Donnerstag, 25. April 2024

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500 Jahre Zwingli in Zürich
"Weltgeschichtlich wichtige Weichenstellung"

In der Schweiz wird 500 Jahre Reformation gefeiert. Die Kirche könne vom Reformator Ulrich Zwingli lernen, dass die Gottesfrage zentral sei, sagte die Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg im Dlf. "Wir sind drauf und dran, das vor lauter zivilreligiösem Engagement zu verspielen."

Dorothea Wendebourg im Gespräch mit Andreas Main | 08.08.2019
Bild des Reformators Ulrich oder Huldrych Zwingli (1484-1531) in "Hutchinson's History of the Nations" aus dem Jahr 1915.
Der Reformator Ulrich Zwingli (1484-1531) (imago images / Design Pics / Ken Welsh)
Andreas Main: Selbst in dieser Sendung, dem in dieser Art in deutschsprachigen Raum einzigartigen Fachmagazin, selbst hier ist der Name Ulrich Zwingli zuletzt vor fast zwei Jahren erwähnt worden. Im Jubiläumsjahr 2019: kein Treffer bei der Suche auf deutschlandfunk.de! Und auch in meiner Erinnerung: Zwingli ist an uns vorbeigegangen. Dabei geht auf sein Wirken ein ganzer Zweig der Reformation zurück, der bis heute global wirksam ist und unsere Geschicke prägt. Was Zwingli mit uns zu tun hat und warum er dennoch durch alle Raster fällt, das kann uns erklären die Theologin Dorothea Wendebourg. Sie ist emeritiert, war zuletzt Professorin für mittlere und neuere Kirchengeschichte sowie Reformationsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie beschäftigt sich immer wieder auch damit, wie die Reformatoren rezipiert werden, etwa zuletzt in ihrem Buch "So viele Luthers – Die Lutherjubiläen des 19. und 20. Jahrhunderts". Dorothea Wendebourg und ich, wir sitzen zusammen im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin und zeichnen dieses Gespräch auf, beziehungsweise haben es aufgezeichnet. Guten Morgen, Frau Wendebourg.
Dorothea Wendebourg: Guten Morgen, Herr Main.
Main: Frau Wendebourg, wenn es so viele Luthers gibt – so Ihre Analyse – gibt es auch viele Zwinglis?
Wendebourg: Es gibt mehrere Zwinglis, aber so viele Zwinglis, wie es Luthers gab und gibt, gibt es nicht, weil Zwingli dann doch der Reformator eines sehr viel kleineren Gebietes gewesen ist, weil er nur sehr viel kürzer gelebt und gewirkt hat, und weil seine langfristigen Wirkungen dann von anderen Reformatoren, die ihn zum Teil auch überschattet haben, sehr übertroffen wurden, insbesondere von Calvin, der nicht in jeder Hinsicht als Schüler Zwinglis gelten kann, in vieler Hinsicht eher als Schüler Luthers, der aber doch einen eigenen Zweig der Reformation verkörpert, der sich mit der Züricher Reformation dann verbündet hat, sodass daraus der große Stamm des reformierten Protestantismus geworden ist. In Folge dessen ist Zwingli – er steht da am Anfang – unübersehbar wichtig, aber dann doch nicht so prägend und so populär geworden – außerhalb Zürichs.
"2017 sehr stark auf Luther zugespitzt"
Main: Wenn wir Zwingli in diesem Jahr kaum wahrnehmen, haben wir es da mit einem Kernproblem des Protestantismus zu tun, dass Reformation auch national gesehen wird? Oder ist das eine zu katholische Fragestellung?
Wendebourg: Nein, das ist richtig. Insbesondere 2017 konnte man deutlich sehen, dass die Reformation sehr stark auf Luther zugespitzt gefeiert wurde. Allerdings das nicht nur in Deutschland. Dass 1519 etwas angestoßen wurde, was weltweite Wirkung hatte, über andere Gruppen, andere Reformatoren, das war viel zu wenig im Blick.
