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Abgesang auf Vernunft und Religion aus Europa

An William H. Hudson erinnert man sich heute vor allem wegen seines märchenhaft-traurigen Romans "Das Vogelmädchen", mit dem er langanhaltenden Erfolg hatte. Seine Erzählung "El Ombú" führt zurück in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Argentinien zu einem Staat zusammenwächst. Liest man den Text, dann springt einem Hudsons rauer, manchmal sprunghafter Erzählstil ins Auge.

Von Michael Schmitt | 29.07.2008
    "Wer lange gelebt hat, für den gibt es kein Haus und kein Fleckchen Erde, von Gras und Unkraut überwuchert (...), das nicht gleichermaßen traurig ist. Denn diese Traurigkeit ist in uns, in der Erinnerung an vergangene Tage, die uns an alle Orte folgt." Das sagt ein alter Mann, der unter einem Baum sitzt, von dem es heißt, dass in seinem Schatten nur Unglück oder Wahnsinn gedeihen. "El Ombú" heißt diese Baum-Art; sie ist uralt, wird sehr dick, ist aber ganz nutzlos, taugt weder zum Feuermachen noch zum Bauen. Nur alte Mythen ranken sich darum, und in ihrem Schatten stehen tatsächlich die Ruinen eines alten Landgutes und die Grabsteine jener Menschen, von deren Unglück der alte Mann erzählt.

    Er führt zurück in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Argentinien sich nach 1810 von der spanischen Kolonialherrschaft befreit, dann Bürgerkrieg und Diktatur erleidet und darüber zu einem Staat zusammenwächst. Das Territorium im Inneren wird erschlossen, die indianischen Ureinwohner werden dezimiert und Patagonien wird annektiert. Der alte Mann, ein naiver Erzähler, ein Landarbeiter, hat als Soldat an solchen Aktionen teilgenommen; doch er erzählt nicht von den großen Umbrüchen, sondern von kleinen Dramen im Inneren des Landes, vom Zusammenprall zwischen Alt und Neu, zwischen Rationalität und Magie in jedem einzelnen Menschen. Von einem Sklavenhalter, der es nicht verkraften kann, dass sein Lieblingssklave sich freikaufen will, von der menschenverachtenden Willkür eines Generals und von verzweifelten Rachegefühlen.

    "El Ombú" heißt diese Erzählung, so wie der Baum, und aufgeschrieben hat sie William H. Hudson, der 1841 als Sohn amerikanischer Einwanderer in der Nähe von Buenos Aires geboren wird, der unter Gauchos aufwächst, dann aber zu einem genauen Beobachter der Natur und zu einem beachtlichen Vogelkundler heranreift. Nach dem Tod seiner Eltern Ende der 60er Jahre, setzt er sich nach England ab und beginnt ein Leben als grenzgängerischer freier Schriftsteller. Ähnlich wie Joseph Conrad muss er sich das Schrift-Englisch erst mühsam beibringen; und dann veröffentlicht er sowohl Bücher über die Vogelwelt, wie auch literarische Erzählungen und autobiographische Reiseberichte.

    An William H. Hudson erinnert man sich heute vor allem wegen seines märchenhaft-traurigen Romans "Das Vogelmädchen", mit dem er langanhaltenden Erfolg hatte. Joseph Conrad schätzt seine Werke, Jorge Luis Borges setzt ihm im Land seiner Kindheit ein Denkmal. Und das obwohl William H. Hudson keiner ist, den man als bedeutenden Stilisten feiern könnte - auch er selbst hat das nie für sich reklamiert.

    Liest man die drei Erzählungen, die in dem kleinen Broschur-Band der "Friedenauer Presse" gesammelt vorliegen - zwei davon erstmals auf Deutsch - dann springen eher ein rauer, manchmal sprunghafter Erzählstil ins Auge, nicht selten auch Klischees, die sich nicht nur den einfachen Gemütern der personalen Erzähler verdanken. Vor allem aber, und das macht die Qualität aus, spiegeln sich darin alle Pendelausschläge der Seele jener Menschen, die mit europäischer Sozialisation im 19. Jahrhundert in einer exotischen, noch nicht völlig erschlossenen Weltgegend zurechtkommen müssen.

    Vielleicht ist das der Kern seiner Erzählkunst: Die geographische Karte der Welt kennt immer weniger weiße Flecken - aber die Menschen können nicht verkraften, was ihnen in dieser weiten Welt alles gegenübertritt. Das kann die locker aneinandergehängte Folge grauenhafter Episoden sein, die der alte Mann in "El Ombú" berichtet; das kann aber auch der psychische Verfall eines Priesters sein - in "Marta Riquelme" -, der aus Cordoba nach Südamerika kommt, um dort zu missionieren, sich dann aber Knall auf Fall in ein junges Mädchen verliebt. Er widersetzt sich dieser Liebe ein Leben lang - bleibt im Sinne seines Zölibats also standhaft. Es zerreißt ihn aber, zumal er auch noch über Jahre hin Leid und Untergang dieses Mädchen an der Seite ihres Ehemannes Ehe verfolgen muss. Sein Gott hilft ihm da nicht weiter - und so glaubt er schließlich mit eigenen Augen zu sehen, wie sich dieses Mädchen, so wie viele ihrer Ahnen zuvor, in einen sagenhaften Kakue-Vögel verwandelt, von denen die Einheimischen berichten, dass sie in den Bäumen ihre Klagelieder singen.

    Das ist ein Abgesang auf Vernunft und Religion, die aus Europa in das Land eingeschleppt worden sind. Und es hilft nicht, die Nacht "mit bußfertigen Tränen und Gebeten" zu verbringen, denn der Priester weiß nur zu gut, dass er im Innersten lange nicht so gefestigt ist, wie er zu sein glaubt. Am Ende kapituliert er -- aber eben nicht vor der traditionellen Sünde, also etwa vor sinnlichen Verlockungen, sondern vor all dem "Heidnischen", das ihm in dieser Welt begegnet, und das einzig und allein Erklärungen und deshalb auch Trost zu bieten vermag.

    Verfallen William H. Hudsons Protagonisten also einem Wahn? Der Leser sieht meist nur durch ihre Augen, gebrochen allenfalls durch einen protokollierenden Vermittler. Man muss sich seinen eigenen Reim auf die Logiken machen, nach denen berichtet wird; zuweilen fühlt man sich dabei von Ferne an H.P. Lovecraft erinnert, und natürlich auch an das "Herz der Finsternis". Die alten Götter, so heißt es einmal, hätten sich in dieses Land zurückgezogen und den Boden so unfruchtbar wie Stein gemacht. Der Leser jedoch spürt schnell, dass dieser Fluch nicht auf dem Land, sondern nur in den Gemütern seiner Eroberer wirkt.

    William Henry Hudson: El Ombú. Südamerikanische Erzählungen.
    Aus d. Engl. und hrsg. von Rainer G. Schmidt.
    Friedenauer Presse, Berlin 2007, 152 Seiten