Das Leben der Anderen", "Sonnenallee", diese klassischen, "Goodbye Lenin", diese Dinge, die so groß gehypt wurden, die durften alle sein und die waren irgendwie alle wahr, und dann hat man gemerkt, wo fühlen sich Leute damit nicht wohl oder wo haben sie das Gefühl, es ist irgendwas nicht richtig dargestellt, und es hat sich irgendwie erst langsam irgendwas herausgebildet, wo ich mir eine Meinung gebildet habe oder so.
Schiller: Mary Fulbrook, Sie haben sich immer wieder mit der deutsch-deutschen Geschichte beschäftigt, die sich in der Folge der nationalsozialistischen Diktatur entwickelt hat. Welchen Anteil hat die Geschichtswissenschaft an der möglicherweise doch sehr verkürzten Darstellung der DDR als SED-Unterdrückungsstaat versus ein Staat, in dem, ja, wie es Ulrike Bajohr beschrieben hat, es Spitzel und Opfer gab?
Zwei entgegengesetzte Strömungen der Geschichtswissenschaft
Mary Fulbrook: Nun, in der Geschichtswissenschaft gab es in den '90er- und frühen 2000er-Jahren zwei ganz entgegengesetzte Strömungen, einerseits SED-Staat, Unterdrückung, Stasi, Mauer, alles schlecht, auf der anderen Seite der Versuch, das ein bisschen komplexer zu beschreiben und zu untersuchen, die Sozialgeschichte ein bisschen mehr herauszuarbeiten. Und diese zwei Seiten kamen nicht miteinander zusammen. Wenn man die Leute wirklich zuhört, was für Stimmen es gibt, was für Meinungen, was für Erfahrungen, was die Leute sagen wollen, und das irgendwie zusammenzubringen, herauszubringen, ohne das alles widerzuspiegeln, als ob es wahr sei, das ist eine schwierige Frage. Oral history ist nicht die Geschichte der Vergangenheit, sie besteht aus den Geschichten, die Leute in einer späteren Gegenwart erzählen wollen über die Vergangenheit. Und das muss man so interpretieren. Also dieses Interplay ist ziemlich komplex.
Schiller: Ein Film wurde jetzt schon öfter genannt und er steht so ein bisschen wie ein weißer Elefant hier im Raum, weil er tatsächlich das Bild der DDR, glaube ich, von vielen Menschen prägt, "Das Leben der Anderen" aus dem Jahr 2006. Zumindest im Westen und vielleicht auch bei den Nachgeborenen im Osten ist der Film auf große Ablehnung gestoßen, und das ist etwas, was vielleicht auch im Westen nicht unbedingt bekannt ist, oder vielleicht, dass es jetzt so diskutiert wird. Ulrike Bajohr, warum wird der Film von Ostdeutschen so abgelehnt?
Bajohr: Das weiß ich nicht, ich kann nur für mich sprechen. Also ich habe dafür nur den Begriff "Wahrhaftigkeit", das ist eigentlich mehr ein Gefühl, als dass man es jetzt an einzelnen Szenen dokumentieren kann. Also ich glaube, dass ein Schriftsteller von dem Status des Helden in diesem Film nie in der DDR so behandelt worden wäre, weil dafür war er viel zu prominent. Und dann geht es auch um diese Figur der Schauspielerin, die da auf der Bühne dargestellt wird als eine, die immer nur irgendwelche Arbeiterinnenfiguren spielen muss. Dabei kann man aber auch denken an Stücke von Heiner Müller, wo auch Arbeiterinnenfiguren auf der Bühne standen, die etwas ganz anderes bedeuten. Es war mir einfach alles zu plakativ. Aber es ist mehr ein Gefühl. Also Wahrhaftigkeit ist etwas anderes als Wahrheit.