Die Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg
Die Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg (Photo Volke 2018)
Nun im Jahr 2019, 500 Jahre nach 1519, ist Zwingli an der Reihe. In diesem Jahr feiern die Züricher und auch darüber hinaus die Schweizer 500 Jahre Reformation. Und das ist nun auch für uns in Deutschland Anlass, das zu tun, was wir vor zwei Jahren zu wenig getan haben, nämlich die anderen Zweige, die international und konfessionell anderen Zweige des Protestantismus zu beleuchten. Und ich bin sehr froh, dass wir in diesem Jahr doch einen starken Fokus auf Zwingli haben.
Main: Wo haben wir den? Wir haben eine Briefmarke …
Wendebourg: Wir haben … immerhin, wir haben eine Briefmarke. Wir haben eine Briefmarke, die wir gemeinsam haben mit der Schweiz. Dort soundso viel Rappen, bei uns soundso viel Cent. Und das wurde auch in einem gemeinsamen Festakt zwischen Deutscher und Schweizer Post, Evangelischer Kirche Deutschlands und der Schweiz gewürdigt, herausgebracht – das schon. Und in diesem Zusammenhang gab es dann auch in der Theologie Besinnungen auf ihn. Aber natürlich, ein so großes Festival wie 2017 - das haben wir nicht.
"Das hat mit Arroganz und Ignoranz zu tun"
Main: Was ist denn der Grund, warum wir uns so wenig für Zwingli interessieren? Ist das Ignoranz? Ist das religiöser Analphabetismus? Zumindest, dass wir uns so wenig interessieren, was die breite Öffentlichkeit betrifft?
Wendebourg: Also, das hat natürlich mit Arroganz und Ignoranz zu tun. Es hat mit einer gewissen nationalkulturellen, gar nicht so sehr nationalpolitischen, aber nationalkulturellen Verengungen zu tun. Denn, natürlich, die Wirkung der Lutherbibel und dergleichen mehr, die übrigen kulturellen Früchte, gerade der Wittenberger Reformation, die sind bei uns ganz stark im Vordergrund.
Dann muss man aber auch sagen: Zwinglis Reformation hat sich bei uns – abgesehen von bestimmten reformierten Gegenden – wenig ausgewirkt. Es war dann viel stärker Calvin. Und auf Calvin lag im Jahr des Calvin-Jubiläums auch sehr viel mehr Aufmerksamkeit.
"Reformation in ihrer Vielfalt"
Main: Mal positiv formuliert: Was verpassen wir, wenn wir uns nicht beschäftigen mit Zwingli?
Wendebourg: Wir verpassen, die Reformation in ihrer Vielfalt wirklich wahrzunehmen - und zwar in ihrer schon ganz früh angelegten Vielfalt der theologischen, aber auch der sozialen, der politischen und kulturellen Varianten.
Wir haben ja schon innerhalb Deutschlands eine große Vielfalt der Reformationen – Stadtreformation, Territorialreformation und so weiter und so fort. Und das gilt natürlich erst recht für Südwestdeutschland und die Schweiz – das muss man hier fast zusammennehmen – sozusagen für das Dreieck Augsburg, Straßburg, Zürich. Das sind andere Typen von Reformation, die da gelaufen sind. Und das berücksichtigen wir in der Öffentlichkeit zu wenig.
Der Kupferstich von Jan Houwens "Das Licht ist auf den Kandelaber gestellt" zeigt ein imaginiertes Treffen von Führern der Reformation: John Calvin, Martin Luther, John Wyclif, Jan Hus, Jerome von Prague, Ulrich Zwingli, Johannes Oecolampadius, Martin Bucer, Philipp Melanchthon, Peter Martyr d'Anghiera, John Knox, Matthias Flacius Illyricus, Theodore de Beze und William Perkins.
Jan Houwens "Das Licht ist auf den Kandelaber gestellt": ein imaginäres Treffen der Führer der Reformation (imago stock&people)
Main: Dorothea Wendebourg, Berliner Kirchenhistorikerin, im Deutschlandfunk. Nach dieser Ouvertüre jetzt mal ins Detail: Die Schweizer feiern ihr Reformationsjubiläum in diesem Jahr – 2019 beziehungsweise 1519. Was ist 1519 passiert?
Wendebourg: 1519 ist Zwingli nach Zürich gekommen. Er war vorher Gemeindepfarrer an anderen Orten. Und 1519 wird er nach Zürich berufen, und Zürich bietet ihm natürlich eine ganz andere Bühne als zuvor.
