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30. Jahrestag des Bhopal-Unglücks
"Überall nur Vernachlässigung"

Mit Forderungen nach einer härteren Bestrafung der Verantwortlichen und höheren Schadenersatz für die Opfer haben Inder den 30. Jahrestag der Chemiekatastrophe von Bhopal begangen. Am 3. Dezember 1984 traten bei Wartungsarbeiten 40 Tonnen Methylisocyanat aus einem Tank aus - nach amtlichen Angaben starben bis heute 15.000 Menschen an der Vergiftung.

Von Jürgen Webermann, ARD-Hörfunkstudio Neu-Delhi | 03.12.2014
    Mitglieder einer Nichtregierungsorganisation halten Plakate und Kerzen während des 30.Jahrestages der Bhopal-Katastrophe.
    Mitglieder einer Nichtregierungsorganisation halten Plakate und Kerzen während des 30.Jahrestages der Bhopal-Katastrophe. (Jagadeesh Nv, dpa)
    Der kleine, grüne Dschungel liegt mitten in der Stadt. Ein rostfarbenes Stahlgerippe ragt aus den Büschen heraus. Auf dem Boden schimmern vereinzelt kleine, silbrige Flecken: Es sind Rückstände von Quecksilber. Dies war mal der Arbeitsplatz von TR Chouhan. Er war Techniker beim US-Chemiekonzern Union Carbide. Bis zum 3. Dezember 1984.
    "In der Nacht des Unglücks war ich zu Hause bei meiner Familie. Es war Mitternacht. Mein kleiner Sohn wachte auf, er weinte, seine Augen brannten. Dann juckten auch unsere Augen. Wir husteten. Es roch, als ob jemand Chilischoten verbrennen würde", berichtet Chouhan.
    "Wir sahen so viele Menschen sterben"
    Erst am anderen Morgen traute sich der Techniker zur Unglücksfabrik. "Wir sahen so viele Menschen sterben. Ich fragte meine Kollegen, was denn vor dem Unfall passiert sei. Sie sagten, sie hätten einige Leitungen ausgespült. Und das Wasser sei möglicherweise in einen Tank voller Chemikalien gelangt."
    In dem Tank befand sich Methylisocyanat, kurz: MIC. Der Stoff war ein Zwischenprodukt bei der Herstellung eines Insektenbekämpfungsmittels. Wenn es sich mit Wasser mischt, reagiert es sofort. So auch 1984. Es dauerte nur zwei Stunden, bis ein Überdruck entstand und sich mehr als 40 Tonnen MIC durch ein Ventil verflüchtigt hatten. Weite Teile Bhopals wurden zur Gaskammer, die Wolke erreichte 500.000 Menschen.
    Für DK Satpathy begann sofort ein Wettlauf gegen die Zeit. Satpathy war damals Pathologe in Bhopal. Ein Kollege von Satpathy fragte den Mediziner von Union Carbide: Sir, würden Sie uns bitte darüber aufklären, was genau geschehen ist? "Wir wussten ja nicht, was für eine Wolke das war", erzählt Satpathy. "Der Union Carbide-Mediziner meinte, wir sollten uns keine Sorgen machen. Es sei eine Substanz entwichen, die so wirke wie Tränengas. Aber dann starben die Menschen auf einmal, erst 20 bis 25, dann immer mehr. Mein Kollege fragte den Union-Carbide-Mediziner noch einmal: Sie haben gesagt, es sei Tränengas sein, aber hier sind Hunderte Tote! "Und der Union-Carbide-Mediziner flehte um Verständnis. Er rief: Ich bin auch Bürger dieser Stadt. Würde ich etwas über dieses Gas wissen, hätte ich es Ihnen gesagt!"
    Es ging um Beweise
    Was Satpathy in dem Chaos nicht ahnte: Union Carbide schien an Aufklärung kein Interesse zu haben. Nur wer genau wusste, wie die Gaswolke zusammengesetzt war, konnte einen direkten Zusammenhang zwischen dem Gas und den Todesopfern herstellen. Es ging also um Beweise - und darum, wie hoch die Entschädigungen ausfallen würden. "Wir haben bei unseren Autopsien festgestellt, dass das Blut der Leichen noch leuchtend rot war und nicht dunkel verfärbt. So etwas kommt bei Zyanid-Vergiftungen vor. Das heißt, da muss auch Zyanid in der Luft gewesen sein."