"Das einzige, was wir machen müssen, ist, gut zuhören"
Schiller: Dörte Fiedler, wie wichtig ist die Perspektive auf solche Geschichten? Also das ist jetzt ein Film, der ist von einem westdeutschen Regisseur und Autor erzählt worden. Wie wichtig ist es, dass solche Geschichten eben auch von Ostdeutschen erzählt werden?
Fiedler: Wir hatten es ja gerade schon in dem vorangegangenen Gespräch, als Ulrike Bajohr so ein bisschen ihren Werdegang erzählt hat, dass sie an einem bestimmten Punkt gesagt hat, sie ist mit dem Deutschlandfunk-Auto nach, weiß ich jetzt nicht mehr, ob es Dresden war, wie auch immer, sie ist jedenfalls in den Osten gefahren und hat den Leuten irgendwie gesagt, ich bin von hier, und hat sozusagen damit was geöffnet. Und das zieht immer noch, also das habe ich auch gemacht für meine Recherchen, obwohl das ja lächerlich ist, ich war zehn, elf, als die Mauer fiel. Aber trotzdem ist das ein entscheidender Zugangspunkt zu Leuten mit einer ostdeutschen Geschichte, selbst, wenn man nur diese Kindererfahrung hat.
Bajohr: Ich finde auch, Entschuldigung, ich finde auch, dass wir jetzt nicht von einem Extrem ins andere fallen sollten. Also nicht, dass sich jetzt die Diskussion dahingehend entwickelt, dass wir sagen, ostdeutsche Geschichten sollen nur von Ostdeutschen erzählt werden, denn wir wissen selber alle, dass die Erinnerungen uns trügen, dass wir bestimmte Bilder im Kopf haben, die wir gern erzählen möchten, wir möchten bestimmte Dinge rüberbringen. Und es ist ganz gut, wenn da ein Korrektiv dabei ist. Und das einzige, was wir machen müssen, ist, gut zuhören.
Stieler: Ja, hinzu kommt, dass wir die Geschichten auch erzählen müssen.
Bajohr: Ja.
Stieler: Also ich meine, das gehört zur Wahrheit dazu, dass wir es erst mal machen müssen als Ostdeutsche. Und ich glaube, das ist eine ganze Zeit lang gar nicht passiert, also jedenfalls im Film.
Bajohr: Ja.
Schiller: Johannes Nichelmann, Sie haben für das Projekt "Nachwendekinder" viele Nachwendekinder befragt.
Nichelmann: Ja.
Von der Angst, ständig als Versager dargestellt zu werden
Schiller: Welches Problem ist auch das Schweigen der Eltern oder vielleicht, dass eben nicht erzählt werden wollte?
Nichelmann: Es gibt da zwei Probleme. Das eine Problem ist, das viele Nachwendekinder, ich auch, haben, dass das quasi wie ein Einbrechen in die Biografie der Eltern ist, also ich hatte Angst, darüber mit meinen Eltern zu sprechen, weil ich die Befürchtung hatte, vielleicht könnte ich da irgendeine Wunde aufreißen, die noch relativ frisch ist, und andere sagen das auch. Einer hat gesagt, er kann nicht mit den Eltern darüber sprechen, ohne sich wie wirklich ein ganz, ganz, ganz schlimmer Mensch vorzukommen. Und ich habe mit seinen Eltern gesprochen, wirklich, das war vollkommen in Ordnung, mit denen darüber … Ich hatte nicht den Eindruck, dass die mich vom Hof gejagt haben, und meine Eltern mich dann übrigens auch nicht. Das ist das eine Problem. Und das andere Problem ist, dass auch meine Eltern zum Beispiel große Probleme hatten, wie ich das nachher einordne, weil sie wussten ja, ich frage sie jetzt nicht nur, weil ich jetzt so wahnsinnig interessiert bin, auf der einen Seite schon, aber weil ich auch ein Buch und ein Radio-Feature daraus machen möchte. Und mein Vater hat zu mir gesagt, er will, dass er danach noch einen Job hat. Also seine Angst war, wenn er irgendwas sagt, also zu viel von sich preisgibt, dann könnte er entlassen werden - was wahrscheinlich nicht der Fall sein wird, hoffen wir es. Und da ist immer noch … Also es ist eine große Sperre davor. Also eine Mutter hat angefangen zu weinen in meinen Interviews, weil sie das nicht mehr aushält, dass sie immer in ihrer Wahrnehmung als Versager dargestellt wird, und deswegen will sie gar nicht drüber sprechen, sie will auch keine Filme gucken, sie will gar nichts damit zu tun haben, nichts. Sie möchte nicht, dass ihre Biografie kaputt gemacht wird dadurch, dass ihr erzählt wird, wie ihre Biografie war, weil immer allgemeingültige Fragen gestellt werden. Das ist das nächste. Ich habe auch ganz kurz meinen Papa zuerst gefragt, Papa, was war denn die DDR? Da ist der fast aufgestanden, weil er nicht sagen kann, was die DDR war, er kann sagen, was die DDR für ihn war. Und das war schon mal der falsche door opener. Und da kann ich allen empfehlen, die ihre Eltern mal fragen wollen: Diese Frage nicht stellen.