Er wird dort Leutpriester, also der Pfarrer, der für die Leute zuständig ist, im Rahmen des Zürcher Grossmünsters. Und da hat er ein ganz anderes Predigtpublikum. Da hat er ganz andere Möglichkeiten, sich auch politisch zu betätigen, was für ihn zeitlebens sehr wichtig gewesen ist, und auch Möglichkeiten, sich selber weiterzubilden. Insofern datiert man den Beginn der Reformation in der Schweiz mit diesem Datum. Das ist ein bisschen schief, aber der Thesenanschlag bei Luther ist ja auch noch nicht die Reformation, sondern ein gewisser Anstoß.
Main: Was müssen wir denn wissen aus Zwinglis Leben vor 1519?
Wendebourg: Eine ganze Reihe von Dingen, die für ihn charakteristisch sind. Zum einen, dass er vorher schon so lange Pastor, Gemeindepfarrer gewesen ist, also in ganz besonderer Weise sich auch mit den Belangen der Basis beschäftigte. Das scheint ganz banal, ist es aber nicht, wenn man das vergleicht mit den anderen Reformatoren.
Main: Luther war Universitätsprofessor.
Wendebourg: Und Mönch.
Main: Und Mönch.
Wendebourg: Melanchton war Professor. Calvin war Jurist. Thomas Cranmer, der Hauptreformator Englands, war Erzbischof. Insofern ist das nicht so ganz gewöhnlich, dass Zwingli hier als Gemeindepfarrer zur Reformation kommt.
Main: Also, ist seine Theologie praxisgesättigt, würde man womöglich heute sagen?
Wendebourg: Ja, man kann natürlich sagen, bei allen denen ist es praxisgesättigt. Aber für ihn ist die Praxis ganz zentral, das tägliche Leben an der Gemeindebasis, das geistliche, das gottesdienstliche, das soziale, auch das politische Leben an der Gemeindebasis. Letzteres für ihn besonders wichtig.
Er hat sich von Anfang an sehr mit den politischen Belangen seiner Gemeinde befasst – und überhaupt des Schweizer Volkes, wie er gelegentlich sagt. Seine erste Schrift ist eine Schrift, die einem politischen Thema gewidmet ist, dem Söldnerdienst.
"Zwingli hat nur ein Theologie-Semester auf dem Buckel"
Main: Was wir noch wissen müssen aus der Zeit vor 2019, das ist sein akademischer Hintergrund, denke ich.
Wendebourg: Ja.
Main: Der ist auch wichtig.
Wendebourg: Der ist wichtig, und zwar zunächst mal negativ wichtig. Zwingli hat nicht Theologie studiert. Er hat ein einziges Semester auf dem Buckel. Er hat vorher sehr ausführlich die sogenannten Artes studiert, also das philosophische Grundstudium. Er ist dort auch bereits mit dem Humanismus, der ihn dann stark prägen sollte, in Verbindung gekommen.
Aber ein – sagen wir – zünftiges Theologiestudium, das hat er nicht. Das verbindet ihn mit Calvin, der das auch nicht gehabt hat, oder mit Melanchton. Das ist natürlich etwas ganz anderes als bei jemandem wie Luther, der Doktor und Professor der Theologie war, oder Thomas Cranmer, der ebenfalls Doktor der Theologie war, die einen ganz anderen akademischen Hintergrund haben.
Toggenburg Kt. St. Gallen, Geburtshaus Zwingli
Das Geburtshaus von Ulrich Zwingli in Toggenburg (St. Gallen) auf einer alten Postkarte (imago images / Arkivi)
Main: Und noch weiter zurück, hinter das Jahr 1519: Er ist geboren in irgendeinem Winkel der Schweiz, den ich nicht kenne. Und helfen Sie mir weiter mit dem Jahr: 1483?
Wendebourg: 1484, am 1. Januar. Er ist also ein ganz klein bisschen jünger als Martin Luther.
Main: Und er ist Kind relativ einfacher Eltern. Sehe ich das richtig?
Wendebourg: Ja. Man kann nicht sagen arme Eltern, aber bäuerlicher Hintergrund, also, normaler Schweizer ländlicher Hintergrund.
