Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


6.2.1954 - Vor 50 Jahren

August 1914: Im sonnigen Freiburg greift der Historiker Friedrich Meinecke zur Feder. Der 51-jährige genießt seit langem über die Fachgrenzen hinweg einen guten Ruf, vor allem als Experte für politische Ideengeschichte. Meinecke steht kurz vor dem definitiven Karrieresprung – in wenigen Wochen wird er einen Lehrstuhl an der Universität in Berlin übernehmen. Doch in diesen Tagen beherrscht der Ausbruch des Weltkriegs die Gemüter aller, und Friedrich Meinecke nimmt teil an der geistigen Mobilmachung der deutschen Intellektuellen. Er notiert:

Von Tillmann Bendikowski | 06.02.2004
    Jeder Einzelne hat sich von jetzt an nur noch als ein Stück der großen Armatur des Staates zu betrachten, und es ist ihm, wenn ihm nicht unmittelbar die Waffe in die Hand gedrückt wird, nur die Wahl gelassen, nach der Stelle zu spähen, wo er am raschesten oder am wirksamsten helfen kann, die moralische und physische Streitkraft der Nation zu verstärken.

    Nun – dem Herrn Professor wird keine Waffe in die Hand gedrückt, aber auch so erkennt er bald, welches Unglück dieser Krieg tatsächlich bedeutet. Friedrich Meinecke revidiert seine Position und zählt damit bald zu jener Minderheit liberal denkender deutscher Professoren, die sich für einen Verhandlungsfrieden und außerdem für innenpolitische Reformen im Land einsetzen – ohne Erfolg. Enttäuscht schreibt er unmittelbar vor Kriegsende und Revolution 1918 einem Kollegen:

    So sehr mein Hass gegen die Raubtiernatur der Gegner fortlodert, ebenso heiß ist auch mein Zorn und Empörung über die deutschen Gewaltpolitiker, die uns durch ihre Überhebung und ihre Dummheit in diesen Abgrund gerissen haben. Wir hätten im Laufe des Krieges wiederholt den Verständigungsfrieden haben können, wenn nicht die maßlosen Ansprüche des alldeutsch-militaristisch-konservativen Konzerns ihn unmöglich gemacht hätten.

    Für einen ursprünglich national-konservativen, preußisch-deutschen Monarchisten ist dies eine beachtliche Einsicht. Aber Meinecke geht noch weiter und zieht nun – zu Beginn der Weimarer Republik – aus dem für ihn schmählichen Verhalten der Monarchie politische Konsequenzen:

    Ich bleibe, der Vergangenheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner.

    Es passt zu dem Vernunftrepublikaner, dass er in seinem 1924 erscheinenden Buch "Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte" das Verhältnis von Machtpolitik und sittlicher Verantwortung aufgreift. Die Staatsraison, so mahnt Meinecke, dürfe nie zum Selbstzweck verkommen. Solche Positionen bringen den 1932 aus Altersgründen emeritierten Historiker in Opposition zu den erstarkenden Nationalsozialisten. Nach 1933 verliert Meinecke unter anderem die Herausgeberschaft der renommierten "Historischen Zeitschrift" und den Vorsitz der "Historischen Reichskommmission". Das Dritte Reich erlebt der Gelehrte in Berlin, das Kriegsende als Evakuierter auf einem fränkischen Bauernhof. Von einem schweren Augenleiden geplagt, rafft sich der 83-Jährige noch mal zu einer Abrechnung mit den Irrwegen der deutschen Geschichte auf. Dabei bleiben auch die Heroen der Nationalgeschichte nicht verschont:

    Friedrich der Große und Bismarck haben ja nicht nur aufgebaut, sondern auch zerstört, und der Aufbau des preußisch-deutschen Nationalstaates war eine ungeheure Tragödie, nicht bloß ein harmonisches Schauspiel, wie wir so lange geglaubt hatten.

    Die Kritik an früher von ihm selbst verteidigten Traditionen durchzieht jenes historisch-politische Essay mit dem Titel "Die deutsche Katastrophe", das er unmittelbar nach Kriegsende niederschreibt. Es wird Meineckes erfolgreichstes Werk, wenngleich seine Empfehlung, das deutsche Volk möge seine Zukunft in der Hinwendung zu Goethe und der Bildung sogenannter "Goethe-Gemeinden" suchen, oft belächelt wird. Doch Meinecke setzt auf seine Form der politischen Aufklärung. So erklärt er im Herbst 1945:

    Es war mir ein großes Bedürfnis, die Gedanken, die mich – ich kann sagen – seit 15 Jahren etwa ständig bewegen und die ich immer wieder im Verkehr mit urteilsfähigen Zeitgenossen überprüft habe, endlich einmal öffentlich zu bekennen und dadurch auf die missleitete Denkweise und Gesinnung meiner Zeitgenossen wenigstens etwas – soweit meine bescheidenen Kräfte reichen – einzuwirken.

    Es ist fraglich, inwieweit Meinecke tatsächlich auf seine Zeitgenossen einwirkt. Auf jeden Fall gibt er der nun einsetzenden Reorganisierung der deutschen Geisteswissenschaften wichtige Impulse – etwa als erster Rektor der Freien Universität Berlin. Es ist seine letzte öffentliche Aufgabe; am 6. Februar 1954 stirbt Meinecke im Alter von 91 Jahren. In Erinnerung bleibt er als berühmtester deutscher Historiker des 20. Jahrhunderts und homo politicus, der die Brüche der deutschen Geschichte nicht nur miterlebte, sondern sie stets auch kommentierte – gleichermaßen kritisch wie lernfähig.