Donnerstag, 18. April 2024

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70 Jahre "Der Spiegel"
"Das alte Konzept des Leitmediums ist verloren gegangen"

Recherchieren, Story schreiben - das habe den Spiegel groß gemacht, sagte der Kommunikationswissenschaftler Lutz Hachmeister im DLF. "Eine Reduktion auf die Kernaufgaben wäre auch in der heutigen Zeiten die richtige Strategie", so Hachmeister.

Lutz Hachmeister im Gespräch mit Ulrich Biermann | 04.01.2017
    Logo des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" am Verlagsgebäude Ericusspitze in Hamburg.
    "Der 'Spiegel'-Journalismus ist volatiler geworden dadurch, dass eine Figur wie Rudolf Augstein dann doch fehlt." (dpa / picture alliance / Daniel Kalker)
    Ulrich Biermann: Heute vor genau 70 Jahren erschien, damals noch in Hannover, die erste Ausgabe des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel” – gern bezeichnet als eines der deutschen Leitmedien. Ein Garant der Meinungsfreiheit spätestens ab 1962, als der damalige Verteidigungsminister Strauß einen "Spiegel"-Redakteur und den Verleger und Herausgeber Rudolf Augstein verhaften ließ wegen Verdachts des Landesverrats. Selbst die Studenten gingen damals für den "Spiegel" auf die Straße.
    Dr. Lutz Hachmeister
    Dr. Lutz Hachmeister (Jim Rakete)
    - 70 Jahre "Der Spiegel", darüber möchte ich sprechen mit dem Kommunikationswissenschaftler Lutz Hachmeister, Gründer des Berliner Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik und einiges erfolgreiches mehr. Willkommen bei "Corso", Lutz Hachmeister!
    Lutz Hachmeister: Hallo! Das Institut ist jetzt in Köln!
    Biermann: Gut, dass Sie es sagen! Vorstellbar, dass das heute jemand für den "Spiegel" auf die Straße ginge? Studenten?
    Hachmeister: Nein. Ich glaube, dass der "Spiegel" auch in weitem Umfang ein studentisches Publikum verloren hat, das damals den "Spiegel" entdeckte als eine Art deutsches Zentralorgan kritischer Publizistik. Und heute bewegen sich Studenten auf anderen medialen Flächen, um es so zu sagen.
    Biermann: Würde überhaupt jemand noch für den "Spiegel" auf die Straße gehen?
    Hachmeister: Ja, wenn es eine drastische Überrollaktion in der Redaktion gäbe vonseiten der Staatsorgane, dann würden sich schon Leute für den "Spiegel" einsetzen, da bin ich ziemlich sicher.
    Biermann: Sie sind Jahrgang '59, Sie waren damals im Kindergarten bei der "Spiegel"-Affäre schätze ich. Aber Sie haben gerade schon diesen Begriff benutzt, das Medium der Gegenöffentlichkeit. Wann wurde es dazu? Wann wurde es für Sie dazu?
    Hachmeister: Das ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage, weil der "Spiegel" in den 1950er-Jahren ein unglaublich wildes Medium war, auch von seinem Personal her. Also von einstigen SS-Offizieren bis zu Wehrmachtsleuten bis zu Leuten, die in den Propagandakompanien der Wehrmacht ihr Handwerk gelernt hatten. Einige wenige Remigranten, ganz wenige Frauen, sehr männerbündisch, sehr paramilitärisch. Also fast alle hatten so einen Offiziers- oder Geheimdiensthintergrund, auch in der ganzen Informantensphäre. Das Geheimnis des "Spiegel" ist eigentlich, wie er aus dieser Grundsituation heraus zu einer Art Oppositionsorgan werden konnte. Das liegt im Wesentlichen an Augsteins stahlharter Kritik an dem Adenauer-Kurs, an der Westorientierung, an der Preisgabe der Ostzone, der DDR. Und damit galt er als Chefoppositioneller in der Publizistik, die ja so kritisch nicht war in Deutschland zu der Zeit in der Bundesrepublik. Und das hat diesen "Spiegel"-Nimbus begründet, dann symbolisiert durch diese Aktion 1962.
    Biermann: Wann haben Sie diesen Nimbus entdeckt für sich?
    Hachmeister: Also, als ich Student war Ende der 1970er-, Anfang 1980er-Jahre gab es eigentlich nur den "Spiegel" als relevantes Zeitungs-/Zeitschriftenorgan. Kein anderes Blatt hat auch nur annähernd eine solche Aufmerksamkeit genossen. Nicht die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die "Süddeutsche", galt als bayrisches Provinzblatt, die "Frankfurter Rundschau" noch so ein bisschen das Flaggschiff der Linken, bevor die "taz" dann gegründet wurde. Also der "Spiegel" war mit meilenweitem Abstand jeden Montag der Taktgeber der deutschen Publizistik, auch für alle übrigen Medien, auch für Radio und Fernsehen.
