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90. Geburtstag von Anne Frank
"Grandios, wenn wir sie heute als Autorin hätten"

Am 12. Juni 2019 würde Anne Frank, die im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb, 90 Jahre alt. Ihr Kriegstagebuch wurde weltberühmt. Wir stellen ihren gerade zum ersten Mal in einer Einzelausgabe erschienenen Romanentwurf "Liebe Kitty" und Bücher über Anne Frank vor.

Von Dina Netz | 08.06.2019
3 Buchcover zu Anne Frank
Neues von einem Mädchen, das seine Träume nicht leben durfte (Cover Carlsen Verlag, Insel Verlag, Secessions Verlag, Portrait Anne Frank picture alliance)
Am 29. März 1944 notierte Anne Frank in ihrem Tagebuch: Tags zuvor habe die niederländische Exil-Regierung in der BBC angekündigt, dass...
"...nach dem Krieg eine Sammlung von Tagebüchern und Briefen aus dieser Zeit herauskommen soll. Natürlich stürmten alle gleich auf mein Tagebuch los. Stell dir vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman vom Hinterhaus herausgeben würde."
Anne Frank, die nach dem Krieg Journalistin und Schriftstellerin werden wollte, begann mit der Arbeit: Seit Juli 1942 hatte sie im Versteck der Familie Tagebuch geschrieben. Dies nahm sie als Grundlage, arbeitete es aber zu einer literarischen Fassung um, die sie später veröffentlichen wollte. Sie konnte sie vor ihrer Verhaftung 1944 nicht mehr beenden. Dieser Roman, der auf dem Tagebuch basiert, lag bisher nicht in einer Einzelausgabe vor.
"Eine eindrucksvolle Lektüre, jedes Mal wieder"
Unter dem Titel "Liebe Kitty" ist das Fragment nun, sorgfältig ediert, im Secession Verlag für Literatur erschienen. Verleger Joachim von Zepelin erklärt den Unterschied zwischen Tagebuch- und Romanfassung, die in der Anne Frank-Forschung meist "Version A" und "Version B" des Tagebuches genannt werden:
"Das ist wirklich sehr interessant, das zu sehen, weil man in diesen überarbeiteten Texten eine unglaubliche Entwicklung sehen kann von diesem 13-jährigen Mädchen anfangs, in dieser ersten Tagebuch-Variante, bis zu der zweiten Tagebuch-Variante, wo sie sehr viel reflektierter und auch sehr viel genauer schreiben kann, sehr viel kompetenter noch die Situation beschreibt, wie sie im Hinterhaus ist, wie sie unter den Familienangehörigen ist. Und auch ihre eigene Situation – sie schreibt sehr viel auch über sich selbst und wie sie sich wahrnimmt in dieser Situation. Das ist ein sehr großer Unterschied. Wenn man das jetzt als einen fortlaufenden Text liest, diese zweite, bisher jedenfalls nicht als Einzelpublikation herausgegebene Version des Tagebuchs, dann ist das wirklich eindrucksvoll, das zu lesen, diese Reflektiertheit in diesem Text und diese Gewandtheit in der Formulierung. Es ist eine eindrucksvolle Lektüre, jedes Mal wieder."
Otto Frank mischte die Fassungen
In der überarbeiteten Fassung wandte sich Anne Frank deutlich stärker an ein mögliches Nachkriegs-Lesepublikum, dem sie die genauen Umstände ihres Lebens im Versteck oder das Schicksal jüdischer Freunde beschrieb, die deportiert wurden. Viele sehr emotionale Passagen über ihre erste Verliebtheit, über Streitereien mit ihrer Mutter oder über ihre erste Periode strich Anne Frank hingegen – wahrscheinlich erschienen sie ihr für eine Veröffentlichung zu privat.
Das, was die ganze Welt heute als "Tagebuch der Anne Frank" kennt, ist in Wahrheit eine Mischform aus den Versionen A und B, die Annes Vater Otto Frank nach dem Krieg zusammenstellte. Zum Teil aus der Not heraus – das erste Jahr des ursprünglichen Tagebuches ist verloren, und die Aufzeichnungen ihrer letzten Monate im Hinterhaus-Versteck konnte Anne nicht mehr überarbeiten. Einige Passagen hat Otto Frank wohl auch bewusst gestrichen, zum Beispiel Auseinandersetzungen zwischen Anne Frank und ihrer Mutter. Durch diese Mischung der Versionen A und B erklärt sich der etwas uneinheitliche Stil der heute kanonischen Ausgabe.