"Hohes Maß politischer Partizipation"
Main: Und dann kommt eben dieses Stichjahr, 1519. Er wird Leutpriester am Grossmünster in Zürich, setzt dort von vornherein immer auf Partizipation. Könnte man ganz vereinfachend sagen, dass er durch die Partizipation der Bürger so etwas ermöglicht hat wie demokratische Partizipation, also zumindest die Türen aufgerissen hat?
Wendebourg: Ja, also der politisch-soziale Hintergrund in Zürich, überhaupt in der Schweiz, ist ein sehr anderer als etwa bei Luther, der aus einem Territorialfürstentum kommt, wo es selbstverständlich ist, die politische Musik spielt am Hof. Während die südwestdeutschen – wir sagen auch oberdeutschen – Städte – Straßburg, Augsburg, Ulm – und auch die Schweizer Städte – Zürich – von vornherein eine politische Struktur haben, wo über die Räte ein ziemlich hohes Maß politischer Partizipation bestimmter Familien – es sind nicht alle – und da wiederum der Männer natürlich nur - gegeben ist. Das ist für uns heute wenig. Das ist für die Zeit sehr viel.
Wenn man etwas durchsetzen will, muss man diese Räte gewinnen. Und das gilt auch für kirchliche Belange. Die Räte der oberdeutschen Städte haben ziemlich viel Mitspracherecht in kirchenpolitischen, aber auch in innerkirchlichen Dingen. Und Zwingli weiß das und vermag es innerhalb der Räte immer wieder, Mehrheiten für seine Angelegenheiten zu organisieren.
"Die Leute machen sich Gedanken über den Glauben"
Main: Er setzt also komplett auf das, was man vielleicht Bürgertum nennen könnte. Und bei ihm – Sie haben es schon angedeutet – sind Politik und Glaube aufs Engste verquickt. Ja, also für mich die Frage: Ist das jetzt ein Fortschritt oder ist das letztlich nicht doch eine Theokratie mit anderen Mitteln?
Wendebourg: Die Rede vom Fortschritt ist ja immer eine sehr relative. Fortschritt wem gegenüber? Also, auf der einen Seite wird man schon sagen können, ein solches Maß an Partizipation relativ vieler Menschen ist aus evangelisch-reformatorischer Sicht etwas Positives. Die Leute machen sich Gedanken über den Glauben und versuchen, Dinge umzusetzen. Dass dann Gesichtspunkte der Macht, der Parteibildung da immer mit reinspielen, okay, so sind die Menschen. Aber unter diesem Aspekt würde ich sagen: Ja, es ist positiv.
Schwierig wird es natürlich, wenn dann am Ende Kirche gar nicht mehr zu unterscheiden ist von der sogenannten bürgerlichen Gemeinde und ihren Belangen, wenn das Religiöse, das Geistliche keine eigene Dimension des Lebens mehr ist. Das war es sicher in Zwinglis Zeiten. Aber langfristig gesehen ist das immer eine Gefahr bei großer Volks- und Bürgerbeteiligung in der Kirche. Da muss man immer so einen mittleren Grad finden.
"Politik, Geistliches, Gottesdienst - das ist eins"
Main: Sie ermahnen ja auch immer wieder heutzutage die Evangelische Kirche in Deutschland, sich nicht in jede parteipolitische Frage einzumischen und Sie ecken damit auch an. Und dann als argumentative Hilfe dient Theologinnen und Theologen wie Ihnen ja auch eher die Zwei-Reiche-Lehre.
Wendebourg: Die hat Zwingli nicht.
Main: Die hat Zwingli nicht und er ist quasi ein Antipode zu …
Wendebourg: Die haben Calvin und Luther, ja. Also, die Zwei-Reiche- oder Zwei-Regimenten-Lehre, das ist etwas, was Luther und Calvin vertreten, die zwar beide durchaus auch zu politischen Fragen Stellung nehmen, aber dieses dann tun, wenn sie den Eindruck haben, das ist notwendig. Eigentlich ist es mein Geschäft nicht, aber es spricht kein anderer. Dann tun sie das.