    Biermann: Hat es auch mit dem "Spiegel"-Statut zu tun, das 1949 formuliert wurde, "alle im 'Spiegel' verarbeiteten verzeichneten Nachrichten, Informationen, Tatsachen müssen unbedingt zutreffen, jede Nachricht und jede Tatsache ist peinlichst genau nachzuprüfen", wurde 1949 formuliert.
    Hachmeister: Ja, das ist ja auch eine heute noch bewundernswerte Maschine, also diese 80 Dokumentare, die da im "Spiegel" arbeiten, jeden einzelnen Satz prüfen, jede einzelne Faktenbehauptung. Das ist, glaube ich, weltweit immer noch einzigartig. Und ist auch das große Pfund des Blattes noch heute.
    Biermann: Ein Pfund, ein Statut, das natürlich in Zeiten blühender Verschwörungstheorien, lancierten Falschmeldungen, Lügenpressevorwürfen, nicht hoch genug gehalten werden kann. Aber das Halten allein reicht ja nicht aus.
    "Bedeutung hat sich natürlich sehr relativiert"
    Hachmeister: Nein, die Bedeutung des Blattes hat sich natürlich sehr relativiert, weil wir heute mit Twitter und Facebook über zwei ganz übergeordnete Plattformen verfügen, die ganz anders funktionieren als einzelne publizistische Organe als Zeitungen, Zeitschriften oder auch Fernsehsender. Und dieser Bedeutungsverlust des "Spiegel" liegt also nicht nur an ihm oder an einer verschlechterten journalistischen Leistung, sondern an einer objektiv anderen Medienumwelt. Dagegen kann man praktisch nichts machen. Man kann eine Stimme unter vielen sein, auch eine gewichtige Stimme unter vielen. Aber dieses alte Konzept des Leitmediums, das ist verloren gegangen, auch deshalb übrigens, weil andere Blätter nachgerüstet haben, um mal in diesem Militärjargon des "Spiegel" zu bleiben. Die "Süddeutsche" hat einen Rechercheverbund mit WDR und NDR gegründet. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" ist ein gewichtiges Blatt am Sonntag. Die "Zeit" hat sich in ihrer Stärke noch verbessert. Und das hat auch die Bedeutung des "Spiegel" noch etwas weiter geschmälert.
    Biermann: Apropos militärischer Sprachgebrauch: Rudolf Augstein hat vom "Spiegel" immer als Sturmgeschütz der Demokratie gesprochen. Der heutige Chefredakteur Klaus Brinkbäumer sieht das ein bisschen anders:
    "Sturmgeschütz der Demokratie – ich mag es nicht so gern militärisch. Sturmgeschütz ist nicht mein Begriff. Verteidiger der Demokratie allemal."
    !!Biermann:! Verteidiger der Demokratie, sagt Klaus Brinkbäumer. Es gibt Kritiker, die sagen, na ja, aus dem Sturmgeschütz ist die Spritzpistole Angela Merkels geworden.
    "Der "Spiegel"-Journalismus ist volatiler geworden"
    Hachmeister: Das glaube ich nicht. Der "Spiegel"-Journalismus ist volatiler geworden dadurch, dass eine Figur wie Rudolf Augstein dann doch fehlt, der ja vor geraumer Zeit gestorben ist, der in seinen Grundstandpunkten eigentlich immer sehr klar geblieben ist bis zu seinem gewissen Türken- und Franzosenhass. Das wusste man bei ihm, und das kam dann auch in jedem zweiten Kommentar vor. Es gab eine Verherrlichung von Bismarck als Gründer des Deutschen Reiches. Augstein war, glaube ich, ein sehr überzeugter Bismarckianer, und an so einer Figur konnte man sich natürlich reiben und bestimmte Dinge auch festmachen im Wortsinne. Das fehlt dem Blatt natürlich. Ich weiß aber nicht, ob das noch mal rückholbar ist, weil es solche Figuren in biografischer Hinsicht vielleicht gar nicht mehr gibt. Da kann der arme Klaus Brinkbäumer gar nichts dafür.
    Biermann: Wo fängt der Wandel an? Kann man den irgendwo verorten? Ich habe ab den 1980ern wahrgenommen, in Konkurrenz zu diesen ganzen Zeitgeistpostillen, die dann plötzlich auftauchten, auch sich der sprachliche Ton veränderte – mokant bis hin zu zynisch, ein bisschen besserwisserisch. Wie haben Sie das wahrgenommen?
    Hachmeister: Die Sprache des "Spiegel" ist ja noch mal ein Thema für sich. Der "Spiegel", wenn man alte Artikel nachliest, das kann ja heute jeder Hörer auch machen, alle Artikel sind frei verfügbar.
    Biermann: Grandioses Online-Archiv.
