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50 Jahre kubanische Revolution

Vor 50 Jahren fand unter Fidel Castro die Revolution in Kuba statt. Aus diesem Anlass startet eine dreiteilige Serie, in der in Gesprächen mit Schriftstellern eine kritische Bilanz gezogen und nach den Zukunftsperspektiven Kubas gefragt werden soll. Im ersten nun folgenden Gespräch unterhält sich Peter B. Schumann mit dem Verleger Pio Serrano.

Peter B. Schumann im Gespräch mit dem Verleger Pio Serrano | 28.12.2008
    Schumann: Pio Serrano, Sie waren am 1. Januar 1959 ein 17-jähriger Jugendlicher, der kurz vor seinem Abitur stand und sich bereits an Manifestationen gegen die Diktatur Batista beteiligt hatte. Was bedeutete für Sie damals der Sieg der Revolution?

    Serrano: Es war eher ein biologisches als ein ideologisches Bedürfnis für diesen Jugendlichen, an diesem Umbruch teilzunehmen, an dem alte Werte durch neue ersetzt wurden. Es war ein Glück für mich, dass meine biologische Entwicklung mit den Umwälzungen durch die Revolution, mit den Kräften der Erneuerung zusammenfiel. Wenn ich heute, 2008, kurz vor dem Jahrestag ohne Zorn darauf zurückblicke, dann muss ich anerkennen, dass es sogar ein Privileg war, jene Zeit der Revolution erlebt zu haben. Wenn es etwas außerordentlich Befriedigendes in meinem Leben gab, dann waren es jene ersten Jahre voller Hoffnung und Enthusiasmus.

    Schumann: Wodurch entstand dieser Enthusiasmus?

    Serrano: Durch die Gewalttaten des Polizeiapparats des Batista-Regimes. Die Gewalt wuchs ständig und mit ihr die Ablehnung des Diktators bei der Bevölkerung. Sie sehnte sich nach Veränderung, nach einer Rückkehr zu den besten Werten der republikanischen Zeit Kubas. Der Widerstand gegen Batista erstreckte sich bald über die ganze Insel. Ich erlebte nur den bürgerlichen Widerstand in den Städten, vor allem in Havanna, wo es täglich Tote gab, Sabotageakte, Angriffe auf Botschaften und Kasernen. Dieser Kampf einer Art von Stadtguerrilla fand seinen Niederschlag bei den Guerrilleros in den Bergen und erzeugte diese Begeisterung für die Veränderung.

    Schumann: Es gab also nicht nur die bekannte Guerrilla-Front in der Sierra Maestra, angeführt von Fidel Castro, sondern auch eine zweite städtische Front, von der in der offiziellen Geschichtsschreibung sehr viel weniger berichtet wird, die aber doch wohl ganz wesentlich zum Sieg der Revolution beigetragen hat.

    Serrano: Das Regime hat immer sehr viel Erfolg mit seinen Inszenierungen gehabt. Die erste Inszenierung war die Karawane Fidel Castros nach Havanna, die er Anfang Januar begonnen und erst 10 oder 12 Tage später beendet hat. Er zog in einem langsamen Triumphzug quer durch die Insel und kam wie ein Befreiungsengel, wie ein Messias in Havanna an. Die Stadt war aber längst in den frühen Morgenstunden des 1. Januars vom bürgerlichen Widerstand erobert worden. Dann fing in Havanna die große Inszenierung vom Sieg der Revolution an. Das war genial: der erste Akt einer langen Serie von glänzend inszenierten Selbstdarstellungen der Revolution. Sie ist, glaube ich, die erste Revolution des 20. Jahrhunderts, der es gelang, sich mit Hilfe der Massenmedien, vor allem des Fernsehens, zu etablieren.

    Schumann: Die erste Hälfte der 60er Jahre ist als die große, die 'heroische Zeit' der Revolution ins allgemeine Bewusstsein eingegangen. Wie müssen wir uns diese Jahre heute vorstellen?