Schiller: Sie haben alle, die Sie hier auf dem Podium sitzen, eine alternative Erzählung oder eine Geschichte aus der DDR, zur DDR angeboten jetzt in den letzten Jahren oder auch in letzter Zeit. Frau Fulbrook, Sie haben die DDR als partizipative Diktatur beschrieben. Was verstehen Sie darunter?
Fulbrook: Ja, das ist so, was man auf Englisch ein Oxymoron nennt, also Diktatur und Partizipation zur selben Zeit, wie kann das sein? Und mir ist aufgefallen, wie viele Menschen sich eingemischt haben, Stellungen genommen haben, Funktionen aufgenommen haben, was gemacht haben, damit sie sich selbst und die Gesellschaft weiterentwickeln konnten. Und das kam nicht sehr gut in Einklang mit Interpretationen, die nur Unterdrückung und Volk unten und Staat oben darstellten.
Schiller: Die Möglichkeiten, die man eben doch hatte in der DDR. Ulrike Bajohr, was können Sie mit diesem Begriff anfangen, inwiefern finden Sie sich mit Ihrer Biografie darin wieder?
Bajohr: Mir fiel jetzt gerade Gundermann ein, Gundermann ist ein exemplarisches Beispiel. Ich will jetzt nicht ablenken. Gundermann ist ein exemplarisches Beispiel, das war ein guter Sozialist, aber der wollte was verändern, ja. Und ich würde mich jetzt nicht als Widerstandskämpferin bezeichnen, sonst wäre ich da ja im DDR-Radio nicht geblieben, aber ich hatte ein grundsätzliches Einverständnis mit dem Staat und habe versucht, nach meinen Möglichkeiten nicht zu lügen, also das, was ich machen kann, zu machen, und das hieß, Leuten zuzuhören, das, was wir jetzt wieder einfordern, Leuten zuzuhören und denen zu versuchen, nicht die Phrasen zu entlocken. Ich möchte gerne noch was sagen, Johannes hat davon gesprochen, dass er sich nicht getraut hat, seine Eltern zu fragen. Meine Kinder sind älter als Johannes und die haben mich auch gefragt, und ich habe diese Situation genauso empfunden wie die Situation, in der ich war, als ich meinen Vater gefragt habe, was hast denn du eigentlich bei den Nazis gemacht? Und dann musste man … Nein, das ist doch nicht dieselbe Situation, aber irgendwie habe ich mich dann auch so gefühlt. Und dann hat man erst mal blockiert, nein, das ist doch nicht dasselbe. Aber so ganz kurz dieses Zusammenzucken gab es. Und dann konnte man auch miteinander reden und irgendwie sich verständigen.