Aber für Zwingli gehört das genuin zum Theologe-, zum Pfarrer-Sein dazu. Er sagt, der Christ ist zugleich Bürger und der Bürger ist zugleich Christ. Das kann ich gar nicht auseinandernehmen. Ich bin das eine wie auch das andere.
Ein Standbild des Reformators Ulrich Zwingli vor der Wasserkirche in Zürich
Ein Standbild des Reformators Ulrich Zwingli vor der Wasserkirche in Zürich (dpa / pa / Bäsemann)
Politik, Geistliches, Gottesdienst und so weiter - das ist eins. Und jeder anständige Schweizer Bürger geht regelmäßig in die Kirche; dann nimmt er anschließend im Sinne dessen, was er da gehört hat, auch seine politische Verantwortung wahr. Das schlägt sich geradezu symbolisch in der Weise nieder, wie am Ende Zwingli gestorben ist. Er ist ja im Feld gefallen, und zwar nicht als Feldpriester, sondern als Kämpfer. Und deswegen wird er in diesem berühmten Denkmal in Zürich am Grossmünster auch dargestellt mit der Bibel und dem Schwert in der Hand.
Main: So viel zur Nähe von Politik und Glaube.
Wendebourg: Ja.
Main: Zwinglis Grundüberzeugung darüber hinaus: Gott steht dem Menschen in unüberbrückbarer Distanz gegenüber. Was bedeutet dieses Gottesbild Zwinglis für den Alltag von Christen in einer reformierten Gemeinde?
Wendebourg: Ja, das ist in der Tat Zwinglis Cantus firmus, das unüberbrückbare Gegenüber von Gott und Welt, Gotteswort und Menschenwort und dergleichen mehr. Das ist eine doppelte Erbschaft, die er auf der einen Seite aus bestimmten spätmittelalterlichen Traditionen übernommen hat, zum anderen aus dem Humanismus, dem er sehr viel verdankt.
Main: Erasmus von Rotterdam.
Wendebourg: Zum Beispiel Erasmus von Rotterdam. Sodass wir bei allen Reformatoren, die stark vom Humanismus beeinflusst sind, eine Tendenz finden, Gott und Mensch stark in Distanz zu sehen.
Ein Porträt von Desiderius Erasmus von Rotterdam von Hans Holbein d.J. (1530). 
Ein Porträt von Desiderius Erasmus von Rotterdam von Hans Holbein d.J. (1530). (picture alliance / dpa)
Das hat bei Zwingli die Folge, dass er sagt, Gnadenmittel gibt es eigentlich nicht, wenn ich unter Gnadenmittel etwas Geschaffenes verstehe, das zum Träger der göttlichen Zuwendung wird. Das hörbare Wort zum Beispiel, das hörbare Evangelium. Für Luther war es immer wichtig zu sagen, das Wort ist nicht einfach eine geistige Größe, sondern das Wort ist ein akustisches Phänomen, ein sinnlicher Eindruck, der auf mich stößt und in mir Einsicht entwickelt mit Hilfe des Heiligen Geistes. Deswegen die große Betonung etwa auch der Musik und dergleichen mehr. Zwingli sagt: Nein, das Wort kann nur unmittelbar geistige Vorgänge nachträglich abbilden. Genauso bei der Taufe oder beim Abendmahl.
Main: Die Sakramente entfallen dann quasi ganz konsequent.
Wendebourg: Die können jedenfalls keine Gnadenträger und Gnadenübermittler sein, sondern sie sind Zeichen. Das kann abgebildet werden im leiblichen Essen und im leiblichen Übergossen-Werden.
Main: Und positiv gesprochen setzt er dann halt komplett auf die Bibel.
Wendebourg: Ja, er setzt komplett auf die Bibel. Wobei das eine gewisse Schwierigkeit ist bei Zwingli, denn die Bibel ist nun mal etwas - trotz allem - Äußeres, Äußerliches. Und da muss er dann doch damit zurechtkommen, dass ich über äußerliche, sinnlich hörbare Informationen oder auch lesbare Buchstaben geistige Wahrheit erfahre. Das scheint mir bei ihm nicht ganz ausgeglichen zu sein. Beim Wort braucht er eine sinnliche Brücke, obwohl er Luther gegenüber immer sagt: Nein, das ist eigentlich nur etwas Nachträgliches.