    Mit Zyanid töteten die Nazis in ihren Vernichtungslagern Millionen Menschen. Aber Zyanid in einer Fabrik mitten in einer Großstadt? Union Carbide aber weigerte sich, Details herauszugeben und verwies auf das Geschäftsgeheimnis. Und die Behörden weigerten sich, ein Gegengift für Zyanid bereit zu stellen. Warum, ist bis heute unklar. Erst vor wenigen Jahren kam eine offizielle Studie zu dem Schluss, dass Satpathy und seine Kollegen Recht hatten. Wie viele Menschen Satpathy mit dem Gegengift hätte retten können, das will er lieber nicht abschätzen.
    Vergiftung dauerte an
    Direkt hinter dem ehemaligen Werksgelände liegt ein Slum mit bunten Hütten. Auch Khamla wohnt hier, eine Frau um die 70. An 1984 erinnert sie sich noch ganz genau. "Als das Gas ausströmte, dachten wir, unsere Augen würden so brennen, weil da Chilidämpfe in der Luft sind. Unsere Augen, der Hals, die Nase, alles brannte. Dann sahen wir die Leute um ihr Leben rennen. Schaum tropfte mir vom Mund. Mein Ehemann und mein kleiner Junge lagen am anderen Tag unter Leichenbergen - man hielt sie auch für tot."
    Ihre Familie überlebte. Was Khamla aber lange nicht ahnte: Sie nahm auch nach der Katastrophe jeden Tag weiter Gift auf. Das Wasser, das die Bewohner mit der Hand aus dem Brunnen geholt haben, ist verseucht.
    "Es schmeckt richtig schlimm. Probieren Sie doch mal! Ich meine das nicht böse! Probieren Sie! Ich hab was davon hier."
    Der US-Konzern Union Carbide, der die Fabrik in Bhopal betrieb, hatte schon vor der Katastrophe den Giftmüll und die Rückstände seiner Chemikalien nicht ordentlich entsorgt. Ein großer Teil sickerte ins Erdreich und dann ins Grundwasser. Eine Umweltorganisation aus Neu Delhi wies inzwischen nach, dass das Grundwasser im Umkreis von drei Kilometern rund um das Fabrikgelände verseucht ist. Dort sterben mehr Neugeborene als in anderen Stadtteilen. Ob das Gas von 1984 daran schuld ist oder das Wasser, das ist unklar.
    Union Carbide und die heutige Konzernmutter Dow Chemical wollen für die Entsorgung des Giftsmülls bis heute nicht aufkommen. Und die Behörden in Bhopal brauchten bis zu diesem Sommer, um Khamla und die anderen Slumbewohner mit sicherem Wasser aus der Pipeline zu versorgen.
    Sicherheitssysteme waren ausgeschaltet
    Zurück auf dem ehemaligen Werksgelände. Wer in den früheren Kontrollraum will, muss sich durch Büsche schlagen. Ein Aufkleber prangt immer noch unter einer Reihe von Leuchtanzeigen: "Safety is everyone's business" steht darauf. "Sicherheit geht jeden etwas an." Chouhan wartet vor dem Kontrollstand. "1984 kamen internationale Journalisten und zeigten mir Dokumente. Das hat mich umgehauen. Man hat uns immer gesagt: Wir wenden hier genau die Technologie an, mit der wir in den USA seit 20 Jahren arbeiten."
    Aber die Dokumente hätten gezeigt, dass es hier andere Standards gab. Alle Sicherungssysteme seien in der Unglücksnacht ausgeschaltet gewesen, zum Teil aus Spargründen. Als die Gaswolke aus dem Überdruckventil trat, heulte nicht einmal die Alarmsirene, um die Bevölkerung zu warnen. "Die Ursache für die Katastrophe war totale Vernachlässigung. Überall nur Vernachlässigung. Und wir haben in einem so gefährlichen Werk gearbeitet", klagt Chouhan.
    470 Millionen US-Dollar für die Opfer
    Der Chemiekonzern Union Carbide wurde nie rechtlich belangt. In den USA verwies das Unternehmen darauf, dass indische Gerichte zuständig seien. In Indien behauptete der Konzern, dass die indische Tochterfirma eigenständig gewesen sei. 1989 entging der Konzern einem Prozess in Indien, indem er 470 Millionen US-Dollar an die Regierung in Neu-Delhi überwies - die ursprüngliche Forderung lag um ein Vielfaches höher.