Schiller: Laila Stieler, Sie sind die Drehbuchautorin des Films "Gundermann", der gerade angesprochen worden ist. Inwieweit ist das eine Situation, dieses Nicht-reden-Können oder eben dann doch ins Gespräch kommen, etwas, was auch für diesen Film ganz wichtig war?
Stieler: Na ja, wir wollten die DDR über eine Person erzählen, über eine konkrete Person, und zwar also vielleicht das Extrembeispiel eines Idealisten und Sozialisten, also jemand, der den Sozialismus so ernst genommen hat, dass ihn die sozialistische Einheitspartei gleich wieder rausgeschmissen hat, und zugleich eine Lebenswirklichkeit widerspiegeln, die wir kannten, also das Leben in der DDR als Widerspruch, als ein Dafür-Sein und Dagegen-Sein zugleich. Und das war etwas, was wir bisher nicht gesehen haben oder was ich, sagen wir mal, aus meinem filmischen und medialen Erleben so nicht kannte, dass also ein Widerspruch sozusagen bestehen bleiben durfte und nicht aufgelöst werden muss, also dass es einen geben kann, einen Menschen geben kann, der Täter und Opfer zugleich ist, der die DDR liebt und zugleich bekämpft und der sich da in dieser Haltung auch nicht bekehren lässt. Und das ist, glaube ich, auch das, was uns jetzt am Ende sozusagen als Reaktion wiederum entgegenschlägt, ja, dieses, endlich, genauso war es für uns auch. Also das ist zumindest das, was ich von vielen Zuschauern so erfahren habe.
Schiller: Frau Motz, aktuell ist auch Ihr Film "Adam und Evelyn" im Kino oder war im Kino, aber ich glaube, in manchen läuft er auch noch. Den haben Sie zusammen mit Andreas Goldstein realisiert. Darin spielt Politik, das Regime, die Stasi eigentlich kaum eine Rolle. Ist das eine Auslassung, die man einfach so mal machen kann?
Motz: Wir haben es getan. Nein, also unser Film, könnte man denken, wäre absolut unpolitisch, kommt ganz unpolitisch daher, ist es aber eigentlich gar nicht. Auch wenn wir eine Geschichte eines Paares erzählen, die hauptsächlich mit ihren privaten Beziehungsproblemen und dann eben auch Lebensumständen zu tun haben, aber die Fragen, die sie stellen, sind ja doch auch sehr politisch und darüber hinaus, also Lebens…
Schiller: Also die Frage, ob eine andere Perspektive damals möglich gewesen wäre, eine andere Entwicklung, ein anderes Gesellschaftsmodell?
Motz: Na ja, die … Ja, genau, das, also die Frage, wie möchte man leben, wie kann man leben, ist das, was man zurücklässt, … was bedeutet einem das? Wofür lohnt es sich, es zu verlassen? Ja, diese ganzen Fragen. Was ist letztendlich das Paradies?
Fest der Einheit am 2./3.10.1990 am Brandenburger Tor in Berlin
30 Jahre nach der Wiedervereinigung hat der Osten in vielen Bereichen aufgeholt - es gibt aber weiterhin noch Baustellen (dpa / imageBROKER / Manfred Vollmer)
Stereotyp: Das völlige Versagen der Wirtschaft
Schiller: Ein weiteres Stereotyp der DDR ist das völlige Versagen der Wirtschaft, der Zusammenbruch der Wirtschaft in den '80er-Jahren. Das führt zu dem Klischee, dass nichts, was in der DDR entwickelt und produziert wurde, im Nachhinein noch etwas wert ist. Frau Fiedler, in Ihrer Podcast-Serie "Neuland" haben Sie versucht, dem etwas entgegenzusetzen. Wie haben Sie versucht, ein anderes Bild von der Wirtschaft in der DDR zu zeichnen?
