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80 Jahre Büchergilde Gutenberg

"Als ich meine Lehrstelle als Setzer antrat, kam sofort der Vertrauensmann der Büchergilde zu mir - das war Ehrensache, dass man da Mitglied wurde", erinnert sich Peter Schenk. Das System der Vertrauensleute hat die Büchergilde groß gemacht. In Betrieben und Stadtteilen suchten Mitglieder das Gespräch über Literatur, kassierten die Beiträge, verteilten Zeitschriften, nahmen Bestellungen auf und besorgten die Bücher. Arbeiter, Angestellte und Beamte waren in gleicher Weise ehrenamtlich aktiv. "Sie waren Überzeugungstäter", meint Peter Schenk, "überzeugt von der Idee, von der Philosophie der Büchergilde.

Von Frank J. Heinemann | 29.08.2004
    Es war einmal: eine Buchgemeinschaft als Überzeugungsgemeinschaft - die Büchergilde Gutenberg. Ein Mitarbeiter, einst Druckerei-Lehrling, erinnerte sich. Nachzulesen im Jubiläumsheft der Gilde 1999. Die Zeit der "Überzeugungstäter" war da lange vorbei, die Verbindung zur Arbeiterbewegung gerade gekappt. Bei den Gewerkschaften hatten die Buchhalter über die Bücher gesiegt: Man hatte den lästigen Zuschussbetrieb einigen Großverlagen angeboten, und als sie ablehnten gestattete man 1998 den "Management-Buyout". Vier leitende Mitarbeiter übernahmen, ohne sich zu übernehmen. Das Experiment gelang allerdings nur, weil man mit einem wesentlichen Teil der Tradition endgültig brach. Geschäftsführer Mario Früh beschreibt heute den Bruch im Branchenblatt Buchreport so:

    Wir sehen uns noch immer als Institution, die sich für Buchkunst und Buchhandwerk einsetzt. Insofern sind wir bei unseren Wurzeln geblieben. Der Anspruch aber, die Arbeiter mit Büchern zu versorgen und zu bilden, ist verloren gegangen. Heute haben wir eine ganz andere Klientel. Es sind vor allem sehr gut ausgebildete Menschen, oft Akademiker. Sie sind zwischen 30 und 50 Jahre alt und wohnen hauptsächlich in Großstädten.

    Die Wurzeln reichen 80 Jahre zurück. 29. August 1924: Im "Volksbildungshaus" in Leipzig wird von Druckern unter Führung des Gewerkschafters Bruno Dressler die Büchergilde Gutenberg gegründet. Eine proletarische Kulturtat: Schöne Bücher, in Eigenverantwortung produziert, dank kleiner Preise für Arbeiter zugänglich, eine Institution der Arbeiterbildung und ein Forum der Gesellschaftskritik. 1933 war es vorbei, SA marschierte in die Geschäftsräume in Berlin, der Leiter, Bruno Dressler, wurde verhaftet, die Gilde in die "Arbeitsfront" überführt. 1934 emigrierte Dressler in die Schweiz, wo er die Arbeit in kleinerem Rahmen fortsetzte. Schon 1947 gelang die Neugründung als gewerkschaftseigene Buchgemeinschaft in Frankfurt, die unter Leitung des Gründersohns Helmut Dressler immerhin 300.000 Mitglieder erreichte. 1974 starb Dressler und die Büchergilde feierte 50. Geburtstag. Es knisterte da schon bedenklich im Traditionsgebälk der Gewerkschaftsbewegung, nicht zuletzt bei den von der elektronischen Revolution bedrohten Druckern. Doch der Festredner Günter Grass beschwor noch einmal das alte Ideal des "lesenden Arbeiters":

    Von den Arbeiterbildungsvereinen unter der Devise "Wissen ist Macht" bis zur Gründung und Praxis der Büchergilde Gutenberg reicht diese Tradition. Ohne sie hätte sich kein August Bebel zu seinem besonderen Format entwickeln können. Für die Mehrheit der Arbeiter und Angestellten ist die frühe Tradition des lesenden Arbeiters, weil radikal abgebrochen, kaum erinnerlich: Großvater las noch. Hier beginnt das Versäumnis der bundesdeutschen Gewerkschaften.

    Aber 1974 war es schon zu spät, Versäumtes nachzuholen. Die Buchclubs waren fest in der Hand der Großen: Die Konzerne Bertelsmann und Holtzbrinck teilten sich diesen "zweiten Buchmarkt". Ihre Clubmitglieder zählten nach Millionen. Die Gewerkschaften waren unfähig, die Kontakte zu ihrer Millionenmitgliedschaft zu nutzen, um die kleine Gilde wachsen zu lassen. Ihre Geschichte spiegelt die allgemeine Misere gewerkschaftlicher Kulturpolitik. Was nach 80 Jahren bleibt, ist ein Nischenunternehmen - klein aber fein:

    Als Fels in der Brandung zwischen Großkonzernen macht die Büchergilde weiterhin Bücher, wie Bruno Dressler es 1924 forderte: nur das Beste vom Besten. Über 150 Auszeichnungen der Stiftung Buchkunst für "die schönsten deutschen Bücher" bestätigen dies wieder und wieder - und es ist kein Ende abzusehen,

    verkündet das jüngste Gilde-Magazin den 110.000 Mitgliedern. Der Quasi-Monopolist Bertelsmann hat vier Millionen. Was Günter Grass 1974 sagte, klingt herüber wie aus sehr fernen Zeiten:

    Wer liest, lebt vielschichtiger und wie in aufgehobener Zeit. Eine Gesellschaft jedoch, deren größte, doch allgemein benachteiligte Gruppe, nicht liest, wird von ihren Grundlagen nichts erfahren können. Es könnte eine Zeit kommen, in der es über solche Gesellschaft nur noch Befunde der Barbarei zu lesen gäbe.

    Den Mut der Davids von der Büchergilde kann man nur bewundern.