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60. Musikbiennale in Venedig
La Forza del Silenzio

Glamour, Grandezza und leicht morbider Charme: Venedig scheint der ideale Standort für internationale Festivals zu sein. Hier treffen sich regelmäßig sowohl prominente Filmstars als auch Künstler und Architekten. Die Musikbiennale in Venedig ist das älteste Festival für Neue Musik - und das sucht zum 60-jährigen Jubiläum nach neuen Wegen.

Von Susanne Lettenbauer | 11.10.2016
    Blick auf den Canale Grande in Venedig
    Internationale Bühne für Film, Kunst und Musik: Venedig (picture alliance / dpa /Jonathan Hayward )
    Volle Sitzreihen im Palazzo Giustinian beim Eröffnungskonzert der diesjährigen Musikbiennale. Und gleich am Anfang die erste Überraschung: Ganz vorn neben Festivalchef Ivan Fedele sitzt die 90-jährige Betsy Jolas, französische Komponistin und Olivier Messiaen-Schülerin. Zum ersten Mal wird ihr Wanderlied für Cello und 15 Instrumente in Italien aufgeführt, ein Werk nicht etwa von 1954, sondern von 2003, erstaunlich energiegeladen, vorwärtsdrängend. Am Cello Fernando Caida Greco, ein junger argentinischer Aufsteiger, der im Verlaufe des Festivals beweist, wie faszinierend der Wechsel zwischen Moderne und Barockmusik, zwischen den Capricci des 1710 geborenen Joseph Marie Clément dall´Abaco und Intermezzi heutiger italienischer Komponisten auch für den Zuhörer sein kann. Auch mit dabei als Zuhörer: Biennale-Präsident Paolo Barrata.
    Wachsende Musikbiennale
    Vergessen die Jahre, als Barrata, der römische Politiker, Banker und parteilose Exminister, nur schnell den Preisträgern den Goldenen Löwen, ihre Auszeichnung in die Hand drückte und dann wieder verschwand. Spätestens seit diesem Jahr ist der weiße Schopf des 77-Jährigen auf fast jedem Konzert zu entdecken. Er, der Filmstars wie George Clooney, Jonny Depp oder Tom Ford auf dem Lido die Hand drückt, mit Kuratoren der Kunstbiennale wie Okwui Enwesor und Harald Szeemann plaudert, weiß mittlerweile auch, was György Kurtág so komponiert, wer Wolfgang Rihm ist, dass Kaija Saariaho zu den wichtigsten Komponistinnen Finnlands zählt und man mit lauten Standmixern eine Symphonie wie "Tempo Reale" programmieren kann: "Wir stellen fest, dass die Musikbiennale wächst und wächst. Schauen Sie sich um, wie viele Leute hergekommen sind. Das bedeutet auch mehr Verantwortung für uns."
    Verantwortung, das bedeutet nicht nur permanente Präsenz, sondern auch eine neue Programmierung, weiß Barratta. In diesem Jahr hat er deshalb den Etat des Festivals erstmals seit zehn Jahren wieder merklich aufgestockt, die Zahl der Konzerte wurde von 18 auf 23 erhöht, Schülergruppen werden eingeladen: "Die Welt fordert von uns, das wir uns öffnen sollen für neue Musikformen, wir sollen ein breiteres Angebot entwickeln, ohne die Qualität zu vernachlässigen. Wir wollen aber auch keine Musik diskriminieren."
    Frühere Festivalchefs wie Giorgio Battistelli oder Luca Francesconi bissen sich an diesem Anspruch noch verzweifelt und komplett unterfinanziert die Zähne aus. Dem seit 2012 amtierenden Ivan Fedele ist es hingegen trotz der Widrigkeiten gelungen, die Besucherzahlen merklich zu steigern.
    Avantgarde und moderne Klassiker
    Ein buntes Feuerwerk von 45 Uraufführungen wird bis Sonntag zum 60. Geburtstag der Musikbiennale gezündet. Es soll an die Zeiten von Prokofiev und Stravinsky erinnern, der unweit auf dem Friedhof San Michele begraben ist. An Aufführungen mit Manuel de Falla, Ernest Bloch, Ferruccio Busoni, Arthur Honegger, Paul Hindemith - lachende Komponisten in schrägen Nachkriegs-Anzügen, von denen vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos im Biennale Archiv liegen. Festivalleiter Ivan Fedele: "Dass wir dieses Jahr das 60. Jubiläum feiern können, zeugt doch von einer gewissen Durchsetzungskraft gegenüber ähnlichen Festivals weltweit. Wir haben immer versucht, zu experimentieren, Neues zu erforschen, verschiedene Kompositionsstile aufzuführen. In diesem Jahr stehen junge Komponisten im Mittelpunkt."
