Freitag, 19. April 2024

Archiv

9. November 1989
"Können stolz sein auf diesen Tag"

Am 9. November sollte Deutschland nicht über die Linkspartei diskutieren, sondern sich darauf besinnen, "was uns dieser Tag gebracht hat", sagte Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, im DLF. In der Bewertung der DDR sollte man auch "Zwischentöne zulassen".

Thomas Krüger im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 08.11.2014
    Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Thomas Krüger posiert lachend für ein Pressefoto.
    Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (picture-alliance / dpa / Tim Brakemeier)
    Dass die DDR eine Diktatur und die BRD eine Demokratie gewesen seien, lerne heute jedes Kind in der Schule, sagte Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, im Deutschlandfunk. Dennoch habe es auch im Osten Menschen gegeben, "die gute Erfahrungen dabei gemacht haben, ein richtiges Leben im falschen zu leben". Diese Erfahrungen wollten sich die Menschen auch nicht nehmen lassen. Geschichte sei nicht immer schwarz-weiß, so der SPD-Politiker. "Wir täten gut daran, auch Zwischentöne zuzulassen."
    So sei auch die politische Landschaft 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer eine andere, sagte Krüger mit Blick auf die Kritik des Liedermachers Wolf Biermann an der Linkspartei im Bundestag. Man könne mit einer damals "absolut relevanten" Haltung" heute nicht alle Zwischentöne erfassen: Die Linkspartei habe zwar das politische Erbe der SED angetreten, vereine heute aber unterschiedliche Biografien.
    Und am 9. November immer noch über die Linkspartei zu diskutieren, ist laut Krüger "eine komische Diskussion". Die Deutschen könnten "stolz sein auf diesen Tag" und sollten sich "darauf besinnen, was dieser Tag uns gebracht hat".