"Zwingli kann nicht relativieren"
Main: Und er legt an diesem Punkt ja auch eine gewisse Unerbittlichkeit an den Tag, wenn er sagt: Alles, was in der Bibel steht, muss umgesetzt werden. War Zwingli also in gewisser Weise an diesem Punkt ein Fundamentalist?
Wendebourg: Ja, wenn man unter Fundamentalismus versteht, dass alles, was in der Bibel steht, 1:1 umgesetzt werden muss. Wobei Zwingli natürlich da auch Abstriche machen muss. Aber ja, Zwingli hat im Unterschied zu Luther ein, sagen wir mal, eine flächiges Verständnis der Bibel. Tota Scriptura! Alles, was drin ist, muss genommen werden! Während Luther der Meinung ist: Nein, in der Bibel steht sehr vieles, sehr viel Unterschiedliches, zum Teil auch Gegensätzliches aus verschiedenen Zeiten.
Entscheidend ist, dass ich das Zentrum der Heiligen Schrift fasse und von hier aus dann alles deute, von hier aus auch manches relativieren kann, was in der Bibel steht. Zwingli kann nicht relativieren, weil für ihn das alles flächig auf einer Ebene steht.
Zwinglis Unflexibilität bei der Bibel-Lektüre
Main: Ist das nicht womöglich auch eine der Schattenseiten dieses Reformators, den ich mir immer als verkrampften, spaßbefreiten Asketen vorstelle, der zum Lachen in den Keller geht?
Wendebourg: Also, zwei Dinge: Zum einen, ob es eine der Schattenseiten ist? Ich würde sagen, ja, es führt zu einer gewissen Unflexibilität mit der Heiligen Schrift, weil man nicht mehr sehen kann, dass es dort Wichtigeres und Unwichtigeres, Relatives und Zentrales gibt.
Zum anderen sagen natürlich Verfechter dieser Sicht der Bibel, die es bis zum heutigen Tag ja gibt: Na, ihr Lutheraner, wie geht ihr denn mit der Bibel um? Ihr sagt, das eine ist wichtig und das andere ist es nicht. Und das wird alles gemessen am Maßstab "Was Christum treibet". Aber biegt ihr euch da nicht die Bibel zurecht?
Das ist natürlich eine Gefahr. Da muss man sich auch selbst an der Kandare reißen, dass man sich wirklich vom Zentrum der Bibel her bestimmen lässt und nicht von seiner eigenen Vorliebe. Das ist das eine.
Auf der anderen Seite: zu schließen, dass Zwingli ein verkrampfter Typ gewesen sei, der nicht lachen und nicht singen konnte und dergleichen mehr? Nein, er hat das Singen in der Kirche verboten - genau wie er die Bilder in der Kirche verboten hat. Aber wir wissen zumindest im Blick auf die Musik, dass er hochmusikalisch war, dass er mehrere Instrumente spielte, vermutlich der musikalisch gebildetste von allen Reformatoren. Er hat auch Lieder komponiert. Er wollte das nur nicht in der Kirche haben, weil das Gott alles fern ist. Und manchmal habe ich den Eindruck, gerade, weil er das liebte und auch sehr gewandt war, musikalisch, hat er vielleicht das in einem Maße als Versuchung empfunden, dass er sagte: "Nein, das lenkt mich nun wirklich von Gott ab."
Wir haben ähnliche Aussagen bei Erasmus. Der sagte immer: "Musik ist ganz furchtbar, da konzentriere ich mich nicht mehr aufs Geistige." Vielleicht hat Zwingli diese Erfahrung mit sich selbst gemacht und deswegen gesagt: Hier muss ein Zaun her.
"Ein Zweig der Reformation mit unglaublich großer Wirkung"
Main: Die Theologieprofessorin Dorothea Wendebourg im Deutschlandfunk, in der Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft". Frau Wendebourg, Zwingli hatte für sein reformatorisches Wirken ziemlich genau ein Jahrzehnt. Das ist nicht sehr viel. Was bleibt dennoch an Wirkung über dieses Jahrzehnt und die folgenden Jahrzehnte und die Jahrhunderte hinaus?