Fiedler: Indem ich die Leute, mit denen ich gesprochen habe, reden lassen habe. Das sind oft andere Seitenstrang-Dinge, wo man merkt, aus der damaligen Perspektive hat das Sinn gemacht, was sie da gemacht haben, und das ist natürlich trotzdem anzweifelbar und wurde auch angezweifelt innerhalb der DDR schon, dass sozusagen so viel Geld in die Mikroelektronik gesteckt wurde. Die Ingenieure lebten in dieser Blase, hatten dadurch bestimmte Privilegien, wie sie forschen konnten, weil sie mehr Geld zur Verfügung hatten, und haben was vorangetrieben, was ihrem Forschergeist entsprach. Also da waren Leute dabei, die ganz gezielt, ganz geschickt Strategen auch waren, die sich wussten einer bestimmten Sprache zu bedienen, um von den Funktionären Türen geöffnet zu bekommen, dass sie weiterforschen können. Und das hat natürlich einen Wert. Also es hatte damals einen Wert und es hat eigentlich auch danach einen Wert. Dass so bestimmten Produkten, die da entstanden sind, dann der Wert abgesprochen wurde, ist eine ganz andere Debatte. Das hat eben mit den Leuten an sich nicht so viel zu tun. Damit mussten sie sich dann eben nur auseinandersetzen, weil ihnen das gespiegelt wurde so.
Schiller: Johannes Nichelmann, man möchte meinen, für die Nachgeborenen ist die DDR eben untergegangen und allenfalls von historischem Interesse. Warum sind solche Geschichten, von der Mikroelektronik oder jetzt auch von Gundermann, warum sind die vielleicht auch jetzt erst für Ihre Generation wieder interessant und vielleicht auch von solcher Bedeutung?
Nichelmann: Ich glaube, dass alle Geschichten aus der DDR immer interessant waren, es gab nur solche Geschichten lange Zeit eben nicht. Also ich habe als Kind sowohl, glaube ich, jede zweite Guido-Knopp-Doku geschaut als auch alles andere, was über die DDR so da war. Und ganz schlimm war zum Beispiel 2003, vielleicht erinnern Sie sich, die Ostalgie‑Shows, was da los war. Das war ein Moment, wo ich dachte, um Gottes Willen, da kommen meine Eltern her, aus dem Disneyland vor der Pittiplatsch, das muss ganz, ganz schlimm gewesen sein. Und jetzt kommen eben solche Erzählungen, die das nicht ganz so drama… also so schlimm darstellen im Sinne von unfassbar, also jetzt wird es fassbar. Und jetzt sind die Geschichten da, jetzt können wir die auch mit konsumieren, vielen Dank!
Brandenburg, Potsdam: Dietmar Woidke (r, SPD), Bundesratspräsident und Ministerpräsident von Brandenburg, und Burkhard Exner (SPD), Bürgermeister von Potsdam, enthüllen auf dem Luisenplatz den Schriftzug "WIR".
30 Jahre Deutsche Einheit - Ostbeauftragter zieht gemischte Bilanz
30 Jahre nach der Wiedervereinigung hat der Osten in vielen Bereichen mit dem Westen gleichgezogen. Das wirtschaftliche Gefälle bleibt jedoch. Doch nicht nur deshalb fällt der Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, eher nüchtern aus.
"Wir bekommen jetzt ganz bestimmte Generationengeschichten"
Schiller: Es gibt eine Hoffnung, die mit dem neuen Erzählen von der DDR verbunden ist, dass dieses Gehört-Werden zu mehr Anerkennung, zu Repräsentation führt, dass die eingangs erwähnte symbolische Desintegration der Ostdeutschen überwunden werden kann, dass es ein gegenseitiges Gespräch gibt zwischen Ost und West auch darüber, dass das Verständnis gefördert wird. Ich möchte am Ende jetzt so alle noch mal fragen, ist das eine begründete Hoffnung, oder was bringt es wirklich, dieses neue Erzählen der DDR?
