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5.4.1929 - Vor 75 Jahren

Ewiger Nobelpreiskandidat, "Meister aller Klassen", ein Berserker, Nestbeschmutzer, Gewissen der Nation – in solchen Schlagzeilen spiegelt sich Hugo Claus, der berühmteste Schriftsteller Belgiens, der – am 5. April 1929 in Brügge geboren – als Flame flämisch spricht und niederländisch schreibt. Ein Meister aller Klassen ist er in der Tat: Romancier, Lyriker, Theater- und Filmautor, Regisseur, früher auch Maler. Opulent, radikal realistisch und oft pessimistisch, beissend in seiner Kritik eines belgischen Provinzialismus, einer Kritik, die sich nicht scheut, auch ein Thema wie die Dutroux-Kinderschänderaffäre literarisch aufzuarbeiten – so kommt Hugo Claus' Werk daher, ein Oeuvre, das kaum noch zu überschauen ist, 150 Einzelveröffentlichungen hat neulich jemand gezählt, übersetzt in mehr als 20 Sprachen. In diesem Werk wird nichts schön geschrieben, sondern die Wirklichkeit prall und grell, manchmal auch bewusst obszön ausgeleuchtet. Sogar ein Thekenspruch kann Claus als Motto dienen:

Von Christian Linder | 05.04.2004
    Ich geb’s ja zu, es ist nicht gerade nett von uns, aber irgendwas muss man doch tun mit seinen Mitmenschen, ihn ärgern oder vögeln.

    Was ist der Mensch? Er ist

    aufgeblasen mit Sauers Helium, gewichtlos, fliehend, fliehend.

    Geflohen ist auch Hugo Claus oft in seinem Leben. Ein von Nonnen geleitetes Pensionat in Aalbeke überstand er, ohne sich sein inneres und äusseres Rebellentum züchtigen zu lassen. Studium in Gent, in der Bildhauerklasse der Kunstakademie und an der Schauspielschule. 1950 ist er in Paris und trifft Antonin Artaud und wird Mitglied der Künstlergruppe Cobra. Zu dem Zeitpunkt hat er aber auch schon zu schreiben begonnen, Lyrik vor allem – den lyrischen Impuls findet man später auch in seinen Romanen, zudem seinen zeichnerischen Impuls – als ob er seine Romane habe malen wollen. Einen "breughelschen Pinselstrich" hat die Kritik in seinem 1983 erschienenen Hauptwerk, dem Roman "Der Kummer von Flandern" gerühmt. Belgien, Flamen, 1939 bis 1947 – ein Kolossalgemälde dieser Zeit entwirft Claus darin, zeigt Abgründe wie Bigotterie, Korruption und Feigheit. Was ein Mensch ist? Ein Höllenbewohner, meint Claus, unfähig zur Kommunikation, zur wirklichen Liebe, fähig, in seinem Herzen jeden Verrat zu begehen. Düstere Alltagsbilder, psychologische Tragödien, vorgeführt in einer weiten, offenen Sprache, die die Totalität des Menschen und der Welt in den Blick zu nehmen versucht – "multiperspektivisch" nennt man solche Erzähltechnik. Wohin man schaut, überall nur "unvollendete Vergangenheit", wie der Titel eines Romans behauptet, jenes Romans, dem der ordinäre Thekenspruch als Motto vorangestellt ist. Das Leben läuft den Menschen aus dem Ruder. Die Welt ein Gefängnis, geprägt durch einen kleinbürgerlichen Terror, den jeder gegenüber jedem praktizieren kann

    "Mein abscheuliches Leben" - so unverblümt spricht Hugo Claus von sich selbst. Er weiss, wie es in einem Gedicht über Georg Büchner heisst:

    Wer verwundet ist, spricht keine Verse. / Er beisst auf eine Katze zwischen den Zähnen, / die Katze gefriert, seine Zähne auch.

    Eine alte Vorstellung nährt die Energien in Hugo Claus' Schreiben, die Vorstellung, Schreiben heiße Gerichtstag über sich und die anderen zu halten. Er selber sei der "Kummer von Flandern", war deshalb ein ständiges Klagelied seiner Grossmutter. Trost, versöhnende Blicke? Doch, auch solche Blicke finden sich.

    Der Mensch muss wissen, dass er bloss der Schatten eines Sandkorns auf dem Strand von Blankenberge ist – aber was für ein Schatten!