    Serrano: Die inzwischen historischen Ereignisse verliefen mit schwindelerregender Geschwindigkeit. An einem Tag wurden die großen nordamerikanischen Industrien verstaatlicht. Am nächsten die Zentralbank. Plötzlich kosteten die Verkehrsmittel so gut wie nichts mehr, die Elektrizität kaum noch etwas. Die Mietshäuser wurden enteignet, die Mieten sanken auf 10 Prozent des Lohns. Es war atemberaubend wie unser Enthusiasmus: der Reichtum wurde verteilt, der sich bis dahin in ausländischen Händen oder im Besitz von schrecklich reichen Kubanern befunden hatte. Endlich konnten wir alle an diesem Reichtum teilhaben, den wir als Reichtum des ganzen Volks betrachteten. Und die Ergebnisse dieser Maßnahmen waren - anders als heute - sofort greifbar. Wir zehrten damals noch von den staatlichen Ressourcen, die wir von der Diktatur Batista geerbt hatten.

    Schumann: Offiziell wird aber das Kuba unter Batista immer als ein ausgelaugtes, verarmtes Land beschrieben.

    Serrano: Batista war ein mächtiger, typisch lateinamerikanischer Diktator, der ein reiches Land hinterlassen hat. Gerade waren 8 Millionen Tonnen Zucker geerntet worden, die höchste 'Zafra' in der Geschichte Kubas, noch im Jahr 1958. Davon profitierte die Revolution. Wir konnten gut und ungezwungen leben, denn alles war preiswert geworden: die Mieten, das Telefon, der Transport. Wir lebten wie in einem Rausch. Havanna galt als das Paris von Hemingway. Es ging nicht gerade heroisch, wohl aber spielerisch zu. Und es gab nichts, was diese strahlenden, schwindelerregenden Jahre trüben konnte. Wir kamen gar nicht mehr dazu, darüber nachzudenken. Es gab keine Objektivität. Wir lebten in der Subjektivität der Begeisterung.

    Schumann: Aber es gab doch auch Konflikte, gerade unter den Intellektuellen und mit den Intellektuellen. Nicht umsonst traf sich Fidel Castro 1961 in der Nationalbibliothek mit Künstlern und Schriftstellern, um mit ihnen über die Folgen des Verbots von PM, eines an sich harmlosen Kubanischen Dokumentarfilms, zu reden. Und danach verkündete er als Dogma: "Innerhalb der Revolution alles, außerhalb nichts."

    Serrano: Natürlich gab es auch beunruhigende Zeichen wie dieses Treffen in der Nationalbibliothek. Aber sofort danach wurde die UNEAC, der Schriftsteller- und Künstler-Verband gegründet, die zwei Zeitschriften publizieren und einen Verlag gründen sollte. Die UNEAC galt als Stärkung, nicht als Beschränkung der Intellektuellen, als eine freie Vereinigung zur Unterstützung der Schriftsteller.

    Schumann: War die UNEAC nicht auch ein Kontrollorgan wie die anderen damals gegründeten Institutionen: das berühmte Filminstitut ICAIC oder das nicht minder bedeutende Institut der Verbindung zu Lateinamerika, CASA DE LAS AMERICAS?

    Serrano: Damals begann auch eine Syndikalisierung der Literatur: sie bekam einen offiziellen Charakter. Der Schriftsteller, der etwas werden wollte, brauchte ihren Ausweis. Trotzdem waren das so etwas wie Flitterwochen zwischen der Revolution und den Intellektuellen. Die genannten Institutionen dienten später auch dazu, die Revolution auf möglichst totale Weise in der Gesellschaft zu verankern ... Jeder Staat hat solche Institutionen. Aber normalerweise stehen sie jedermann offen, haben vor allem keine repressive Funktion.

    Schumann: Trotzdem kann man doch wohl sagen, dass die erste Hälfte der 60er Jahre noch sehr stark von Experimenten in der bildenden Kunst, im Film, im Theater, in der Literatur geprägt war. Und dass es auch heftige Auseinandersetzungen zwischen den Bürgerlich-Liberalen und der revolutionär-orthodoxen Richtung gab. Aber 1965 kam es dann zum Bruch. Wieso?

