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Abendländische Musikkultur
Angst vor Weihnachtsliedern

"Stille Nacht" an einer deutschen Schule in Ankara und die Verleihung des Bonner Beethoven-Friedenspreises an den türkischen Starpianisten Fazil Say: Beides sorgte am Bosporus für heftigen Unwillen und Stürme der Entrüstung. Mut und Courage fehlen aber nicht nur dort, sondern auch hier, meint unser Kommentator.

Von Uwe Friedrich | 19.12.2016
    Der Komponist und Pianist Fazıl Say
    Bonner Beethoven-Friedenspreisträger: der türkische Pianist Fazil Say (picture alliance / dpa / Bernd Thissen)
    Ramadanlieder in Oberbayern? Die Vorstellung hat schon etwas extrem Apartes. Zumal wir uns lebhaft vorstellen können, wie schnell sich reaktionäre Lederhosendimpfel daran erregen könnten. Natürlich ohne mal drüber nachzudenken, ob das nicht doch ein sinnvoller Kulturaustausch sein könnte. Es wird ja nicht nur in der Türkei lautstark Unsinn von sich gegeben, sondern auch bei uns. Weder kann es türkischen Schülern schaden, etwas über Weihnachten zu erfahren, noch den deutschen, mehr über den Ramadan zu wissen. Aber schon geht das Kopfkino der Neurotiker los: Wahlweise mit Hans und Grete fastend unterm Weihnachtsbaum oder aber mit der unwiderstehlichen Versuchung von Zimtstern oder Vanillekipferl, die Mustafa und Ayse nicht bis zum Fastenbrechen durchhalten lassen.
    "Schutz" der Traditionen?
    Auffällig ist dabei vor allem, für wie schutzbedürftig die Verfechter nationaler Eigenheiten ihre Traditionen halten. Einmal "Stille Nacht" singen, schon ist die türkische Identität dahin, einmal gemeinsam Fastenbrechen feiern, schon vergessen wir Brahms und Beethoven. Wenn es denn so wäre, gäbe es ohnehin nicht mehr viel zu schützen und man sollte sich konsequenterweise fragen, was uns so schwache Traditionen überhaupt wert sein sollen. Aber die Kulturgutschützer eint vor allem eins: Sie alle haben sehr empfindliche Sicherungen. Die brennen schnell durch, dann knallt und funkt es und wird mitunter sehr gefährlich. Dann kommt es aber darauf an, besonnen zu reagieren. Also nicht vom Sicherungskasten wegrennen, denn dann sitzt man lange im Dunkeln. Genau das hat aber gerade die Beethoven-Academy in Bonn gemacht.
    Aufregung um Laudator Can Dündar
    Die verleiht unter anderen den Beethoven-Preis für Menschenrechte, am vergangenen Wochenende an den türkischen Pianisten Fazil Say. Sehr ehrenwert, aber durchaus mit Erregungspotential im Erdogan-treuen Teil der türkischen Gemeinde. Laudator sollte der Journalist Can Dündar sein. Auch sehr ehrenwert, mit noch größerem Erregungspotential. Nachdem einige Krawallmacher auf Facebook und so weiter protestiert haben, zog Beethoven-Academy-Intendant Torsten Schreiber den Laudator zurück. Das heiße aber nicht, dass man vor möglichen Protesten eingeknickt sei. Regierungssprecher Steffen Seibert betont derweil, der Streit um Weihnachten im Unterricht der deutsch-türkischen Eliteschule in Istanbul eigne sich nicht als Ausgangspunkt für eine Debatte über die Türkeipolitik der Bundesregierung. Ja klar, ein funkensprühender Sicherungskasten ist auch kein Ausgangspunkt für eine Diskussion über Elektrizität an sich. Aber für unseren Umgang mit den Dingen, die uns wirklich wichtig sind. Stellen wir uns den zugegebenermaßen gefährlichen Spannungen oder richten wir uns lieber im Dunkeln gemütlich ein?