    Hachmeister: Grandioses Online-Archiv, Chapeau –, dann ist der "Spiegel" so eine Art gehobenes Studentenblatt, manchmal mit kabarettistischen Untertönen. Also wenn man die alten "Spiegel"-Ausgaben liest, das glaubt man gar nicht, welche Stilblüten man darin findet. In den 1960er-Jahren ist der größte Umbruch, weil der "Spiegel" da sehr an Auflage zulegt, mehr in den Mainstream gerät, der Chefredakteur Claus Jacobi ist ein Tory, eher auf der politischen Rechten zu verorten, was man dem "Spiegel" nicht zugetraut hätte in den 1960er-Jahren. Also ich glaube, der eigentliche Bruch hin zu so einer Art – wie soll man sagen – mehr in der Mitte gelagerten Blatt ohne große Ausschläge nach – wie soll man sagen –, ins Skurrile hinein und in ganz eigenständigen Stilformen, der beginnt eher schon in den 1960er-Jahren.
    Biermann: Der "Spiegel" wird immer wieder kritisiert als Hort von Elite und Alphajournalisten und vor allen Dingen Journalisten, eben nicht Journalistinnen. Ist das immer noch so?
    Hachmeister: Ich kenne die aktuelle Frauenquote nicht, aber er hatte in seiner Geschichte nie eine weibliche Herausgeberin, nie eine Chefredakteurin und auch die Zahl der sehr relevanten Ressortleiterinnen ist immer gering geblieben. Also es ist bis heute immer noch ein eher männerbündisches Blatt.
    Biermann: Ein männerbündisches Blatt – ist das die Zukunft?
    Hachmeister: Nein, sicher nicht. Also der Journalismus insgesamt ist femininer geworden, das ist ja auch völlig richtig so. Er hat nicht mehr ganz vorne diese stahlharten Themen, Militärfragen, Geheimdienstfragen, Geopolitik. Das ist vielleicht etwas in den Hintergrund geraten, das waren ja die großen Themen, die Leitthemen des frühen "Spiegel", und mit dieser veränderten gesellschaftlich-medialen Umwelt muss der "Spiegel" natürlich auch zurechtkommen, also dass er eben nicht mehr in dem Sinne das paramilitärische Sturmgeschütz sein kann.
    "Reduktion auf Kernaufgabe wäre die richtige Strategie"
    Biermann: Die Frage ist nur, wo ist der "Spiegel" noch von Relevanz, wie versucht der "Spiegel" relevant zu werden? Durch Titelbilder?
    Hachmeister: Also zunächst geht es einmal um das ökonomische Überleben eines solchen Blattes. Ich glaube, die ökonomische Situation ist viel gravierender als man nach außen kenntlich machen will. Wenn man so Insiderinformationen vertraut, also da muss weiter verschlankt werden, rationalisiert werden, optimiert werden, wie all diese Vokabeln aus der Medienökonomie sind. Und man versucht heute, mit vielen neuen Beiprodukten einfach mehr Reichweite in der Werbung zu erzielen. Da ist dieser infantile Onlineableger "bento".
    Man denkt immer, das ist so ein japanischer Sushishop. Es soll demnächst "Spiegel Klassik" geben, das hört sich an wie ein Magazin für Autoschrauber, ist aber für Bestager. Also das sind so verzweifelte Marketingideen durchgeknallter ökonomischer Optimierer. Das wird nicht zum Erfolg führen, obwohl ich die Verzweiflung erkenne, auch natürlich Geld verdienen zu müssen weiterhin beim relativ teuren Mitarbeiterstamm. Ich glaube, dass eine Reduktion auf die Kernaufgabe, nämlich Recherche, Storyschreiben, die den "Spiegel" groß gemacht hat, auch in heutigen Zeiten die richtige Strategie wäre.
    Biermann: Wo sehen Sie den "Spiegel" in zehn, 15 Jahren?
    Hachmeister: Mit einer wesentlich geringeren Auflage als heute, im Heftpreis wesentlich teurer als heute und in den Händen eines reichen Eigentümers, der sich den "Spiegel" leisten kann. Also Gruner+ Jahr wird meiner Prognose nach verkauft von Bertelsmann, eher früher als später, und es gibt in Frankreich ein Beispiel, "L'Express", 1953 nach den Vorbild des "Spiegel" gegründet worden, ein französisches Politikmagazin, ist zuletzt von Patrick Drahi gekauft worden, ein Multimilliardär und Kabelunternehmer, der sich den "L'Express" leistet.
    Und in diese Richtung wird es mit dem "Spiegel" auch gehen. Es sei denn, man findet ein Stiftungsmodell, das im Prinzip gemeinnützig finanziert wird. Das wäre auch eine Alternative. Kann ich mir im Moment schwer vorstellen, aber selbst die "FAZ" ist eine Stiftung, also vielleicht geht es in diese Richtung.
    Biermann: Carsten Maschmeyer hat doch einiges an Geld.
    Hachmeister: Ja, es gibt ja die Anekdote, das Stefan Aust das gerne kaufen würde, wenn der Wert des "Spiegel" so gesunken ist, dass er das mit dem Verkauf einiger Rennpferde sich leisten kann aus Rache. Mal sehen!
    Biermann: Herzlichen Dank, Lutz Hachmeister zu 70 Jahre der "Spiegel"!
    Hachmeister: Bitte!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.