Nichelmann: Also ich glaube, es bringt ganz viel. was ich gemerkt habe, dass gerade die Generation meiner Eltern jetzt erst überhaupt Zeit hat, darüber nachzudenken, was ihnen eigentlich passiert ist, weil jetzt gehen sie so langsam aber sicher so Richtung Rente oder haben jetzt nach 30 Jahren sich so ein bisschen setteln können. Und die möchten, glaube ich, was ich so erfahren habe, einfach gerne mal gehört werden. Die möchten gerne ihre Geschichte erzählen, ohne dass jemand neben ihnen steht und sagt, falsch, falsch, richtig, falsch. Deswegen ist es, glaube ich, sehr, sehr wichtig für diese Leute, das zu erfahren, und es ist auch wichtig für meine Generation, um die DDR deswegen erfahrbarer haben zu können, um daraus auch Schlüsse ziehen zu können. Also jetzt können wir die Geschichte leider nicht weitererzählen, also meinen Kindern hätte ich bis vor Kurzem nicht gewusst, was ich denen jetzt noch über die DDR erzählen soll und was weitergetragen werden sollte.
Fulbrook: Ich glaube, es ist interessant, wenn man das vergleicht mit 1975, 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, und Ende der '70er-Jahre haben die Deutschen angefangen, erst dann, über die Erlebnisse in der Nazizeit zu sprechen. Das ist eine Generationensache. Das ist in den nachfolgenden Generationen einfacher, wenn es ein bisschen später zurück ist. Aber man muss dabei merken, dass die Älteren schon nicht mehr da sind. Sie fragen - wir bekommen jetzt ganz bestimmte Generationengeschichten. Ich meine, dieser Zeitabstand von 30 Jahren ist sehr interessant und sehr wichtig, und das sieht man auch bei the rise of oral history, also das Aufkommen von oral history in den '70er- und '80er-Jahren, wenn man dann Fragen an die Nazizeit gestellt hat, das war auch so. Und das hatte auch damit zu tun, dass man nicht mehr ganz so persönlich damit verbunden ist, emotional und in verschiedenen anderen Hinsichten und kann ein bisschen Distanz haben. Aber das heißt auch nicht, dass man dadurch wirklich herausfinden kann, wie ist es eigentlich gewesen? Das ist nicht möglich durch diese Art von Befragung.
Stieler: Ich denke, also zum Erzählen, ja, zum neuen Erzählen gehören ja zwei, es gehört ja einer, der erzählt, und einer, der zuhört, nicht? Also und das ist ja das Spannende für mich gerade im Moment, ja, dass wir nicht nur erzählen, sondern dass wir auch jetzt … Also ich meine, für mich zum Beispiel, in meinem Fall, 25 Jahre nach "Stilles Land" finden wir mit "Gundermann" plötzlich Zuhörer oder Zuschauer, die wir damals eben nicht hatten, also was ja doch bedeutet, dass eben in der Gesellschaft sich, sagen wir mal, Dinge aufgehäuft haben oder angebahnt haben, die das ermöglichen, dass wir anders erzählen können, weil ich erzähle ja nicht, wenn mir niemand zuhört, dann hat es ja keinen Sinn. Und ich will noch sagen, ich bin sehr gerührt, meine große Tochter ist 1988 geboren, dass ich jetzt hier als Elterngeneration sitze und finde das total toll, dass du dich auch als Ossi begreifst, sage ich mal, oder als ostdeutsch geboren oder als ostdeutsch gebürtig.
"Es ist eine Frage der Bereitschaft des Zuhörens"
Nichelmann: Ist ganz spannend, da gibt es auch eine Studie gerade drüber, ich glaube, jeder vierte Nachwende-Mensch aus Ostdeutschland identifiziert sich auch als ostdeutsch, nicht als deutsch, sondern als ostdeutsch.
