Donnerstag, 28. März 2024

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Judith Zander: "Johnny Ohneland"
A Girl named Johnny

Joana spürt früh, dass sie anders ist. Nämlich ein Mädchen, das sich gern wie ein Junge verhält. Kein Wunder, dass man sie bald nur "Johnny" ruft. Dabei will Joana sich eigentlich gar nicht festlegen lassen. Kann man nicht Frau und Mann gleichzeitig sein? Und dann ist 1989 plötzlich auch noch die DDR verschwunden.

Von Christel Wester | 12.10.2020
Die Autorin Judith Zander sitzt vor einem See und schaut in die Kamera.
Zehn Jahre hat Judith Zander gebraucht, um ihren zweiten Roman zu veröffentlichen (Imago / Gezett)
Judith Zander hat ihren Roman nach ihrer Hauptfigur benannt: "Johnny Ohneland". Ein sprechender Name, denn Johnny hat tatsächlich im Wortsinn kein Land unter den Füßen. Johnny sitzt im Flugzeug und befindet sich auf einem Langstreckenflug. Mit Zwischenstopps dauert dieser Flug 27 Stunden. Er bildet den Abschluss einer Odyssee, die in den späten 1980er Jahren in der ostdeutschen Provinz beginnt und über Finnland und Australien in die westdeutsche Provinz der Gegenwart führt. Das aber erfährt man nur ganz allmählich im Verlauf dieses 525 Seiten langen Romans, der die Form eines inneren Zwiegesprächs hat. Am Anfang begreift man nur, dass Johnny sich orientierungslos fühlt, aber immerhin die Fähigkeit zur Selbstironie besitzt. So lautet ihr erster Satz:
"Johnny, nicht mehr recht in Sicht, so könnte man sagen."
Johnny versucht, wieder mehr Sicht zu gewinnen – was aber nicht so leicht gelingen will.
"Obwohl du Abflugs- und Ankunftszeit kennst, Anfang und Ende, gelingt es dir nicht, Zeitdifferenz und Zeitverschiebung stimmig miteinander zu verrechnen zur Reisedauer, einen Zusammenhang herzustellen zwischen zwei äußersten Punkten und dem Dazwischen."
Selbstironischer Bericht eines ostdeutschen Tomboy-Mädchens
Einen Zusammenhang herzustellen, fällt auch beim Lesen nicht so leicht, weil Johnny in langen, verschachtelten Sätzen anfangs nur andeutungsweise etwas von sich preisgibt. Wer ist Johnny? Kein Mann? Sondern eine Frau? Darüber lässt Judith Zander ihre Leser erst mal im Unklaren. Zwar wird nach ein paar Seiten klar, dass hier eine weibliche Ich-Erzählerin einen männlichen Vornamen trägt, doch die Irritationen, die dieser kleine erzählerische Trick auslöst, soll zeigen, wie schnell wir unsicher werden, wenn wir Personen nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen können. Genau das ist das Kernthema dieses Romans. Johnny Ohneland heißt mit bürgerlichem Namen Joana Wolkenzin. Den Namen Johnny bekommt sie von ihrem jüngeren Bruder Charlie an einem langweiligen Winterferientag, den sich die beiden vorm Fernseher mit einem Spaghettiwestern versüßen. Anschließend, beim Cowboy-und-Indianer-Spiel, sinkt Charly röchelnd nieder und stöhnt.
"Mich hat’s erwischt, Johnny!"
Joana gefällt sich in der Rolle des starken Westernhelden. Johnny klingt gut, findet sie und verlangt begeistert, dass alle sie auch im normalen Alltag nur noch so nennen. Das weckt bei Eltern, Lehrern, aber auch Schulkameraden zunächst Widerstände, setzt sich aber schließlich durch.
"'Johnny, ey! Du hast wohl’n Piepmatz unterm Pony!'"
Kim Petras bei einem Auftritt beim Milwaukee Pridefest (8.6.2019)
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Die Akzeptanz von Menschen mit einer Transidentität wächst und mit ihr die Zahl derer, die ihr Geschlecht angleichen. In jüngster Zeit hört man aber auch von trans*Menschen, die ihre Entscheidung bereuen. Dürfen Ärzte Jugendlichen deshalb eine Behandlung verwehren? Darüber ist ein Streit entbrannt.
Heldin Joana gefällt sich als Westernheld Johnny
Joana alias Johnny macht die ersten erotischen Erfahrungen beim Bluestanzen und Knutschen mit einem Nachbarsmädchen, verliebt sich dann aber doch in einen der Jungs aus ihrer Klasse – und trotzdem möchte sie kein Mädchen sein.
