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9/11 "war eine ikonische Zerstörung"

Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 sei die Identität der amerikanischen Nation selber infrage gestellt und bedroht worden, sagt der Philosoph Norbert Bolz. Daher habe man auch mit Symbolpolitik reagieren müssen, um die verwundete amerikanische Seele wieder zu heilen.

Norbert Bolz im Gespräch mit Gerd Breker | 12.09.2011
    Dirk-Oliver Heckmann: Nichts ist mehr so, wie es vorher war. Kaum eine Formulierung hat man nach dem 11. September 2001 so oft gehört. Aber ist dem auch tatsächlich so? War 9/11 ein Tag, der die Welt verändert hat? Das hat mein Kollege Gerd Breker gestern Abend den Philosophen Norbert Bolz gefragt.

    Norbert Bolz: Das stimmt auf jeden Fall, und zwar weltpolitisch – da ist es mit Händen zu greifen -, aber ich denke auch für jeden einzelnen Menschen von uns, und das erlebt man ja spätestens dann, wenn man versucht, mal rasch ins Flugzeug zu kommen. Man hat es mittlerweile schon wieder vergessen, dass die Schärfe dieser Kontrollen ja herrührt vom 11. September. Viele andere Dinge haben das Leben erschwert und die Angst für uns alle ist natürlich erheblich gewachsen, auch wenn sie oft imaginär ist.

    Gerd Breker: Welche Angst ist das, dass irgendwas passieren könnte, oder dass konkret irgendein islamistischer Terrorist einen Anschlag verüben könnte?

    Bolz: Nun, die Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus ist ja so abstrakt und gleichzeitig eben wieder ultrakonkret, weil es an jedem bestimmten Ort der Welt beliebig und unvorhersehbar geschehen könnte, dass wir im Grunde auch nur mit einer abstrakten Angst reagieren können. Das heißt, alles ist überall möglich, und wir werden ja auch ständig von den Politikern und Sicherheitskräften mit gewissen Drohungen konfrontiert. Also insofern ist das ein neues Leben in Angst, an das wir uns natürlich mittlerweile schon wieder gewöhnt haben.

    Breker: Wenn wir mal auf die Vereinigten Staaten von Amerika schauen, Herr Bolz: Der Angriff auf die stärkste Macht der Welt, auf deren eigenem Boden, das war nach Pearl Harbor das erste Mal. Was bewirkte das in den USA?

    Bolz: Ich glaube, es ist in der Tat eine der ganz großen narzisstischen Kränkungen für die letzte Supermacht. Ich würde auch den Vietnam-Krieg noch dazunehmen. Diese Macht, die schien unverwundbar. Es war, wenn man so will, der ewige Sieger der Weltgeschichte, der jetzt aber eine ungeheuere neue Verwundbarkeit gezeigt hat, gegen die offenbar kein Kraut gewachsen ist. Also das wirklich für die Amerikaner Erschütternde an 9/11 ist ja auch dies, dass man bis zum heutigen Tag nicht weiß, wie man mit dieser Gefährdung tatsächlich umgehen soll. Und alle Kriege gegen den Terror, die seither geführt worden sind, haben ja im Grunde diese Ungewissheit bestätigt. Nirgendwo hat man wirkliche Erfolge gezeitigt. Selbst mit dem Tod Osama bin Ladens hat sich an der Gesamtgefährdung und an der prekären Lage nichts geändert. Also gerade für die Amerikaner ist die Welt eine völlig andere geworden.

    Breker: Die Terroristen hatten den Riesen USA herausgefordert, und dieser Riese, wenn wir ehrlich sind, Herr Bolz, der konnte gar nicht anders, als mit einem kräftigen Schlag zu antworten.

    Bolz: Das ist ohne Zweifel richtig. Man ist ja, denke ich, als Laie, als normaler Bürger gar nicht in der Lage abzuschätzen, was weltpolitische Aktionen im Einzelnen bedeuten. Aber die Symbolik alles dessen, was seither geschehen ist, ist natürlich verständlich und nachvollziehbar. Es wurde ja die Identität der amerikanischen Nation selber infrage gestellt und bedroht, und deshalb musste man auch mit Symbolpolitik reagieren. Also ich stimme im Grunde der These, die in Ihrer Frage steckt, zu. Das war nicht nur der konkrete Kampf gegen eine konkrete Bedrohung, sondern vieles war auch symbolisches Handeln, um die verwundete amerikanische Seele wenigstens ein bisschen wieder zu heilen.