    Serrano: Damals kristallisierte sich die bald vorherrschende Ideologie heraus. Sie wurde getragen von den aus der Mittelschicht stammenden Anführern der Revolution, die vom Denken dieser Klasse geprägt waren: ihrer Orientierung nach Spanien, die also nur einen sehr begrenzten Kulturbegriff und eine große Abneigung gegen Homosexuellen besaßen, überhaupt gegen alles, was ihren Werten fremd war. Hinzu kam der wachsende Einfluss der Armee auf die Kultur, und nicht zu vergessen jenes Teils der Kommunistischen Partei, der jegliche liberale Tendenz verabscheute wie die Beatniks, über die wir gern schrieben, die neue deutsche Literatur, die neue spanische Poesie oder die Avantgarde in der Kunst und im Film.

    Schumann: Und das drückte sich in Polemiken aus, die einerseits in offiziellen Zeitungen wie Granma oder Verde Olivo, dem Organ der Armee, erschienen und andererseits in Zeitschriften wie dem liberalen Blatt Lunes de Revolución oder El Puente, der Zeitschrift der jungen Kubanischen Poeten, wo Sie, Herr Serrano, als Redakteur arbeiteten. Was für Folgen hatten solche Konfrontationen?

    Serrano: Die Redaktion von El Puente spaltete man dadurch, dass man ihren Herausgeber der Homosexualität bezichtigte und ästhetischer Tendenzen, die wohl diesen 'heroischen' Zeiten nicht angemessen waren. Gleichzeitig wurden jene Studenten von der Universität verstoßen, die sog. Schwächen aufwiesen, also Homosexuelle waren oder noch schlimmer: nur weil sie so aussahen. Es kam zu richtigen Razzien in der einzigen Hochschule. Viele wurden zur Umerziehung in die sog. UMAPS geschickt, in die 'Militärischen Einheiten zur Unterstützung der sozialistischen Produktion'.

    Schumann: Wie ist denn das zu begreifen, dass eine Revolution, die den 'neuen Menschen' schaffen will, andere Menschen, die ihr nicht passen, in Arbeitslager sperrt?

    Serrano: Meines Erachtens hängt das mit der schon erwähnten Ideologie der Anführer aus der konservativen Mittelschicht zusammen und ihrem karibischem Machismus, der sie für diesen Schwulenhass empfänglich machte. Paradoxerweise waren einige führende Mitglieder der Revolution bekannte Homosexuelle. Vielleicht war ja diese ganze Kampagne bloß die Laune eines der obersten Kommandanten, aber wir alle haben sie geduldet. Das war das Furchtbare daran. Denn diese Lager haben jahrelang existiert, und es wurden dort nicht nur Homosexuelle verwahrt, sondern auch gläubige Katholiken oder Vertreter von Afro-kubanischen Religionen, die heute zum exotischen Teil des Tourismus gehören. Kardinal Jaime Ortega war dort und der Sänger Pablo Milanes.

    Schumann: Das heißt: die Einheit der Intellektuellen, die sich anfangs für diese Revolution begeistern ließen, zerbrach Mitte der 60er Jahre. Ein Teil wanderte aus, andere wurden eingesperrt oder schwiegen eingeschüchtert.

    Serrano: Damals erschien die politische Polizei des Innenministeriums immer häufiger auf der Bildfläche. Wir lebten sehr bald in einer Gesellschaft, in der wir zwar alle Genossen waren, aber in der es Genossen gab, mit denen man besser nicht verkehrte. Der Schriftsteller Lisandro Otero hat diese Zeit zwei Jahrzehnte später sehr treffend in einer venezolanischen Tageszeitung "die Ausübung der Selbstzensur" genannt. In Kuba brauchte man keine Zensur, denn wir alle kannten unsere Grenzen ganz genau. Wenn jemand auch nur oberflächlich diese Grenzen zu überschreiten versuchte wie Heberto Padilla in seinem Gedichtband Außerhalb des Spiels, dann fiel der gesamte Machtapparat über ihn her, um ein Exempel dessen zu statuieren, was man nicht tun durfte.

