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60. Jahrestag des polnischen Aufstands von Warschau

An diesem Tag, dem 1. August, ging ich mit meiner Frau zum Nachmittagstee zu Freunden

Von Doris Liebermann | 01.08.2004
    schreibt der polnische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz.

    Man soll am Beginn eines Spazierganges niemals sicher sein, dass man nach Hause zurückkehren wird [...] weil das Zuhause aufhören könnte, zu existieren. Zehn Minuten Sorglosigkeit und heiterer Himmel. Dann plötzlich zerbarst alles, und mein Blickwinkel änderte sich, denn ich kroch auf allen vieren vorwärts. Wir befanden uns auf einem zur Vorstadt gehörigen Gelände mit Gemüsegärten und vereinzelten, an die Felder grenzenden Häuser, das durch die SS so gut besetzt war, dass es den Aufständischen nicht gelang, es zu erobern - und nun schossen hier Maschinengewehre auf alles, was sich bewegte.

    Im fünften Kriegsjahr - 1944 - deutete alles darauf, dass das Deutsche Reich bald zusammenbrechen würde. Die sowjetische Sommeroffensive erreichte in schnellem Tempo immer neue Städte und Gebiete und näherte sich der polnischen Hauptstadt.

    Warschau hatte die Funktion einer Hauptstadt nicht verloren, trotz der fünf Jahre dauernden deutschen Besatzung, trotz aller gegenteiliger Anstrengungen der Nazis: die Stadt sollte zu einer Provinzstadt herabsinken und schließlich ganz zerstört werden. Seit 1939 befand sich die polnische Regierung im Exil in London, aber sie unterhielt in Warschau ein Untergrundparlament, Untergrundministerien, und hier befand sich auch das ihr unterstellte Hauptkommando der polnischen Armee, der "Armija Krajowa", der Heimatarmee. Gegen die Vernichtung des Volkes und seiner Kultur hatte sich eine Widerstandsbewegung gebildet, die stärker war als sonst in Europa. Viele junge Polen schlossen sich der Heimatarmee an.

    Im Winter 1943/44 hatten sich die Zusammenstöße zwischen deutschen Truppen und der polnischen Heimatarmee zu einer Art Guerillakrieg verdichtet. Die Repressionen gegen Polen nahmen zu, die Heimatarmee antwortete darauf mit gut vorbereiteten Attentaten. Noch vor dem Aufstand in Warschau hatte die Führung der Heimatarmee zu einem stufenweise ausgelösten Kampf gegen die Deutschen aufgerufen: Aktion "Burza" - "Sturm". Sie war militärisch gegen die Deutschen gerichtet, politisch aber auch gegen die Russen: Die Heimatarmee wollte der nach Westen vorrückenden Roten Armee als Territorialherrscher im eigenen Land entgegentreten. Der Warschauer Aufstand war Teil dieser Aktion: Er sollte verhindern, dass die polnische Hauptstadt bei einem Zusammentreffen von Deutschen und Russen völlig zerstört würde. Er sollte außerdem verhindern, dass in Warschau eine sowjetfreundliche Regierung gebildet würde. Die Rote Armee führte zu diesem Zweck bereits eine Gruppe sowjettreuer polnischer Kommunisten mit sich.

    Die Entscheidung, am 1. August 1944, 17.00 Uhr, in Warschau mit dem Aufstand zu beginnen, traf der Oberkommandierende der "Heimatarmee", General Tadeusz Komorowski, Deckname "Bór", am Vortag in Gegenwart von anderen Militärs. Zum Befehlshaber des Aufstands wurde Oberst Antoni Chrusciel mit den Decknamen "Monter" und "Nurt", ernannt. Ihm unterstanden 50.000 Soldaten. Der Kampf sollte nur drei oder vier Tage dauern und handstreichartig die deutsche Besatzung entmachten. Es wurden qualvolle 63 Tage, bis die polnischen Aufständischen am 3. Oktober kapitulierten und General Bór-Komorowski mit 9000 Soldaten in deutsche Gefangenschaft geriet.

    Die Anfangserfolge der Aufständischen veränderten sich bald in ein langsames Sterben der Stadt angesichts von Waffen-SS, schwerer deutscher Artillerie und deutscher Luftangriffe. Ab September 1944 stand die Rote Armee direkt vor Warschau und sah dem verzweifelten Kampf der Polen tatenlos zu. Stalin bezeichnete den Aufstand als einen feindlichen Akt gegen die Sowjetunion. Ihm kam die Vernichtung der polnischen Elite entgegen.

    Die verzweifelten Hilferufe der Aufständischen blieben auch bei den westlichen Alliierten ungehört. Churchill und Roosevelt sahen passiv zu, wie der polnische Widerstand verblutete und 200.000 Zivilisten Opfer der Kämpfe wurden. Systematisch gingen Hitlers Truppen nach dem Aufstand daran, Straßenzug für Straßenzug in die Luft zu sprengen. Von Warschau blieb nur noch ein Trümmerfeld übrig.

    Mit der Niederschlagung des Aufstandes musste Polen die Hoffnung aufgeben, nach Ende des Zweiten Weltkrieges seine Souveränität zurückzuerlangen. Zu sozialistischen Zeiten wurde die Geschichte des Aufstandes in der Volksrepublik Polen nur ideologisch verzerrt dargestellt. Heute gibt es keinen Zweifel daran: der 1. August 1944 markierte den Beginn des Kalten Krieges. Sein erstes Opfer war Polen.