Dienstag, 23. April 2024

Archiv

70 Jahre Grundgesetz
"Auch Populisten haben Meinungsfreiheit"

"Eine Zensur findet nicht statt." Was Artikel 5 des Grundgesetzes vor 70 Jahren festgelegt hat, sehen heute viele gefährdet – wenn im EU-Parlament Uploadfilter angebahnt werden oder beim Kampf gegen Desinformation im Internet der Staat gefordert wird. Sind die Ängste berechtigt?

Gerhart Baum und Ann Cathrin Riedel im Gespräch mit Sebastian Wellendorf / Text von Michael Borgers | 23.05.2019
Der Artikel 5 des Grundgesetzes zur Pressefreiheit und zur Meinungsfreiheit steht auf einer Platte aus Glas
Aus Artikel 5 des Grundgesetzes: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten." (picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
Als vor 70 Jahren in Bonn das Grundgesetz verkündet wurde, war Gerhart Baum 17 Jahre alt. Damals, 1949, sei er geprägt von den letzten Kriegsjahren gewesen und den Eindrücken der Nazi-Herrschaft, erinnert sich der ehemalige Bundesinnenminister im Gespräch mit @mediasres.
"Das Grundgesetz war für uns eine Hoffnung." Und die aufblühende Diskussionskultur sei in den Anfangsjahren der Bundesrepublik "aufs Engste mit Artikel 5 und der darin garantierten Meinungsfreiheit" verbunden gewesen, betont der FDP-Politiker. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ohne diese Diskurse, die wir damals geführt haben, bis heute eine Demokratie überhaupt funktioniert." Beispielsweise habe die Gleichberechtigung der Geschlechter "nur auf dem Papier" gestanden und sei erst dann "in zahlreichen Gesetzen" verwirklicht worden.
Auch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik habe es Debatten über Artikel 5 und die Frage gegeben, wie: "Ist die Meinungsvielfalt angesichts der Presselandschaft verwirklicht?" Denn schon damals habe es ein erstes Zeitungssterben gegeben und die Sorge vor fehlender Meinungspluralität. "Die Meinungs- und Gedankenfreiheit hängt natürlich auch an den Medien, die das transportieren." Deshalb sei auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk so wichtig, findet Baum. "Weil er ein Element dieser Meinungsfreiheit ist."
Vier Jahre lang, von 1978 bis 1982, war Gerhart Baum unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) für die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik verantwortlich. Dass er bis heute ein gefragter Redner und Interviewpartner ist, liegt auch an seinem Engagement nach den Jahren als aktiver Politiker. Der gelernte Jurist war an zahlreichen Verfassungsbeschwerden beteiligt gegen Gesetzesvorhaben, mit denen der Staat Freiheiten seiner Bürger einschränken wollte. Und meist hatte Baum Erfolg, wie bei Klagen gegen den "Großen Lauschangriff", das Luftsicherheitsgesetz und den damit möglichen Abschuss von Passagiermaschinen im Entführungsfall, oder die Vorratsdatenspeicherung.
Baum: Artikel 5 ist durch Fake News nicht in Gefahr
Die heute geführte Diskussion über sogenannte "Fake News" geht laut Baum "an der Sache vorbei". Das Internet verenge die Meinungsbildung zwar "mitunter sehr stark, und das hat auch Einfluss auf die Politik". Doch die Achtung von Artikel 5 sieht der Jurist aber nicht in Gefahr.
Meinungsfreiheit ende nicht, "wenn die Unwahrheit gesagt wird". In diesem Fall müsse eine andere Meinung dagegenstehen und ein Diskurs entstehen. "Auch Populisten haben Meinungsfreiheit", so Baum.
Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD, r) sitzt 1980 auf der Regierungsbank im Bonner Bundestag und liest den General-Anzeiger. Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher (FDP, M) liest mit. Links Innenminister Gerhart Baum (FDP).
Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD, r) sitzt 1980 auf der Regierungsbank im Bonner Bundestag und liest den General-Anzeiger. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP, M) liest mit. Links Innenminister Gerhart Baum (FDP). (dpa/picture-alliance/ DB Bundespresseamt)
Und was ist mit Facebook, Twitter und Co.?
Zu einer jüngeren Generation in der FDP gehört Ann Cathrin Riedel. Als Vorsitzende des Vereins LOAD - einem Verein für liberale Netzpolitik - setzt sie sich für eine liberale Netzpolitik ein. Aktuelle Medienberichte über mögliche Beeinflussungen der EU-Wahl in sozialen Netzwerken hält sie für übertrieben. Dass Facebook und Twitter sogenannte "Fake-Profile" löschten, sei zwar grundsätzlich zu begrüßen. Doch Probleme im und mit dem Internet würden erst durch falsche oder verkürzte Berichterstattung zu einem größeren Problem. Beispielsweise suggerierten aktuelle Überschriften, die AfD bestimme den Diskurs im Internet. Doch sei Twitter weder das Internet, noch nutzten es viele Deutsche.
Recherchen der Tagesschau zeigen, wie anonyme Konten auf Twitter zehntausende Tweets für die AfD absetzen. T-Online und Netzpolitik haben herausgefunden, wie die Partei auf Twitter trickst, indem sie beispielsweise bestehende Profile mit vielen Followern einfach umbenennt und einem neuen Zweck widmet.
Kampf gegen Desinformation: Alle sind gefragt
Ähnlich wie Gerhart Baum sieht Ann Cathrin Riedel die Meinungsfreiheit nicht durch Facebook, Twitter und Co. gefährdet. Um der Verbreitung von Desinformationen dort zu begegnen, sei zum einen jeder Einzelne gefragt, in digitale Diskussionen einzugreifen und gegebenenfalls zu widersprechen. Zudem müssten Behörden in ihrer Social-Media-Arbeit besser ausgestattet werden, fordert Riedel.
"Wir brauchen starke demokratische Institutionen, die in den sozialen Medien aktiv sind. Denn dort findet Kommunikation statt."