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8.1.1979 - Vor 25 Jahren:

Allmorgendlich herrscht in Phnom Penhs "Königlicher Hochschule für Schöne Künste" ein strenges Regiment: In den baufälligen Hallen der Akademie werden Mädchen und Jungen im Alter von acht bis achtzehn Jahren in höfischer Musik und klassischem Tanz der Khmer unterrichtet. Graziös drehen sie ihre zierlichen Körper auf einem Bein, heben geschmeidig die Arme über den Kopf oder strecken sie von sich wie Schwingen. Jede Pose, jede Krümmung der biegsamen Fingerspitzen, jede Nuance des Augenaufschlags wird kontrolliert und korrigiert von zwei greisen Ballettmeisterinnen.

Von Jürgen Hanefeld | 08.01.2004
    Dass die tausend Jahre alte Kunst der Khmer heute wieder geübt und aufgeführt wird, ist diesen beiden alten Damen zu verdanken. Sie gehören zu den wenigen Künstlern Kambodschas, die den Terror der Roten Khmer überlebten. Die durchhielten bis zu jenem Tag vor 25 Jahren, als die Armee des benachbarten Vietnam nach Phnom Penh einmarschierte. Dabei fiel kein einziger Schuß. Niemand leistete Widerstand, Märkte und Straßen waren menschenleer. Auf den Boulevards der Hauptstadt wuchsen Bäume, die Dächer der Villen aus französischer Kolonialzeit waren eingestürzt, Phnom Penh glich einer Geisterstadt.
    Dreieinhalb Jahre zuvor bereits hatte Pol Pots Bauernarmee die Metropole räumen lassen und ihre Bewohner zur Zwangsarbeit auf die Reisfelder abkommandiert. Unter den wenigen westlichen Augenzeugen war der Journalist Christoph Maria Fröder:

    Die Roten Khmer haben über Radio bekannt gegeben, daß die gesamte Hauptstadt Phnom Penh evakuiert werden müsse. Da hat es die einzigen wirklich grausamen Szenen gegeben, die ich beobachtet habe, nämlich als Kranke über die Straßen stadtauswärts getragen wurden. Andere wiederum haben versucht, auf allen Vieren zu krabbeln, weil sie keine Verwandten hatten und nicht mehr gehen konnten. Manche sind in Rollstühlen an der Botschaft vorbeigefahren. Das war ein erschütterndes Bild, und das war ein Bild auch menschlicher Grausamkeit, wie ich es auch nicht erwartet hatte.

    Was Fröder nicht ahnen konnte: Die Vertreibung war bloß der Auftakt zu einem beispiellosen Völkermord. Bei der Zwangsarbeit auf den "Killing Fields", wie sie später genannt wurden, brachen Hunderttausende krank und erschöpft zusammen, wurden mit Spaten und Hacken erschlagen. Etwa 1,7 Millionen Kambodschaner, ein Drittel der Bevölkerung, darunter praktisch die gesamte Intelligenz des Landes, wurden Opfer des zynischen Versuchs, einen "neuen Menschen" zu kreieren.
    Darunter auch sechs Kinder des heute 81-jährigen Königs Sihanouk. In seinem wechselvollen Schicksal spiegelt sich die Tragödie des kleinen Landes am Mekong. Noch unter den Franzosen gekrönt, führt Sihanouk Kambodscha 1953 in die Unabhängigkeit, verzichtet auf den Thron, läßt sich zum Regierungschef wählen und steuert zum Ärger der USA einen Kurs strikter Neutralität. Weil er nicht ihr Verbündeter sein will im Krieg gegen Vietnam, lassen die Amerikaner Sihanouk 1970 wegputschen. Vom Exil in Peking aus organisiert er den Widerstand einer maoistischen Rebellengruppe, der er selbst den Spitznamen Khmer Rouge verpaßt – Rote Khmer. Als die fünf Jahre später ihre Schreckenherrschaft entfalten, ernennen sie Sihanouk zwar pro forma erneut zum Staatschef, stellen ihn aber zugleich unter Hausarrest. Auch der endet erst mit dem Einmarsch der vietnamesischen Invasoren vor jetzt 25 Jahren. Kaum haben die Besatzer den Blutrausch Pol Pots und seiner Schergen beendet, klagt Sihanouk am 18. Januar 1979 vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen:

    Wir haben unsere nationale Souveränität, unsere Unabhängigkeit und unsere territoriale Integrität vollständig verloren. Wir beschuldigen Vietnam, Kambodscha überfallen und kolonialisiert zu haben.

    Mit diesem Auftritt übernimmt Sihanouk die zwielichtigste Rolle seines Lebens. Er dient von nun an als Galionsfigur einer anti-vietnamesischen Koalition, die es den ins Grenzgebiet zu Thailand geflohenen Roten Khmern ermöglicht, noch 20 Jahre lang einen grausamen Guerilla-Krieg gegen die Regierung in Phnom Penh zu führen - ausrüstet und finanziert von China und den USA. Vereint im Willen, Vietnam zu schaden, setzten Peking und Washington sogar durch, daß Kambodscha in der Vollversammlung der Vereinten Nationen noch über Jahre nicht von der Regierung in Phnom Penh vertreten wurde, sondern vom längst gestürzten Blutregime der Roten Khmer. Deren Verbrechen sind bis heute nicht gesühnt. Schuld daran ist nicht nur Ministerpräsident Hun Sen, einst selbst ein Roter Khmer, den vietnamesische Besatzer als Regierungschef einsetzten. Schuld ist auch die tiefe Verstrickung Chinas und der USA in die Tragödie Kambodschas.