Wunscherfüllung für Anne Frank
Dass mit "Liebe Kitty" nun zum ersten Mal der Roman in einer eigenen Publikation vorliegt, ist vor allem Laureen Nussbaum zu verdanken: Die über 90-jährige Literaturwissenschaftlerin war in Amsterdam mit der Familie Frank befreundet, stammte wie diese aus Frankfurt. Nussbaum überlebte den Krieg und wanderte in die USA aus. Sie hat für "Liebe Kitty" einen sehr persönlichen Essay geschrieben, den sie mit den Worten enden lässt:
"Seit mehr als 25 Jahren war es mein großes Anliegen, dass Annes ,Hinterhaus' als eigenständiges Romanfragment erscheinen möge, damit Anne endlich als die junge Schriftstellerin anerkannt werde, zu der sie sich offensichtlich während der letzten Monate im Hinterhaus entwickelt hatte. Ich bin froh und dankbar, dass es nun endlich so weit ist!"
Eine Art Wiedergutmachung nennt Laureen Nussbaum die Veröffentlichung von "Liebe Kitty". Der Verleger Joachim von Zepelin ergänzt:
"Das Ganze ist ja letztlich auch eine Wunscherfüllung, denn Anne Frank hat am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch geschrieben: ,Ich möchte nach dem Krieg einen Roman unter dem Titel ,Das Hinterhaus' herausbringen.' Das ist eben diese Version B, die wir jetzt publizieren. Und es ist das erste Mal, dass dieser Wunsch für sie in Erfüllung geht."
Eines der meistgelesenen Bücher des 20. Jahrhunderts
Dass das Buch nun nicht "Das Hinterhaus", sondern "Liebe Kitty" heißt, wie die fiktive Freundin, an die Anne ihre Texte richtete, hat mit Auseinandersetzungen um Rechte zu tun, die vor allem eins zeigen: Anne Frank ist nicht mehr bloß ein schriftstellerisch begabtes jüdisches Mädchen, das im Konzentrationslager starb. Anne Frank ist heute auch eine Marke, mit der sich Geld machen lässt. Ihr Tagebuch ist eines der meistgelesenen Bücher des 20. Jahrhunderts. Dass der Secession Verlag in Zusammenarbeit mit dem Amsterdamer Anne Frank Haus dieses Monument nun vom Sockel nahm, erforderte natürlich viel Fingerspitzengefühl: Bei der Übertragung aus dem Niederländischen diskutierte man mit der Übersetzerin Waltraud Hüsmert über Kommata, erzählt der Verleger von Zepelin. Die Sorgfalt hat sich gelohnt: Das Interesse an "Liebe Kitty" ist riesig, die erste fünfstellige Auflage war sofort verkauft, der Verlag kommt mit dem Nachdrucken kaum hinterher.
Am 12. Juni dieses Jahres, dem 90. Geburtstag von Anne Frank, wird in Schulen und Buchhandlungen unter anderem auch aus "Liebe Kitty" gelesen werden. Dann organisiert das Anne Frank Zentrum Berlin einen großen Anne Frank Tag. Buch und Gedenkfeier sind nicht nur wichtig, um an ein viel zu früh gestorbenes Mädchen zu erinnern – sondern auch als Warnung, sagt Menno Metselaar vom Anne Frank Haus in Amsterdam:
"Otto Frank hat irgendwann in den 1970er Jahren [...] gesagt: ,Leider gibt es immer noch Vorurteile und Diskriminierung. Und es ist eigentlich die Aufgabe eines Jeden, um diese zu bekämpfen.' Und das ist jetzt schon wieder fast 50 Jahre her. Es gibt leider immer noch Antisemitismus und Vorurteile und Diskriminierung. Es passiert zwar sehr viel, aber immer noch nicht genug."