    Schumann: Das war 1968. Heberto Padilla war für dieses Buch mit dem Lyrikpreis des Schriftsteller-Verbandes ausgezeichnet worden, obwohl er kurz zuvor bereits in Ungnade gefallen war. Warum?

    Serrano: Er hatte das ungeschriebene Gesetz verletzt, nach dem über Autoren, die Kuba verlassen hatten, nicht geschrieben werden durfte. Denn er hatte Tres Tristes Tigres, den neuen Roman von Guillermo Cabrera Infante, im Caimán Barbudo gerühmt und den offiziell hoch geschätzten Roman von Lisandro Otero dagegen heftig kritisiert. Daraufhin wurde die gesamte Redaktion entlassen.

    Schumann: Der Fall Padilla zog sich noch bis 1971 hin. Der Autor war aus allen offiziellen Funktionen entlassen worden und hielt sich mit Übersetzungen über Wasser. Dennoch wuchs sein Einfluss, vor allem unter den Jugendlichen. Und das war wohl der Anlass, weshalb er dann aus dem Verkehr gezogen und ins Gefängnis gesperrt wurde.

    Serrano: Er war einer der angenehmsten, sympathischsten Poeten, überhaupt nicht als Held geeignet oder als jemand, der Geschichte machen wollte. Ein Mann von großer Herzlichkeit und sehr kommunikativ. Im Gefängnis haben sie ihn zur Selbstkritik getrieben, und viele Intellektuelle haben seine Auszeichnung in einem offenen Brief verurteilt. Das Klima verschlechterte sich zusehends.

    Schumann: War das eine Folge der sich zuspitzenden politischen und ökonomischen Krise der Revolution Ende der 60er Jahre und ihrer Abhängigkeit von der Sowjetunion?

    Serrano: Breschniew hatte eine Rechnung aufgemacht, nach der der Unterhalt dieser Basis 90 Meilen von den USA entfernt die Sowjetunion sehr teuer zu stehen kam. Auch hielt er sie für zu rebellisch, zu heterodox und wollte sie an die Leine legen. Und das hat er auch tatsächlich getan. Der Sozialistische Realismus, den wir so abschätzig diskutiert hatten, wurde zum ästhetischen Dogma erklärt. Und schlimmer: in allen Institutionen des Landes wurden sowjetische Methoden eingeführt. Die Entwicklung gipfelte in der ersten Verfassung der Revolution im Jahr 1976. In ihrer Präambel wird der Sowjetunion dafür gedankt.

    Schumann: Das war auch das Ende des sog. grauen Jahrfünfts, das tatsächlich die schwärzeste, die stalinistische Zeit der Kubanischen Revolution war, ihre Institutionalisierung nach sowjetischem Vorbild.

    Serrano: Die Krise war 1970 so brutal, dass Castro wohl keine andere Wahl blieb, als mit den Sowjets zu paktieren. Das führte zu zwei paradoxen Phänomenen: die Produktion wurde erhöht: wir konnten uns endlich besser ernähren und besser kleiden, aber das Land wurde nun auch ganz und gar auf die Linie der Kommunistischen Partei ausgerichtet.

    Schumann: Und es wurde gesäubert von allen 'sozial auffälligen' Kräften.

    Serrano: Das Theater wurde davon zutiefst erschüttert. In den 60er Jahren hatte sich dort eine sehr lebendige Szene herausgebildet: mit vielen Uraufführungen und ausländischen Regisseuren, eine außerordentliche Bewegung mit zahlreichen Ensembles, von großem Gewicht in unserer Kultur. Plötzlich mussten sich alle Theaterleute den 'Parametern' unterziehen. Dazu musste jeder in einem Fragebogen detailliert Auskunft über sein ganzes Leben geben: das persönliche, emotionale, berufliche Leben, die Angehörigen im Ausland, die religiöse Zugehörigkeit etc. Und viele Theaterleute wurden danach 'parametrisiert', das heißt entlassen, weil sie diese Prüfung nicht bestanden hatten. Das führte zu großer Unruhe unter den Kulturschaffenden. Und viele, von denen man das nie erwartet hätte, verließen die Insel. Das waren also nicht die gleichen konterrevolutionären Emigranten oder Wirtschaftsflüchtlinge wie 1959/60, sondern Leute, die sich als Revolutionäre verstanden und die von der Revolution verstoßen wurden.

