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50. Kino-Jubiläum in Karlsbad
Eine Bilanz des Festivals von Karlovy Vary

Von Kirsten Liese | 11.07.2015
    Auf den Straßen ist es grau und matschig, in den Wohnstuben erinnern sich die Familienältesten an Pogrome. Und ein sensibler, fantasiebegabter, von einem Rabbi malträtierter Junge entdeckt seine Liebe für ein verwaistes Nachbarmädchen. Der ukrainische Wettbewerbsbeitrag "Song of Songs", den Karlovy Vary in einer Weltpremiere zeigte, ist mit kontemplativen Impressionen aus einem jüdischen Shtetl ein Beleg dafür, dass Filmkunst nicht unweigerlich einer Handlung bedarf, dass Bilder von zarter Poesie und Schönheit ohne Musik noch umso stärker wirken. Im osteuropäischen Autorenkino lassen sich solche stillen, atmosphärischen Kleinode häufiger finden als im Westen, und das zeigt sich nirgendwo sonst so deutlich wie in dem kleinsten unter den bedeutenden, internationalen europäischen Festivals.
    Zwischen der ukrainischen Studie und der anspruchslosen Blödelsatire "Heil", die nach ihrer Premiere in München leider auch als einziger deutscher Wettbewerbsbeitrag in Karlsbad lief, liegen Welten. Und auch das unabhängige Kino aus Österreich, Kanada und den USA hinterließ in der 50. Ausgabe geradezu einen beschämend schwachen Eindruck.
    Subtile Filmkunst aus Osteuropa ist dagegen trotz der wachsenden Konkurrenz unter den großen Festivals in Karlsbad noch immer gut vertreten. Daran hat Festivalleiter Karel Och, der schon an so manches gänzlich unkommerzielle Werk geglaubt hat, das Kollegen übersahen, seinen Teil:
    "Es ist schwierig, ein Festival im Juli auszurichten - nur wenige Monate vor Toronto und San Sebastian. Und obwohl diese Festivals sehr renommiert und attraktiv sind, geschieht es immer wieder doch, dass wir einen heiß begehrten Film in einer Weltpremiere zeigen wie zum Beispiel im vergangenen Jahr das georgische Drama "Maisfeld". Das wurde am Ende sogar für einen Oscar nominiert. In jedem Jahr gilt es also, um einen guten Film zu kämpfen, aber das macht dieses Geschäft auch irgendwie spannend."
    Karlovy Vary zeigte auch Beiträge zu brisanten politischen Debatten. Zum Beispiel das mit deutschen Koproduktionsgeldern geförderte Drama "Babai" aus dem Kosovo. Es spielt Mitte der 1990er-Jahre, aber es zeigt sehr heutige Bilder von Flüchtlingen in überfüllten Schlauchbooten, die sich illegal über die Grenzen schmuggeln. Insofern erstaunt es, dass Regisseur Visar Morina die politische Bedeutung seines Films herabspielt, zumal einige Szenen sehr unmenschliche Zustände zeigen. Und obwohl Deutschland eisern die Freizügigkeit verteidigt und heute weit mehr Flüchtlinge aufnimmt als vergleichsweise EU-Länder aus Osteuropa, übt der Filmemacher, der selbst nach Deutschland emigrierte und in Köln studierte, scharfe Kritik an der deutschen Asylpolitik:
    "Ich finde, dass man ehemals kommunistische Länder, die heute vor großen Problemen stehen, nicht genauso in die Verantwortung nehmen kann wie das reiche Deutschland. Es geht mir allerdings gar nicht, darum zu zeigen, wie miserabel die Situation für Flüchtlinge ist, obwohl ich sagen muss, die Lage in Deutschland für Flüchtlinge ist ziemlich beschissen."
    Einfühlsam schildert Morina, wie ein zehnjähriger Junge wütend seinem Vater hinterher reist, der heimlich nach Deutschland geflohen ist. Doch haben andere Regisseure ähnliche Geschichten schon berührender erzählt.
    Den Kristallglobus, mit dem die Jury heute Abend den besten Film prämiert, hätte der bedrückende polnische Beitrag "Red Spider" verdient. Im kommunistischen Krakau um 1967 sucht ein erfolgreicher, gelangweilter Athlet hier geradezu manisch den Kontakt zu einem Serienmörder, der in ihm eigene abgründige Obsessionen weckt. Am Ende begeht der junge Mann zwar keinen Mord, stellt sich der Polizei aber als der vermeintliche Täter.
    Mit seiner Düsternis und Rätselhaftigkeit erinnert der Thriller an Dramen von Polanski oder Haneke. Dass der Regisseur Marcin Koszalka eine Analyse des ungewöhnlichen Verhaltens dem Zuschauer überlässt, gehört dabei zum Programm:
    "Manchmal haben wir jemanden vor uns, von dem wir annehmen, es sei ein ganz normaler Mensch, und dann kommen wir dahinter, dass er psychisch krank ist oder sogar ein Mörder. Ein gutes Beispiel dafür ist der deutsche Pilot, der Passagiere getötet hat, und wir wissen nicht, warum."
    Ein solch seltsames, spannendes Werk krönt die Jubiläumsausgabe eines Festivals, das sich einmal mehr als erste Adresse für das osteuropäische Kino empfahl, stets aber auch vereinzelte Meisterwerke aus anderen Nationen entdecken lässt. Ein Porträt der kaum bekannten Dichterin Antonia Pozzi, durchdrungen von atemberaubend schönen Bildern, war in diesem Jahrgang der stärkste Beitrag aus einem westeuropäischen Land.