Motz: Ich glaube, dass für mich zum Beispiel die Zeit nach der Wende gar nicht so wichtig war in der Auseinandersetzung mit dem DDR-Sein, aber auf eine andere Weise, weil ich mich … Bis dahin war ich natürlich Bürgerin der DDR, und dann war ich plötzlich was anderes, wovon ich noch nicht wusste, was das sein soll. Und ich habe mich, glaube ich, viel mehr damit beschäftigt, Mensch in dieser Welt zu sein, wie das ist, was das bedeutet, also gar nicht Deutsche zu sein, sondern im Grunde, was noch darüber Hinausweisendes. Dann habe ich gemerkt, wie deutsch ich bin, einfach, weil ich dann auch sehr lange weg war, und das war eine sehr wichtige Erfahrung, und da einfach dieses DDR und westdeutsch und so, das verlor sich komplett so in der Wichtigkeit. Insofern haben sich für mich persönlich diese Perspektiven auch mehrfach vielleicht so ein bisschen verändert, verschoben. Und zurück jetzt zu unserem Film, der ja ganz klar eine Perspektive von heute zurück auf die Zeit '89/'90 erzählt, und das ist auch ein Wagnis gewesen, in dieser Form diese Geschichte zu erzählen, und ich bin ganz überrascht auch und ganz glücklich, dass dieses Experiment, um es vielleicht mal so zu nennen, angenommen werden kann.
Fiedler: Ich würde ganz kurz noch was Kurzes ergänzen, weil ich finde auch, es ist eine Frage der Bereitschaft des Zuhörens, weil es gibt eigentlich, wenn man schaut, massenhaft schon erzählte DDR, also auch in fiktiver Ebene, in dokumentarischer Ebene, es gibt sehr, sehr viele unterschiedliche Arten von Texten, die eigentlich alle diese Gefühle, sage ich jetzt mal, schon versuchen, anzupacken. Und die sind vielleicht einfach aber nicht gehört oder gesehen worden. Und was ich jetzt merke, ist, dass nicht nur aus diesem neuen Ohr, was vielleicht da ist tatsächlich, mehr entsteht, mehr gemacht wird, von ehemaligen Ostdeutschen, von Ostdeutschen, wie auch immer, sondern dass es generell auch auf den ganzen Ostblock, sage ich mal, zutrifft, also dass es eine Unmenge an Büchern, an Literatur zum Beispiel gibt, die reinschwappt aus der Generation, aus unserer Generation irgendwie, sage ich mal so vereinnahmend, von Leuten, die aus Ex-Jugoslawien kommen oder die sozusagen eine Ostbiografie anderer Art haben und jetzt irgendwie in einer größeren Fülle plötzlich hereinschwemmen. Also das ist scheinbar auch eine Tendenz, die sich wirklich jetzt nicht nur zwischen … hier in Deutschland abspielt, sondern es gibt offensichtlich ein Bedürfnis, das zu hören oder so, also ein Interesse.
Schiller: Ulrike Bajohr, Sie hätten das Schlusswort.
Bajohr: Ja, ich will jetzt nicht wieder das Wort so an mich reißen, habe ich ja vorhin schon mal gemacht. Meine Frage ist jetzt nur, ob es auch an der AfD liegt, dass wir uns jetzt plötzlich alle so für die Ostdeutschen interessieren. Wäre ja ein Impuls, der jetzt vielleicht, wenn man von was Positivem von der AfD sprechen kann, vielleicht notwendig gewesen ist. Aber die Zeit ist reif. Und was die Fülle an Literatur betrifft, da könnten noch ein paar Facetten hinzukommen, glaube ich, weil die meisten Bücher, die geschrieben worden sind, die jetzt zumindest in Deutschland erschienen sind, soweit ich das überblicken kann, kommen aus Milieus, also aus Milieus von Leuten, die des Erzählens mächtig sind, aus Künstlermilieus, aus Funktionärsmilieus, aus Widerstandskämpfermilieus, die kommen jetzt nicht aus Arbeiter- und Bauermilieus. Das fehlt vielleicht noch, diese Facette.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(Whlg. v. 30.05.2019)