Kuperstich des Künstlers Konrad Meyer (1618-89) mit einem Portät des Schweizer Reformators Ulrich Zwingli (1481-1531)
Der Reformator Ulrich Zwingli (1481-1531) (imago images / Photo12 / Ann Ronan Picture Library)
Wendebourg: Zunächst einmal, dass er doch die Basis dafür legte, dass die Reformation sich in Zürich und einem großen Teil der Schweiz durchsetzen konnte, und dass es dann gelang, die Genfer Reformation und die Züricher Reformation, die eigentlich theologisch auf ziemlich verschiedenen Schienen liefen, dass die doch zusammengekommen sind, sich verbündet haben und diesen einen Zweig des reformierten Christentums gebildet haben, mit sehr unterschiedlichen Facetten.
Das ist dann doch gesamtkirchengeschichtlich und weltgeschichtlich eine ganz wichtige Weichenstellung gewesen. Über Frankreich, über die Niederlande, über Holland, über England, über Schottland und dann in die Vereinigten Staaten hat dieser Zweig der Reformation ja nun doch eine unglaublich große Wirkung gehabt und hat sie noch bis heute.
Main: Auch jetzt weiterstrahlend über Lateinamerika und Asien.
Wendebourg: Ja.
Main: Also ein sehr erfolgreicher Zweig.
Wendebourg: Ja, Korea. Koreanische Kirchen - sich mittlerweile in einem Maße ausfächernd, dass man manchmal noch fragt: Kann das alles zusammenhängen? Aber es hängt zusammen.
"Verbürgerlichung des Christentums"
Main: Welche langfristigen Wirkungen hatte Zwingli – Wirkungen, auf die Sie gut verzichten könnten?
Wendebourg: Die Verbürgerlichungen des Christentums, die in bestimmten Gegenden des Protestantismus, vielleicht im reformierten Protestantismus noch stärker sind als im lutherischen. Das ist eine Hypothek, langfristig. Wir haben das alle. Mittlerweile haben es letztlich auch die Katholiken. Aber ich habe in der Ökumene immer das Gefühl gehabt, bei den Reformierten ist es am stärksten, dass am Ende eigentlich nur noch zählt: Was tut der Schweizer oder niederländische Bürger für sein politisches Gemeinwesen? Wie wirkt sich das aus und was tue ich da, so dass die religiöse Dimension in hohem Maße weg ist?
"Dieses zentrale Achten auf die Gottesfrage"
Main: Wir haben uns eingangs gewundert, dass Zwingli durch alle Raster der deutschen Medienlandschaft gefallen ist. Wenn wir beide vermutlich davon ausgehen, dass Beschäftigung mit Kirchengeschichte relevant sein könnte für uns Heutige, womöglich auch relevanter ist als irgendwie diese permanente Kurzzeitempörung des Oberflächenjournalismus, was wäre die Denkbewegung, die sich ergibt aus der Beschäftigung mit Zwingli?
Wendebourg: Es ist, glaube ich, die Denkbewegung, die Sie angedeutet haben mit der Frage: Was sind die positiven, bleibenden Früchte und auf welche Wirkung könnte man besser verzichten?
Gerade, wenn man sieht, dass die positiven und die grauen oder schwarzen Früchte doch irgendwie miteinander zusammenhängen, dass man von da aus immer wieder sein eigenes Christentum reflektiert und schaut, wie man das, was man behalten möchte, behalten kann, ohne das andere auch ewig mitzuschleppen.
Was man sicher von der Reformation lernen kann, ist dieses zentrale Achten auf die Gottesfrage, auf die Bedeutung Jesu Christi als Zentrum der Kirche. Und wir sind drauf und dran, das zu verspielen vor lauter zivilreligiösem Engagement. Und da sollten wir zurückgucken auf die Reformation, was da zentral war, und versuchen, dann die Weichenstellungen, die da gleichwohl falsch waren, zu vermeiden.
Main: Das vergessene Reformationsjubiläum – 500 Jahre Zwingli. Darüber sprachen wir mit Dorothea Wendebourg, evangelische Kirchenhistorikerin und Theologieprofessorin. Frau Wendebourg, danke für Ihre Zeit, für Ihre Einschätzungen, danke vielmals.
Wendebourg: Ich danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.