"Denn Du wärst gern schwul gewesen. Es muss dir unterschwellig wie der glückende Ausbruch aus zwei Kategorienknästen gleichzeitig geleuchtet haben: dem der Mädchen, künftiger Frauen, real existierender Weiblichkeit und dem im Grunde noch furchterregenderen des Mannes, wie er sein sollte."
Johnny kann sich mit den tradierten Rollenmustern nicht identifizieren, egal ob sie weiblich oder männlich sind. Auch sexuell kann sie sich nicht festlegen. Sie verliebt sich abwechselnd in Männer und Frauen, beständig auf der Suche nach androgyner Seelenverwandtschaft, die sich aber immer nur für kurze Zeit einstellt.
"Es hielt nicht, euer hermaphroditisches Produkt, Feierabend, es war nicht mehr feierlich. Es war fremd, es war ungeheuerlich."
Judith Zander erzählt diese Coming-of-Age-Geschichte auf eine ebenso witzige wie anrührende Art und mit großer Lust am Sprachspiel. Neben bildhaften Namen – "Ohneland", Wolkenzin" – gehören Lautmalerei und Kalauer ebenso zu ihrem Repertoire wie Zitate aus Pop- und Hochkultur. Auch der Name Johnny Ohneland ist ein Zitat: eine Anspielung an den britischen King John, den bösen Bruder von Richard Löwenherz, der den Beinamen "Lackland" – "Ohneland" – bekam. Kein Robin Hood-Film kommt ohne diesen Johann Ohneland aus, aber auch Shakespeare hat ihn verewigt. Sätze aus seinen Dramen streut Judith Zander ebenso in ihren Roman ein wie Dialogfetzen aus Fernsehserien, Verse von Rilke, Songtexte von Patti Smith, Kinderlieder aus der DDR, und vor allem jede Menge Redensarten.
"Bloß nicht den Teufel an die Wand malen. – Das schüttelst du dir doch ausm Handgelenk. – Wo kämen wir denn da hin. – Es hätte schlimmer kommen können. – Davon kann ich mir auch nix kaufen."
Dossier: 30 Jahre Deutsche Einheit
30 Jahre Deutsche Einheit (imago images / Andreas Gora)
Ein Selbstgespräch per "Du" voller Assoziationen
Die eingestreuten Zitate haben oft einen sehr komischen Effekt, aber sie erschöpfen sich nicht darin. Judith Zander geht es darum, zu ergründen, wie kulturelle und sprachliche Muster die Identität und das Lebensgefühl von Menschen prägen. Wie schon ihr erster Roman, der vor zehn Jahren erschien, spielt auch "Johnny Ohneland" zu einem großen Teil in Judith Zanders Heimat Vorpommern und erzählt ebenfalls vom Zusammenbruch der DDR. Zander bettet ihre Coming-of-Age-Geschichte gekonnt ein in den zeitgeschichtlichen Rahmen, der sie selbst geprägt hat. Die Autorin wurde genau wie ihre Protagonistin Johnny 1980 in der DDR geboren, wuchs in Anklam auf und war neun Jahre alt, als die Mauer fiel. Ihre Romanfigur Johnny muss ebenfalls früh erfahren, dass Lebensverhältnisse nicht stabil sind. Sie erlebt den Mauerfall als Bruch, den sie rational nicht begreifen und emotional nicht einordnen kann. Sie registriert nur, dass die gewohnten Alltagsdinge plötzlich verschwinden und von Sachen ersetzt werden, die sie bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Und sie spürt die Verunsicherung der Erwachsenen. Der weitaus größere Bruch allerdings vollzieht sich einige Jahre später in der Familie. Als Johnny 17 ist, verschwindet ihre Mutter Knall auf Fall und hinterlässt ihrer völlig geschockten Familie nur einen Zettel:
"Ich breche heute in ein neues Leben auf. Wenn ihr das hier lest, bin ich schon weg und ich werde nicht zurückkommen! Das ist kein Witz! Ich habe das alles lange genug mitgemacht und ihr seid alt genug, um ohne mich auszukommen."
Kurz nach dem Verschwinden der Mutter beginnt Johnnys Odyssee, die sie zunächst zum Studium nach Leipzig, dann als Austauschstudentin nach Helsinki, anschließend nach Australien und am Ende zurück nach Deutschland führt. Überall ist sie auf der Suche nach Freundschaft, nach Nähe, nach "hermaphroditischer Liebe", wie sie das nennt und wird doch immer wieder zurückgeworfen auf ihr Gefühl des Andersseins. Mit "Johnny Ohneland" hat Judith Zander einen oft komischen, zuweilen traurigen und in seiner sprachspielerischen Art sehr skurrilen Roman geschrieben, in dem es um existenzielle Fremdheit geht – und die Sehnsucht danach, erkannt und verstanden zu werden.
Judith Zander: "Johnny Ohneland"
dtv, München. 525 Seiten, 25 Euro.