Fragen zum Alltag im Versteck
Anne Frank war ein Kind, als ihre Familie nach Amsterdam ins Exil ging. Als Jugendliche schrieb sie ihr Tagebuch. Menno Metselaar hat sich zusammen mit Piet van Ledden die Frage gestellt, wie man schon Kindern Annes Schicksal und den Holocaust nahebringen kann. Die Antwort ergab sich aus der Arbeit im Anne Frank Haus Amsterdam. "Alles über Anne" ist ein aufwendig gestaltetes und didaktisch kluges Buch, in dem Anne Franks Leben unter anderem anhand der in Amsterdam archivierten Dokumente erzählt wird, anhand von Fotos zum Beispiel, die Anne in ihrer Klasse oder mit ihrer Familie zeigen. Das Anliegen war, die vielen Fragen zu beantworten, die Kinder im Anne Frank-Haus immer wieder stellen. Fragen zum Alltag im Versteck zum Beispiel: Was hat Anne da den ganzen Tag gemacht? Oder auch: Wer hat Anne Frank verraten? Eine bis heute offene Frage. Ein besonderes Verdienst des Anne Frank Hauses ist, die wirklich heiklen Fragen kindgerecht zu beantworten. Warum hasste Hitler die Juden? Zum Beispiel, oder: Was ist ein KZ?
"Wir können natürlich nicht verschweigen, was passiert ist - und das sollten wir auch nicht, wir müssen es erzählen. Von daher haben wir versucht, das zu beschreiben, was ist ein KZ: Es ist ein sehr großes umzäuntes Gelände mit hölzernen Baracken, wo die Gefangenen schlafen und wo sie auch oft arbeiten mussten. Wir versuchen das zu erklären für diese Altersgruppe."
Kinder nicht mit den Grauen des Holocaust überfordern
Die Zielgruppe von "Alles über Anne" sind Kinder ab ungefähr zehn Jahren. Menno Metselaar hält nichts davon, Kinder allzu früh mit dem Grauen des Holocaust zu konfrontieren und damit zu überfordern. Bücher wie das aktuelle Anne Frank-Bilderbuch aus der Reihe "Little People, Big Dreams" im Insel Verlag, das sich an Kinder ab drei richtet, sieht er eher skeptisch.
Aber ab ungefähr Ende der Grundschule sei es wichtig, an Anne Frank zu erinnern, und zwar so konkret wie möglich, sagt Metselaar. Wegen des wieder erstarkenden Antisemitismus, einerseits. Und weil Anne Frank inzwischen ein Nimbus umgibt, hinter dem das ganz normale Mädchen mit Stärken und Schwächen verschwindet:
"Ein Idol oder eine Ikone kann ja leer werden. Inhaltslos. Deshalb ist es gut, immer auch den ganzen Menschen zu zeigen und zu fühlen in den ganzen Widersprüchen auch, ja, was kann sie nicht, zum Beispiel, was kann sie sehr gut, oder worüber ärgert sie sich. Es soll nicht leer werden, sozusagen."
Von der Freude, sich durch Schreiben mitzuteilen
Zum Beispiel erzählt Anne Frank in ihrem Tagebuch von ihrer Freude, sich nun durch Schreiben mitteilen zu können – im Zeichnen sei sie nämlich nicht so begabt.
Am 12. Juni würde Anne Frank nun 90 Jahre alt. Wenn sie heute noch lebte – was für eine Frau wäre sie?
"Ganz spontan würde ich sagen, sie hätte das Tagebuch wahrscheinlich nicht veröffentlicht, weil es zu persönlich und zu intim ist. Aber ich denk schon, dass sie etwas mit dem schriftstellerischen Talent gemacht hätte. Journalistin oder Autorin."
"Das ist die allerspannendste Frage, die kann ich auch nur ganz groß vor mich schreiben. Ich kann es natürlich nicht beantworten. Es ist nur so, dass das, was ich lese bei ihr und die Art und Weise, wie sie sich mit der Welt auseinandersetzt in ihren Gedanken und wie sie es schafft, das aufzuschreiben, macht sie jedenfalls zu einer sehr, sehr, sehr spannenden Autorin. Und es wäre grandios, wenn wir sie als Autorin heutzutage hätten."
Anne Frank: "Liebe Kitty - Ihr Romanentwurf in Briefen"
aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Secession Verlag für Literatur, Zürich. 208 Seiten, 18 Euro.
Menno Metselaar/Piet van Ledden: "Alles über Anne. Das Leben der Anne Frank"
mit Zeichnungen von Huck Scarry
aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert, ab 10 Jahren,
Carlsen Verlag, Hamburg. 40 Seiten, 20 Euro.
Ma Isabel Sánchez Vegara: "Little People, Big Dreams: Anne Frank"
illustriert von Sveta Dorosheva
aus dem Spanischen von Svenja Becker, ab 3 Jahren,
Insel Verlag, Berlin. 32 Seiten, 13,95 Euro.