    Schumann: Was geschah damals mit dem jungen, revolutionären Pio Serrano, dem Poeten und Kultur-Redakteur, der Ende der 60er Jahre auch Dozent an der Philosophischen Fakultät der Universität von Havanna war?

    Serrano: Wir empfanden uns nicht nur als Sozialisten, sondern als Kommunisten a la Cubana. An der Philosophischen Fakultät war es verboten, nach den sowjetischen Lehrbüchern vom Dialektischen Materialismus und Marxismus-Leninismus zu lehren, die überall sonst vorhanden waren. Wir arbeiteten mit Althusser und studierten die zentralen Ideen der Kubanischen Revolution: den Antiimperialismus, die Vergesellschaftung der Wirtschaft, das Engagement für Lateinamerika und die Befreiungsbewegungen überall auf der Welt.

    Schumann: Also Ideen, die ja auch die Studentenbewegungen 1967/68 in Europa und in den USA motivierten.

    Serrano: Meine innere Krise begann ´68, aus verschiedenen Gründen. ´67 war Che Guevara in Bolivien gestorben. Die offizielle Version des Regimes über seinen Tod hat uns nicht wirklich überzeugt. Nach der Publikation seiner Tagebücher haben wir uns sogar gefragt, ob man ihn nicht im Stich gelassen hat, denn der Kubanische Militärapparat hätte doch in der Lage gewesen sein müssen, Che aus der bolivianischen Bergregion herauszuholen. Diese lag doch ganz in der Nähe der chilenischen Grenze, zu der sich andere Guerrilla-Mitglieder auch durchgeschlagen hatten. Wir waren sehr frustriert über das seltsame Verschwinden dieser Lichtgestalt, die er für uns damals darstellte. Das andere war der Prager Frühling, den wir mit großer Sympathie verfolgten.

    Schumann: Das heißt: Alexander Dubčeks Versuch im Frühjahr 1968, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu verwirklichen, wurde im revolutionären Kuba ernsthaft diskutiert?

    Serrano: Das war für uns das Ideal, das wir erreichen wollten, und wir glaubten eine Zeitlang, dass dies auch der Wille der Führer der Revolution war, bis die sowjetischen Panzer eindrangen. Damals hatte Castro noch die Angewohnheit, um Mitternacht in der Universität zu erscheinen und in aller Öffentlichkeit mit den Studenten zu diskutieren. Einige Tage vor dem Einmarsch der Sowjets in Prag hat er dort noch seine Sympathien für Dubček und den Prager Frühling bekundet. Einige Tage nach der sowjetischen Invasion überraschte er uns mit der öffentlichen Ankündigung, dass dies zwar juristisch nicht legal, aber moralisch verständlich sei. Das war für viele von uns die endgültige Absage des autonomen Projekts der Revolution, die Kapitulation vor den Sowjets.

    Schumann: Überall entstanden solche vorwärts treibenden revolutionäre Bewegungen - in Prag, Berlin, Paris, Berkeley - nur die siegreiche Kubanische Revolution bewegte sich rückwärts. Was empfanden Sie dabei?

    Serrano: Wir kamen uns geradezu pervers vor. Sympathisierten wir mit Che, gehörten wir zu den Verlierern. Sympathisierten wir mit der chinesischen Kulturrevolution, dann kriegten wir Ärger mit Castro und den Sowjets. Sympathisierten wir mit Prag, dann wurden wir ebenfalls verdammt. Dadurch kam mein Glaube ins Wanken, und ich begann die Dinge anders zu bewerten, zwischen 1968 und 1970. Dann habe ich mich 1970 entschlossen, nicht mehr mitzuspielen, "mich außerhalb des Spiels" zu begeben und das Land zu verlassen.

    Schumann: Sie waren damals noch jung, noch nicht einmal 30 Jahre alt und hatten bis dahin keine besonders herausragenden Funktionen ausgeübt. Erleichterte das die Ausreise?

