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4.7.1954 - Vor 50 Jahren

Wir über tragen aus dem Wankdorf-Stadion in Bern das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn.

Von Hajo Steinert | 04.07.2004
    Gegen Ungarn. Ausgerechnet Ungarn. Das kann nicht gut gehen. Mit 3:8 schon im Gruppenspiel unter die Räder gekommen. Ungarn. Kein Spiel verloren. Vier Jahre lang. 32 Spiele hintereinander. Die erste Mannschaft, die sogar in England gewonnen hatte. 6:3. Jetzt ist Deutschland dran. Unser Reporter baut nach dem schnellen Rückstand schon mal vor:

    ...danken wir in jedem Fall, auch wenn wir verlieren sollten, unseren tapferen Jungens für diese großartige Leistung.

    Die Bescheidenheit hat bald ein Ende. Aus den tapferen Jungs werden die Helden von Bern. Schuld daran ist die 84. Minute.

    Boszik spurtet nach dem Ball, aber auch er hat nicht mehr die Kraft, die wir von ihm kennen. Er dribbelt jetzt am linken Flügel, wird von Schäfer gefault, Schäfer flankt...da ist Rahn, schießt: Tor, Tor!

    Wolfgang Hempel, der Reporter vom Rundfunk der DDR, ist nicht der Einzige im Stadion, der vor dem Tor ein Foul des deutschen Spielers gesehen hat. Was wäre gewesen, wenn der englische Schiedsrichter abgepfiffen und Freistoß für Ungarn gegeben hätte? Was wäre passiert, wenn zwei Bälle der Ungarn nicht gegen den Pfosten geprallt, sondern ins Netz geflogen wären? Was, wenn Kapitän Puskas - im Vorrundenspiel schwer von Liebrich gefault - nicht verletzt ins Spiel gegangen wäre und folglich nicht weit unter Form gespielt hätte? Was, wenn der Schiedsrichter nach Helmut Rahns 3:2 das dritte Tor der Ungarn gegeben und nicht auf Abseits entschieden ... War es überhaupt Abseits? Was, wenn die ungarischen Spieler nicht dauernd auf dem vom Regen matschigen Platz ausgerutscht wären und Fußballstiefel gehabt hätten wie die Deutschen, für die Adolf, genannt Adi, Dassler, gerade rechtzeitig den ersten Schraubstollen-Fußballschuh entwickelt hatte. Und was, wenn die Ungarn ausgeschlafen ins Finale gegangen wären, was sie nicht konnten, weil in der Nacht vor dem Endspiel vor ihrem Solothurner Hotel ein Volksfest über die Bühne ging, das sie von oben, ihren Balkonen aus miterleben mussten - in ihren Schlafanzügen. Die Deutschen hätten das Spiel nicht gewonnen, uns wäre das Jahrzehnte lange Heldengeschrei erspart geblieben, den Ungarn Schwermut und nationale Trauer, und ihrem Reporter ein ewiges Trauma.

    Die anderen haben geweint, "wir" waren "wieder wer", keine zehn Jahre nach Kriegsende.

    Das Absingen der ersten Strophe bei der Siegerehrung geriet zum Skandal. Alle schnappten sie über. Historiker begriffen den Sieg als Geburtstag der "Bundesrepublik". Biografen stellten Joseph Herberger auf eine Stufe mit Konrad Adenauer. Für DFB-Präsident Peco Bauwens war der Sieg ein Beleg für die "Repräsentanz besten Deutschtums im Ausland". Bundespräsident Theodor Heuss hatte alle Mühe, den neu entbrannten nationalen Eifer zu bremsen.

    Wir sind wegen des Sportes da, um die Weltmeister im Fußball zu ehren. Aus ihrem uns alle so erfreuenden Sieg haben manche Leute so etwas wie ein Politikum gemacht. Der gute Bauwens, dem ich nachher die Silbernadel geben werde, der meint offenbar, gutes Kicken ist schon gute Politik. Das muss nicht so sein.

    Aus sportlicher Sicht hätte man das alles verkraften können, wenn sich die Fußballkultur nach dem 3:2 in Deutschland weiterentwickelt hätte. Das Gegenteil war der Fall. Den Sieg über die Ungarn, die längst den Profifußball etabliert hatten, nahm der DFB zum Anlass, trotzig am Amateurstatus festzuhalten. Es setzte nach dem 4. Juli 1954 Niederlagen in Serie. 0:2 gegen Belgien, 1:3 gegen Frankreich, 1:3 gegen England, 2:3 gegen Russland. Sepp Herberger blieb im Amt. Er hielt an seinem längst überholten Spielsystem fest. Kein Wunder, auch die Spieler blieben die alten. Nibelungentreue. Außer Uwe Seeler gab es kaum nennenswerte Entdeckungen. Wäre man nicht als Titelverteidiger für das WM-Turnier 1958 in Schweden gesetzt worden, wer weiß, ob man die Qualifikation überhaupt geschafft hätte. Der Turniersieg 1954 kam nur dank glücklicher Fügungen und wunderbarer Zufälle zu Stande. So schön der Sieg für den Moment war - er trug dazu bei, dass der deutsche Fußball auf Jahre hinaus nur Rückschritte erlitt.