Samstag, 20. April 2024

Archiv

A. L. Kennedy: "Süßer Ernst"
Liebe auf den zweiten Blick

Die schottische Autorin A. L. Kennedy beschreibt 24 Stunden im Leben von Meg und Jon, beide einsam und frustriert. Nach mehreren unbeholfenen Versuchen finden sie am Ende eines chaotischen Tages tatsächlich zueinander. Eine eiskalt wirkende seelische Entkleidung zweier Suchender.

28.11.2018
    Buchcover: A.L. Kennedy: „Süßer Ernst“
    Erst einsam, dann zweisam in London (Buchcover: Carl Hanser Verlag, Foto: picture alliance / Wolfram Kastl/dpa)
    Meg ist Mitte vierzig und allein. Seit einem Jahr ist sie trockene Alkoholikerin. Mit dem Teilzeitjob in der Buchhaltung eines Tierheims kommt sie nur knapp über die Runden.
    Jon ist Ende fünfzig und auch allein. Er hat eine erwachsene Tochter und eine noch sehr präsente Ex-Frau. Als Öffentlichkeitsarbeiter eines Ministeriums verkauft er Politik oder, wie er es in heftiger Selbstverachtung nennt, manipulative Regierungspropaganda.
    Zwei Großstadtmenschen – ein Tag
    A. L. Kennedy erzählt 24 Stunden im Leben dieser beiden Londoner – zwei einsame Menschen voller Sehnsucht nach Zuneigung und Respekt. Stunden- und kapitelweise folgen wir abwechselnd Meg, dann wieder Jon. Die Perspektive des Erzählers wird dabei immer wieder unterbrochen von den kursiv gesetzten Gedanken der handelnden Person. Manchmal ist es ein Aufschrei mitten in einem Satz der Erzählung, oft sind es lange innere Monologe, die die Vorgeschichte der Protagonisten bis zu diesem entscheidenden Tag erzählen.
    Mit der tickenden Uhr im Blick durchleben wir einen atemberaubenden Tag. Meg und Jon sind gestresst, sie denken und handeln impulsiv. Da wird gezetert und sehr viel geflucht. Denn beide sind voller Wut. Meg wettert gegen die furchtbare Kollegin, Jon gegen die Ministerialbürokratie und seine durchtriebenen Vorgesetzten. Den Hass pflegt er als "fast schon so eine Art Hobby", wie er zu sich selbst sagt:

    "An den Wochenende praktiziere ich stillen, zielgerichteten Hass und in entspannten Augenblicken schlendere ich durch das Natural History Museum und kann mich nicht mehr darauf verlassen, wirklich etwas zu sehen, so dicht ist der Nebel aus Hass, durch den ich im Vorbeieilen zu spähen versuche."

    Allerdings hat Jon ein Ventil für seine Affekte. Er ist das Leck, durch das Regierungsinformationen an die Presse gelangen. Weil sein Chef schon einen Verdacht hegt, steht Jon massiv unter Druck. Im Privaten ist er noch auf andere Weise diskret aktiv: Unter Pseudonym bietet er eine Art Zuwendungs-Abo an. Er schreibt fremden Frauen Briefe voller Zuneigung und Ermutigung.
    Vertrauen in einen unbekannten Briefschreiber
    Eine dieser Frauen ist Meg. Sie schreibt "Mr. August" zurück und fasst angesichts seiner behutsamen Formulierungen sofort Vertrauen:
    "Wenn jemand nur aus einem kleinen Briefchen, das du ihm geschickt hast, dein Bedürfnis nach Sicherheit erraten kann - dann erscheint er dir nicht unmöglich. So eine Art Mann erscheint nicht völlig unwahrscheinlich."
    Nach einer Weile spürt Meg den Briefschreiber auf, als der sein Postfach leert. Es kommt zu flüchtigen Begegnungen voller Zweifel und Fluchtbewegungen. Bis an dem Tag dieses Romans eine richtige Verabredung die beiden zusammenbringen soll. Dabei geht alles schief: Jon kann seiner Arbeit nicht entkommen, prügelt sich auf der Straße mit dem Journalisten, dem er Geheimnisse verrät, und wird von seiner Tochter in Beschlag genommen.
    Verabredung mit Hindernissen
    Auch Meg hat einen schlechten Tag, mit einer Krebsuntersuchung, lustloser Arbeit und dem sehnsüchtigen Warten auf die Einzelheiten ihrer Verabredung mit Jon. Der aber vertröstet sie von Stunde zu Stunde. Sie hasst ihn ein wenig und hofft doch weiter.
    Tief in der Nacht treffen sich Jon und Meg endlich. Das alte Ledersofa in Megs Wohnung, auf dem die beiden erschöpft einschlafen, bietet den auch vom Leser herbeigesehnten Moment der Ruhe:
    "Die Schuhe des Mannes stehen bei der Tür, ordentlich nebeneinander, die der Frau stehen unter dem Sessel, ebenfalls ordentlich ausgerichtet. Abgesehen davon, dass sie schuhlos sind, tragen sie ihre Alltagskleidung und haben ihre Jacketts an, ihre Kleidung ist verrutscht und zerknittert."
    Dieser Kennedy-Roman ist – nicht überraschend – anstrengend. Die minutengetaktete Realitätstrunkenheit ist für den Leser gerade noch auszuhalten. Aber die eiskalt wirkende seelische Entkleidung zweier Suchender ist immer fesselnd. Die Unbarmherzigkeit der Methode entspringt einer tiefen Barmherzigkeit in Kennedys Blick auf die menschliche Zerrissenheit und Verletzbarkeit in einer harten Welt.
    Annäherung trotz Verzweiflung
    Die Berührung der beiden geschundenen Seelen wirkt niemals sentimental. In den zarten Momenten bleiben Verzweiflung und Hilflosigkeit latent spürbar, etwa Megs Gefährdung durch die Sucht mitsamt der fantasierten Rettung daraus:
    "Sich umzubringen war wie angenehme Urlaubsreisen, die zu buchen sie einfach nicht geschafft hatte, weil sie zu viel auf dem Zettel hatte, denn das Trinken war eine sehr dringende und drängende Form der Beschäftigung."
    Es fehlt auch nicht an komischen Momenten, wenn Meg und Jon sich die Welt so zusammenreimen, dass ihr verzweifelt-wirres Verhalten ihnen selbst logisch erscheint. Oder wenn bei ihrem ersten schüchternen Lunch beide ausgerechnet die falschesten Gerichte auswählen: sie flutschige Linguine, er Pasta mit Muscheln.
    "Süßer Ernst", von Ingo Herzke und Susanne Höbel großartig übersetzt, ist jede Lesestunde wert, auch wenn man sich die enorme Intensität wohl kaum in einer Lebensbeschreibung Knausgaardschen Umfangs wünschen dürfte.
    A. L. Kennedy: "Süßer Ernst"
    aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel
    Hanser Verlag, München. 559 Seiten, 28 Euro.