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“A Lin-derella story”

Jeremy Lin hat als Sohn chinesischer Einwanderer immer wieder gespürt, wie stark in den USA Rassismus gegen Asiaten verbreitet ist. Darunter litt seine Karriere. Trotzdem schaffte der Basketballer mit Fleiß, Disziplin und Gottvertrauen den Durchbruch in der NBA. Das enorme Echo löst – ungewollt – eine delikate Debatte über Hautfarbe und Erfolg im Sport aus.

von Jürgen Kalwa | 26.02.2012
    Vor ein paar Tagen demonstrierte einer der überragenden Basketballer in der NBA, dass man als Topspieler ständig Gefahr läuft, seine Gegner zu unterschätzen. Ob er schon etwas von jener Hysterie gehört habe, wurde Kobe Bryant gefragt, die seit ein paar Wochen halb New York in Verzückung versetzt.

    Der Ballzauberer wirkte perplex. "Ich habe keine Ahnung, worüber ihr redet”, sagte er den Journalisten und klang wie jemand, der wochenlang auf der anderen Seite des Mondes gelebt hatte. Die Ignoranz rächte sich einen Tag später. Jeremy Lin schenkte den Los Angeles Lakers satte 38 Punkte ein. Bryants Nebenmann Pau Gasol gab zu: "Wir haben ihn wohl übersehen.”

    Als die Dallas Mavericks letzten Sonntag in den Madison Square Garden kamen, waren sie also gewarnt. Aber es nützte nichts. Lin hat keinen Respekt vor den Stars und spielte unter anderem den 20 Zentimeter größeren Dirk Nowitzki mit einem Dreier aus.

    " "Lin over Dirk. Oh, my. Timeout Dallas. How good is this?”"

    Wie gut ist das? So gut, dass mittlerweile auch der letzte Sportanhänger in den USA verstanden hat, dass da über Nacht ein ungewöhnliches Basketballtalent aufgeblüht ist. Ungewöhnlich in vielerlei Hinsicht. Denn der 23-jährige Spielmacher wurde – vermutlich vor allem wegen seiner Herkunft – schon immer unterschätzt. Der Sohn chinesischer Eltern, die aus Taiwan nach Kalifornien ausgewandert waren, wurde nicht nur von den Scouts der besten College-Basketballteams übersehen, sondern auch von den meisten NBA-Clubs.

    ""Man sieht mir meine Abstammung an. Ich glaube, das hatte etwas damit zu tun. Ich weiß nicht wieviel. Auf jeden Fall musste ich mich immer und immer wieder neu beweisen.”"

    Alltag in einer Ellenbogengesellschaft, in der Lin zu einer ethnischen Minderheit gehört, die knapp fünf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht und außerhalb der Chinatowns von San Francisco und New York immer wieder Diskriminierung erlebt. Für das Basketballtalent bedeutete dies, nach der High School zu akzeptieren, dass man sich nur in Harvard für ihn interessierte. Sicher, die Hochschule ist eine der Eliteuniversitäten des Landes, aber das gilt nicht für ihr Sportangebot.

    Dritte Wahl – das war er auch, als er mit einem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften in der Tasche Profi wurde. Er landete nach Abstechern bei den Golden State Warriors und den Houston Rockets ganz hinten auf der Ersatzbank der New York Knicks. Doch dann war Trainer Mike D’Antoni gezwungen, auf ihn zurückzugreifen, nachdem sich gleich drei Leistungsträger verletzt hatten. Und so nahm das Wunder seinen Lauf.

    ""His legions of fans call it lin-sanity.”

    "A Lin-derella story”.

    "Simply lin-credible.”

    "Everybody loves a lin-ner.”"

    "Lin-Sanity” war eine Anspielung auf das Wort "Insanity” – "Wahnsinn”. "Lin-derella”. Verballhornung von Cinderella, dem amerikanischen Namen für das Aschenputtel aus dem Märchen der Gebrüder Grimm.

    So ganz nebenbei schlichen sich jedoch auch rassistische Untertöne ein. Das Sportmedienimperium ESPN sah sich gezwungen, einen Redakteur zu feuern und einen anderen für 30 Tage nach Hause zu schicken. Seitdem fahnden selbsternannte Rassismus-Polizisten in den Medien und im Netz ständig nach neuen Belegen für den alltäglichen, gedankenlosen Umgang mit dem Menschen Jeremy Lin.

    Der versuchte bislang, das Theater an sich abperlen zu lassen. Doch wenn er die Zeit und Lust hätte, etwas genauer hinzuschauen, würde ihm sicher auffallen, welche Eiertänze da mitunter stattfinden, So zog eine Eiskremfirma eine neue "Lin-Sanity”-Sorte vom Markt zurück, die Lychee-Honig und Spurenelemente sogenannter Glückskekse enthielt. Zu stereotyp und plump. Sicher. Aber zu anstößig? Der Boxer Floyd Mayweather wurde öffentlich gescholten, weil er auf Twitter genörgelt hatte, dass ein ähnlich guter schwarzer Spieler kaum je so gefeiert worden wäre. Das öffentliche Urteil: So etwas gehört sich nicht.

    Mayweathers Spitze deutete an, dass sich schwarze Amerikaner, die in der NBA rund 80 Prozent der Spieler stellen und mittlerweile fast die Hälfte der Cheftrainer-Riege, von der Medienorgie um Lin durchaus verunsichert waren. Ein Thema, das die Satiresendung "The Daily Show” mit dem populären Komiker Jon Stewart in einem Sketch aufgriff und so gut wie möglich ins Absurde drehte.

    " "You’re upset, because an Asian person, an Asia American is excelling at a traditional African American sport?”

    "I am not the only one who is not happy.”"

    Tatsächlich lassen sich die Gefühle schwarzer Sportler sehr leicht verletzen. Unvergessen: der Protest gegen die von Liga-Chef David Stern verhängte Kleiderordnung vor ein paar Jahren, die die mit Tätowierungen übersäten NBA-Profis als Eingriff in ihre persönliche Freiheit auslegten. Sie betrachten Basketball als so etwas ähnliches wie die Hip-Hop-Musiker ihre Videodarbietungen. Sie wollen sich auf Schritt und Tritt als reiche Entertainer inszenieren.

    Ein bisschen Ghetto-Flavor wirkt erfrischend. Zuviel davon eher abschreckend.
    Mehr Vielfalt – auch ethnische Vielfalt – könnte der Liga nur gut tun. Vielleicht ist das der Grund, weshalb der Mann, den einst so viele übersehen hatten, im Augenblick des Erfolgs eine derartige Begeisterung auslöst.