    Serrano: Ich wurde von nun an, von 1970 bis 1974, als Unperson behandelt und für vier Jahre in Arbeitskolonien aufs Land geschickt, wie alle Leute, welche die Insel verlassen wollten. Im Verlauf des sog. 'grauen Jahrfünfts' wollten zahllose Menschen aus Kuba weg. Ich war in Lagern von 500 Personen, und von solchen 'Arbeitsstätten' gab es viele. Das war reine Repression: Wer das Land verlassen wollte, musste erst für seinen Verrat bezahlen.

    Schumann: Wie muss man sich denn ein solches Arbeitslager vorstellen?

    Serrano: Es gab dort verschiedene Unterkünfte, wo wir in Betten aus Zuckersäcken schliefen. Wir mussten um 6:00 Uhr früh aufstehen und bis 7:00 Uhr abends arbeiten während der Zuckerernte, aber auch in allen Etappen davor und danach, vier Jahre lang. Außerdem mussten wir ein Plansoll erfüllen und während der Ernte täglich 200 kg Zuckerrohr schlagen, jeder Einzelne von uns.

    Schumann: War das Lager gut bewacht? Oder hätten Sie problemlos türmen können?

    Serrano: Wir sind nicht abgehauen, obwohl die Zäune nicht elektrisch geladen waren, es auch keine Wachposten am Eingang gab und das Lager meist nur von einer einzigen Person beaufsichtigt wurde, von einem strafversetzten Angehörigen des Innenministeriums. Wir sind nicht abgehauen und haben uns auch sonst nichts zu Schulden kommen lassen, weil wir sonst Kuba nie hätten verlassen dürfen. Das heißt: zur Selbstzensur kam auch noch die Selbstüberwachung.

    Schumann: 1974 hatten Sie endlich alle Voraussetzungen erfüllt, und das Innenministerium ließ Sie nach Spanien ausfliegen. - Lassen Sie uns noch ein anderes entscheidendes Jahr ins Auge fassen: 1989. Die Sowjetunion war zusammengebrochen, hatte Kuba von der Versorgungspipeline abgeschnitten, das Regime war ganz auf sich allein gestellt. Hätte Fidel Castro damals nicht einen Neuanfang wagen und einen eigenständigen Weg einschlagen können?

    Serrano: Man muss dazu die Einsamkeit begreifen, in der Kuba sich damals nach dem Bruch mit Moskau befand. Kuba war isoliert, und für Castro gab es nur einen Weg: sich abzukapseln und zu seiner ursprünglichen ideologischen Überzeugung zurückzukehren. Ihm war inzwischen jede Form pragmatischen Denkens fremd, wie es damals angemessen gewesen wäre und wie er es im früheren Umgang mit der Sowjetunion gezeigt hatte. Er war total frustriert, fühlte sich verraten und stürzte das Land durch den ihm fehlenden Pragmatismus in die schlimmste Zeit der Not. Es ist nur erstaunlich, wie er diese Jahre überstanden hat, ohne dass es einen nationalen Aufstand gab.

    Schumann: Warum war das möglich in dieser Situation, in der das Land am Boden lag und es den Kubanern schlechter ging als jemals zuvor?

    Serrano: Im Bewusstsein der Kubaner hat sich der Glaube verfestigt, dass der Repressionsapparat des Regimes mit jeder Form von Manifestation fertig werden kann. Das ist das Eine. Zum anderen war das, was in Europa geschehen ist, ein Dominospiel: die Grenzen fielen eine nach der anderen. Und dann dürfen wir nicht vergessen, dass die Revolution von 1959 nicht mit Hilfe sowjetischer Panzer gesiegt hat, sondern das Ergebnis einer nationalen Entwicklung ist, welche die Kubaner selbst durchgeführt haben.

    Schumann: Hängt die fehlende Widerstandskraft vielleicht auch mit der fehlenden Perspektive zusammen?