    (Musik: UA Troposfera)
    Abschied vom 20. Jahrhundert, Neustart im 21. Jahrhundert? Zumindest das neue Biennale College geht in diese Richtung. Alljährlich werden künftig vier Bewerberensembles ausgewählt, modernes Musiktheater zu präsentieren. Kleine szenische Werke, die experimentell, frech und frisch die vor über 400 Jahren auch in Venedig entstandene Operntradition auf den Kopf stellen sollen. Wie die bewusst klassisch wirkende Minioper "Troposfera": ein komplett überforderter Vater neben einer zeternden Mutter, der Sohn mit Kopfhörer und hängenden Hosen uninteressiert an der Familientragödie, an der die Tochter verzweifelt und schließlich in die Troposphäre aufsteigt.
    Ein 50-Minuten-Stück, teils gestelzt, teils rasant, dann wieder ironisch von Francesco Ciurlo komponiert. Da nimmt jemand die konstruierten Libretti des 18. Jahrhunderts auf die Schippe. Lorenzo da Ponte, Mozarts Librettist, lässt grüßen. Gänzlich auf- und abgedreht zeigt sich am selben Abend das Bühnenstück mit dem nicht ganz ernst gemeinten Titel "Transkription eines Fehlers". Das junge Team um Isabelle Kranabetter, Wolfgang Nägele und Alexander Chernyshkov versuchte sich – leider ohne ausreichend Probenzeit - an einer Mischung aus Theater und Oper, in der die Probe der Handlung gleichzeitig die Handlung ist und umgekehrt, Chaos vorprogrammiert – ein nicht hundertprozentig durchdachtes, aber ausbaufähiges Konzept, Lacher sind garantiert.
    "Wir suchen hier nach einer neuen Musiksprache, das ist nicht einfach, aber wo wenn nicht hier in Italien sind wir dafür prädestiniert, dem Land der klassischen Oper. Man muss einfach den Mut haben, dem Publikum etwas anderes zu zeigen", sagt Ivan Fedele. Das Problem jetzt: Fedele, selbst Komponist, verlässt die Musikbiennale in diesem Jahr nach den vertraglich geregelten fünf Jahren. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Einbruch oder neue Chancen?
    Wie geht es weiter?
    Wenn es das Biennale-Präsidium mit Paolo Barrata an der Spitze ernst meint mit seiner Verantwortung auch gegenüber der Musik, dann müssten die Konzerte an zentrale Orte geholt werden - Teatro Malibran am Rialto, Teatro la Fenice, San Marco oder Industriehallen des alten Hafens am Piazzale Roma, vor Jahren schon beeindruckende Konzertlocations. Wolfgang Rihm führte eines seiner Werke sogar im Markusdom auf – in den 80er-Jahren.
    Kritisch äußert sich auch Salvatore Sciarrino, Italiens derzeit bekanntester Komponist. Ihm wurde am Wochenende der Goldene Löwe verliehen. Obwohl er derzeit stark eingebunden ist in die Produktion seiner neuesten Oper für die Staatsoper Berlin, nahm er sich das Wochenende viel Zeit, Fragen zu beantworten. Zur Zukunft der jetzt 60-jährigen Biennale, zur Zukunft der modernen Musik.
    (Musik: Sciarrino, Cantiere del poema)
    Wie Biennale-Präsident Paolo Barrata sich von den Worten des von ihm hoch geschätzten Sciarrino beeinflussen lässt, bei der Wahl des neuen Musikbiennalechefs? Er wolle sich noch nicht festlegen, heißt es von oben. Kommende Woche müsste er einen Nachfolger präsentieren. Es könnte wieder ein Italiener werden, muss aber nicht, so Barrata zurückhaltend:
    "Also generell spricht nichts dagegen, auch einen Nichtitaliener zu nehmen."
    (Musik: UA Tempo Reale)