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Gestern ist im Bundestag gedacht worden, Wolf Biermann hat vorgetragen, es hat die Diskussionen gegeben, und es gibt sie, die zu erwarten waren. Berlin feiert 25 Jahre Mauerfall, und das soll für uns Anlass sein, über die politische Verfasstheit dieses Deutschlands heute Morgen zu reden. Und dazu begrüße ich am Telefon den Leiter der Bundeszentrale für Politische Bildung, Thomas Krüger. Nach Berlin erst mal: Guten Morgen, Herr Krüger!
    Thomas Krüger: Schönen guten Morgen!
    Zurheide: Herr Krüger, also: Wo stehen wir heute, 25 Jahre danach? Gibt es noch so etwas wie DDR, Bundesrepublik, oder ist das, zumal bei der jüngeren Generation, schon völlig weg? So habe ich es in dieser Woche gelesen.
    Krüger: Also ich glaube schon, dass man das generationsspezifisch differenzieren muss. Wir haben heute mit einer jungen Generation zu tun, wo man Ost und West eigentlich immer weniger unterscheiden kann. Ich habe manchmal den Eindruck, dass in dieser Republik die Unterschiede zwischen Nord und Süd mittlerweile auch gravierend geworden sind.
    Wenn man allerdings genau hinguckt, wird man feststellen, dass bei den älteren Generationen die Erfahrungen – und das ist auch nur mal ganz natürlich –, die Erfahrungen mit dem zweigeteilten Deutschland immer noch nachwirken. Und das führt natürlich auch zu mentalen Unterschieden, auch zu Missverständnissen, und es ist nur recht und billig, wenn man Menschen ihre Erfahrungen, vor allem ihre guten Erfahrungen, die sie mit ihrem Leben in dem jeweiligen System gemacht hat, auch lässt.
    Mehr auf die Zwischentöne hören
    Zurheide: Damit sind wir ja bei der spannenden Frage und mitten in der Debatte, die gestern im Bundestag auch zu all dem geführt haben, was wir heute Morgen in den Zeitungen lesen, was wir hier dann natürlich auch wieder bewerten müssen. Es gab ja auch eine Debatte über die Frage Unrechtsstaat oder nicht. Ich gebe gerne zu, dass ich mich eigentlich wundere. Natürlich war die DDR eine Art Unrechtsstaat, aber die Frage ist, ob dieser Unrechtsstaat dann gleichsam die Keule sein muss, mit der man alles erschlägt. Ist das die Spannbreite der Debatte?
    Krüger: Ich glaube, diese Diskussion hat uns in den 90er-Jahren lange Zeit umgetrieben, dass wir also ständig versucht haben, öffentlich zu erinnern, was die Systemunterschiede zwischen der DDR und der Bundesrepublik waren.
    Das kann, glaube ich, jedes kleine Kind mittlerweile hersagen. Das lernt man in der Schule, das eine eine Demokratie, das andere eine Diktatur. Aber wenn man danach fragt, war denn alles schlecht in der DDR, oder umgekehrt die Frage, war alles gut in der Bundesrepublik, und sich mit den Menschen unterhält, dann wird man auf ganz interessante und sehr unterschiedliche, manchmal sogar überraschende Befunde stoßen.
    Für viele Flüchtlinge und Vertriebene war es eben kein Zuckerschlecken, in den 50er-Jahren in der Bundesrepublik, im Westen zu leben. Das war so etwas wie kalte Heimat. Sie hatten Schwierigkeiten mit der Integration. Umgekehrt gab es im Osten natürlich Menschen, die aus den widrigen Situationen versucht haben, das Beste zu machen. Sie haben versucht, ein richtiges Leben im falschen zu führen, miteinander in Nachbarschaft auszukommen und zu leben, und haben dabei auch gute Erfahrungen gemacht und wollen sich diese guten Erfahrungen nicht nehmen lassen. Deshalb muss man schon mal sehr vorsichtig abwägen und differenzieren und vielleicht auch ein bisschen auf die Historiker hören, die sagen, Geschichte und Erinnerung ist eben kein Schwarz-Weiß, sondern es existieren immer unterschiedliche Narrative, unterschiedliche historische Erinnerungen nebeneinander.
    Und wir tun, glaube ich, ganz gut daran, wenn wir die gelten lassen, wenn wir ihnen zuhören und wenn wir diese Zwischentöne versuchen, stärker zu machen, und nicht immer schwarz-weiß malen.
    "25 Jahre danach ist die politische Landschaft eine andere"
    Zurheide: Das waren dann natürlich gestern von Wolf Biermann keine Zwischentöne, das war aus seiner Sicht verständlich dann, solche Begriffe wie Drachenblut einzubringen. Das war dann verständliches Hau-drauf?
    Krüger: In der politischen Bildung lieben wir die Kontroversen. Und Wolf Biermann ist jemand, der kein Auge trocken lässt in dem Zusammenhang. Ich als ehemaliger Bürgerrechtler kann mich sehr gut in diese Situation hineinversetzen. Sein gestern gesungenes Lied "Ermutigung", das war für uns –
    Zurheide: Die Hymne.
    Krüger: – die Hymne schlechthin. Die "Schlymne" und die Durchhaltehymne und eine, an der wir uns auch gestärkt haben gegenseitig. Aber man muss einfach gucken, 25 Jahre danach ist die politische Landschaft eine andere. Man kann nicht mit einer bestimmten Haltung von damals, die absolut relevant ist, heute alle Zwischentöne und alle Differenzierungen erfassen.
    Wir müssen uns darauf besinnen, was der 9. November diesem Land gebracht hat
    Zurheide: Dann übrigens auch in der Bewertung derjenigen, die da jetzt im Parlament sitzen.
    Krüger: Absolut. Aus meiner Sicht muss man natürlich sagen, dass die Linkspartei ein Erbe angetreten hat, das SED-Erbe. Aber wenn man genau hinguckt, findet man da viele andere Leute, die mit ganz anderen Geschichten in die Partei eingetreten sind. Eine ehemalige Bürgerrechtlerin zum Beispiel war lange Berliner Abgeordnete. Inzwischen leider verstorben, Marion Seelig. Man kann da nicht sagen, die Frau hat ein SED-Erbe angetreten.
    Nein, es sind unterschiedliche Biografien, unterschiedliche Erfahrungen in dieser Partei aufzufinden, und die hat sich auch transformiert. Sie hat versucht und versucht es immer noch, ihren Platz in der Demokratie zu suchen.
    Auf der anderen Seite sind in dieser Partei eben immer noch Leute anzutreffen, denen man schon strenge Fragen stellen muss. Und ich finde, wir sollten es uns da allen nicht leicht machen, auf der anderen Seite aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sich in dieser Partei selbst Wandlungsprozesse vollzogen haben, die uns eigentlich alle ein bisschen vorsichtiger mit dem Thema umgehen lassen sollten. Es gibt viele Leute, die diese Partei wählen. Das machen sie aus sehr unterschiedlichen Motiven, und da jetzt immer die Keule hervorzuholen und zu sagen, ja, das ist eigentlich in Wirklichkeit die alte SED, trifft es nicht. Und ich finde, am 9. November nun quasi nur noch über die Linkspartei zu diskutieren, als altes Zeichen, als Ikone für DDR, ist auch ein bisschen eine komische Diskussion.
    Ich erinnere mich, am 9. November waren wir alle froh, dass die Mauer gefallen ist. Es war eine Freiheitserzählung. Da haben wir ein neues Leben angefangen. Eigentlich könnten wir stolz sein auf diesen Tag und müssen nicht solche ideologischen Diskussionen führen, sondern uns vielleicht darauf besinnen, was der 9. November diesem Land gebracht hat, den heute jungen Generationen, die freizügig leben können, die Bewegungsfreiheit haben, die in Freiheit und Demokratie ihre politischen Werturteile treffen können. Das ist doch eine tolle Geschichte!
    Zurheide: Danke schön, Thomas Krüger, für dieses vehemente Plädoyer gerade am Schluss. Ich habe Ihnen gerne zugehört. Das könnte uns einstimmen auf diesen Tag, auf eine differenzierte Betrachtung. Thomas Krüger, der Chef der Bundeszentrale für politische Bildung, im Deutschlandfunk um 8:28. Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.