    Breker: Bleiben wir, Herr Bolz, bei der Symbolik. Der Angriff auf das World Trade Center, kam das denn wirklich nur von den Terroristen, oder ist das später vom Westen so interpretiert worden als Angriff auf die freie Welt, auf den freien Handel, auf die westlichen Werte?

    Bolz: Ich glaube, man würde die Terroristen unterschätzen, wenn man Zweifel hätte an der hohen Symbolik gerade dieses Angriffs. Also gerade die nicht-westliche Welt, gerade die islamische Welt hat einen sehr, sehr tiefen Begriff von Symbolik, und das war ein ikonischer Akt, das war eine ikonische Zerstörung. Man konnte sich im Grunde gar kein besseres Ziel vorstellen, als diese beiden Türme, die ja wirklich wie Denkmale des westlichen Imperialismus dagestanden haben. Diese Türme zum Einsturz zu bringen, ich denke, das ist ein Trauma für die westliche Welt, das sich niemals vergessen wird.

    Breker: Der damalige SPD-Bundeskanzler hat von der uneingeschränkten Solidarität mit den USA gesprochen, der Bündnis-Grüne Außenminister hat dem zugestimmt. Heißt das, dass wir am Hindukusch wirklich unsere Freiheit verteidigen?

    Bolz: Ja man muss ja gerade bei der deutschen Politik sehr unterscheiden zwischen konkretem Handeln und Wortpolitik, also reiner Rhetorik. Man weiß ja, dass der Einsatz der Bundeswehrtruppen in Afghanistan genauso wie die übrigen Einsätze der Bundeswehr oder deutscher militärischer Kräfte in Weltkrisengebieten immer mit furchtbar vielen Kautelen belegt sind, wenn man das etwa mit dem entschlossenen und unbezweifelbaren Einsatz etwa von Ländern wie Kanada vergleicht. Also wir haben immer unsere enormen Vorbehalte, aber es ist sicher richtig, dass auch die Schröder-Regierung damals erkannt hat, dass hier sehr viel mehr auf dem Spiel steht als die amerikanische Souveränität, nämlich dass es um einen Angriff auf die westliche Welt insgesamt gegangen ist.

    Breker: Was wurde aus den westlichen Werten, Herr Bolz? Stichworte Guantanamo, Abu Ghraib, die geheimen Gefängnisse, die es in Rumänien, in Libyen und anderswo gab.

    Bolz: Nun, diese westlichen Werte waren wohl nie so stabil in der Realpolitik verankert, wie man das heute rückblickend vielleicht meinen könnte. Der Unterschied zu früher ist nur der: Heute bleibt nichts mehr geheim. Geheimpolitik, sei es der CIA, oder welcher Geheimorganisationen auch immer, muss heute mit WikiLeaks und Ähnlichem rechnen, also mit totaler Transparenz im Internet-Zeitalter, und seither tapst auch im Grunde jede große Macht von Skandal zu Skandal, von Peinlichkeit zu Peinlichkeit, und da ist auch kein Ende abzusehen. Ich bin selbst gespannt darauf, ob es in Zukunft überhaupt noch große Politik, die immer auch Geheimpolitik war, weiter geben kann, denn Politik ist ein schmutziges Geschäft und darüber haben uns humanistische Parolen jahrhundertelang hinweg getröstet oder hinweg gelogen. Heute sehen wir sehr deutlich und es ist sehr, sehr schwer geworden, Weltpolitik in irgendeiner Form überhaupt noch zu praktizieren, ohne humanistische Einwände und humanistische Kritik zu provozieren.

    Heckmann: War 9/11 ein Tag, der die Welt verändert hat? Darüber hat mein Kollege Gerd Breker mit dem Philosophen Norbert Bolz gesprochen.

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