    Serrano: Ein Großteil der Bevölkerung hat Angst davor, das bisschen Sicherheit, das es besitzt, zu verlieren. Das Regime sorgt für die Wohnung, so schlecht sie auch immer sein mag. Es sorgt für eine minimale Ration an Lebensmitteln. Andere Teile der Bevölkerung wiederum fürchten sich vor der Wettbewerbsgesellschaft. Ich glaube, viele haben sogar Angst vor der Freiheit.

    Schumann: Ich will noch einmal versuchen, die Kubanische Revolution von einer anderen Seite her zu verstehen. Ist Fidel Castro nicht einer der wenigen Politiker des 20. Jahrhunderts, der ein Ideal, ein Projekt vertritt, eben diese Revolution, die er unbedingt im 21. Jahrhundert erhalten will, weil er von ihrer Richtigkeit überzeugt ist?

    Serrano: An dem Projekt von Fidel Castro gibt es etwas Beunruhigendes, neben dessen unbestreitbaren Werten: sein Sendungsbewusstsein: Sein Projekt ist seine Person. Politologen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass jedes messianische Projekt zum Scheitern verurteilt ist, weil in seinem Inneren selbstzerstörerische Keime existieren. Wenn der Messias verschwindet, löst sich auch das Projekt auf. Außerdem verheißt Castro mit seinem Projekt eine nicht erreichbare Zukunft. Er lässt aber gleichzeitig das Volk in dem Glauben, es sei dabei, dieses Projekt zu verwirklichen.

    Schumann: Trotz allem jubeln ihm heute noch viele Kubaner zu.

    Serrano: Einer der größten Erfolge Castros - und er hat viele erreicht - besteht in seiner Fähigkeit, Kuba im Lexikon der Geschichte als Kubanische Revolution verankert zu haben. Doch das ist ein Phantasma. Die Verwirklichung eines Ideals gab es allenfalls bis zur Institutionalisierung der Revolution. Sie hat sich danach in etwas Rigides, Frigides verwandelt, das nur noch dem Machterhalt dient, mit welchen Mitteln auch immer.

    Schumann: Was bleibt also von diesem großen Projekt, das die Kubaner, das die Welt vor 50 Jahren enthusiastisch begrüßt haben?

    Serrano: Kuba ist heute weit von der Situation entfernt, in der es sich in den 50er Jahren befand. Es hat sich ins Gegenteil jenes Landes verwandelt, das es damals war. Es befindet sich noch nicht einmal mehr auf dem Niveau vergleichbarer Länder in Lateinamerika. 1958 konnte Kuba mit Mexico, Argentinien und Chile konkurrieren, heute ist es davon weit entfernt. Und ich denke dabei nicht nur ans Gesundheitswesen. Es stimmt, dass es in den ersten Jahren der Revolution auf die gesamte Insel ausgeweitet wurde, wo es während der Republik niemals existiert hatte. Aber selbst dieses Projekt ist gescheitert. Die Krankenhäuser sind in einem schlechten Zustand, schlecht unterhalten, schmutzig. Und daran ist nicht nur das US-Embargo schuld, sondern auch das Scheitern der Revolution.

    Schumann: Würden Sie das auch vom Bildungswesen sagen, der oft propagierten zweiten Säule der Revolution?

    Serrano: Das Bildungswesen wurde ebenfalls auf die ganze Insel ausgedehnt und erreichte ein außerordentliches Niveau. Aber heute ist es in einem völlig prekären Zustand. Es gibt noch nicht einmal mehr genügend Lehrer - 5 Jahrzehnte nach der Revolution. In Schnellkursen - wie in den Anfangsjahren - werden jetzt Abiturienten, Studenten, Nachbarn ausgebildet, damit sie die Schüler schlecht Lesen und Schreiben lehren. Wie ist es 5o Jahre nach dem Aufbau des Bildungssystems möglich, dass es keine Lehrer gibt?

    Schumann: Was bleibt also von dem großen Traum der Neugestaltung Kubas?

    Serrano: Die Überreste eines Schiffbruchs. Die Phantasmen eines Traums. Und die ungeheuere Fähigkeit der Kubaner, sich rasch zu regenerieren, was sie in den letzten hundert Jahren ihrer Geschichte immer wieder bewiesen haben.