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Abgetaucht in den Kanälen der Lagunenstadt

Stanislaw Perfecki, ukrainischer Kunstallrounder, wird zu einem Symposion über den postkarnevalistischen Irrsinn der Welt in Venedig erwartet. Unterwegs dorthin macht er Halt in München und lernt eine Frau kennen, die ihn bespitzeln soll.

Von Walter van Rossum | 09.01.2012
    Stanislaus Perfezki ist verschwunden - wahrscheinlich sogar tot. Der bekannte, für manche bloß berüchtigte ukrainische Dichter und Kunstallrounder soll sich eines frühen Morgens in Venedig aus seinem Hotelzimmer in den Canale Grande gestürzt haben. Jedenfalls deutet alles darauf hin. Doch sein Freund und Verehrer Jury Andruchowytsch traut der Sache nicht. Zunächst einmal rekonstruiert er den Weg, den Stanislaus Perfezki genommen hat, um nach Venedig zu gelangen. Auf dem Bahnhof seiner Heimatstadt verabschiedete er sich mit einer Performance mit dem bezeichnenden Titel "Die zwölf besten Geliebten". Dann scheint er mit dem Zug nach Przemysl gefahren zu sein, wo er seine neuesten - allerdings schwer verständlichen - Gedichte vorgetragen hat, untermalt von artistischen Leibesübungen.

    Perfezkis weiter Weg, den ich fast bis ins letzte Detail aufgespürt habe, ist eine entschlossene, unaufhörliche und unbeirrte Bewegung hinein in die zarte dichte Dämmerung, nach WESTEN. Da blinken wie in einem Kaleidoskop die Lichter der Städte, Plätze, Brücken, Kirchtürme und Universitätsportale, der zweifelhaften Bierhallen, Syphilis-Absteigen und Fünf-Sterne-Hotels. Wie ist es ihm gelungen, die Grenzen zu überwinden? Davon weiß ich kaum etwas. Aber ins Auge sticht - kein einziger Schritt nach OSTEN! Als habe es sich um die Erfüllung einer bedeutenden Mission gehandelt, deren tieferen Sinn man nur dort, auf den unerreichbaren und kalten strategischen Gipfeln, kennt.

    Stanislaus Perfezkis Weg nach Westen führt über Krakau, ein Bergkloster an der polnisch-slowakischen Grenze, Bratislava und über Wien schließlich nach Venedig. Da ist er Gast auf einen Kongress zum Thema: "Postkarnevalistischer Irrsinn der Welt: was dräut am Horizont?" Und auf diesem Kongress tritt Perfezki tatsächlich in Erscheinung, bevor er auf mysteriöse Weise in den Kanälen der Lagunenstadt verschwindet. Allerdings wird seine Leiche nie gefunden. Dafür erhält Jury Andruchowytsch von einem befreundeten Künstler, der einige Monate in Venedig gelebt hat, ein großes Paket. Der wiederum hatte das Paket von einem Unbekannten erhalten mit der Bitte, es Andruchowytsch auszuhändigen. In dem Karton finden sich ganz unterschiedliche Dokumente und Materialien, die Auskunft geben über Perfezkis Aufenthalt in Venedig. Etwa Originale und Kopien von Papieren, die man in seinem Hotelzimmer gefunden hat. Es sind auch Notizbücher darunter und von Perfezki selbst besprochene Audiokassetten. Dann diverse Unterlagen, die im Zusammenhang mit seinem Verschwinden stehen könnten: Einladungen, Programmhefte etc. Ganz unklar ist, was es mit den Texten auf sich hat, die an Depeschen oder Protokolle erinnern und in verschiedenen Sprachen verfasst - doch von wem? Schließlich enthält das Paket noch Berichte von Leuten, die Perfezki in den letzten Tagen vor seinem Verschwinden getroffen haben müssen. Und noch allerhand mehr ganz und gar unnachvollziehbarer Provenienz. Auf dreihundert Seiten wird der Inhalt der Kiste ausgebreitet. Wobei die Reihenfolge keineswegs zwingend ist - wie der Herausgeber selbst zugibt. Es ist nur eine mögliche Versuchsanordnung, die Licht in das Dunkel von Perfezkis Abgang bringen soll. Ganz offenbar spielt der Kongress über den "postkarnevalistischen Irrsinn der Welt" eine große Rolle dabei.

    Wir laden Sie ein nach Venedig, die Stadt auf dem Wasser, Schiff-Stadt, Stadt-Phantom, gleich in der ersten Woche nach Ende des traditionellen GROSSEN FESTES. Unsere Versammlung wird wohl kaum die Welt retten, kaum den Karneval retten, sie wird nicht einmal Venedig retten, und auch uns wird sie nicht retten. Aber wir versammeln uns - gerade jetzt und gerade hier, in einer Stadt voller Echos und Zitate, inmitten dieses GROSSEN ZITATS, der Inkarnation unseres letzten "post".

    Spätestens hier dürfte dem Leser klar werden, dass es in diesem Roman nie und nimmer zur Aufklärung eines Falls kommen wird, sondern dass allein die Eskalation des Erzählens sich kakofones Gehör verschafft. Mit anderen Worten: Der Leser muss sich durch über 300 Seiten gelehrter Groteske, durch artistische Verschlingungen, hintersinnig versteckte Zitate, durch eine ermüdende Exerzitie von fein gearbeitetem Nonsens durchackern, um ja, wer weiß das heute schon noch? Die Älteren werden sich mürrisch an die Theoriebaukästen der Postmoderne erinnern. Da geht es um eine Literatur, die in welterschütternder Absicht vom Erzählen erzählt. Schließlich sind wir am Ende der großen Erzählungen angelangt und da bleibt nur noch das Spiel der Fragmente, die Besichtigung der literarischen Rhetorik selbst. So was hat man lange nicht mehr in Händen gehalten und eigentlich schon ganz vergessen. Mag sein, dass die ukrainische Avantgarde sich noch ihren Weg durchs postmoderne Unterholz suchen muss, aber müssen wir daran partizipieren? Und da erst dämmert dem Rezensenten, dass dieser Roman auch schon so seine Jahre auf dem Buckel hat. Er ist nämlich bereits 1996 im Original erschienen. Der Suhrkamp Verlag hatte in den letzten Jahren die neuesten Romane und Essaybände von Juri Andruchowytsch mit einigem Erfolg veröffentlicht. Jetzt wollte man mit dem Frühwerk nachziehen, hatte allerdings Hinweise auf das wahre Alter dieses Romans tunlichst vermieden.

    Juri Andruchowytsch wurde 1960 im galizischen Stanislau geboren. Im Alter von 25 Jahren gründete er zusammen mit anderen ukrainischen Schriftstellern eine literarische Performance-Gruppe namens BU-BA-BU, was sich etwa mit "Burleske, Rummel, Possenreißer" übertragen ließe. Und die Grundsätze dieser Gruppe dürften die poetische Schule seiner ersten drei Romane dargestellt haben. Und man kann sich auch vorstellen, dass diese Sorte satirischer Burleske unter den chaotischen Bedingungen der neu gewonnen ukrainischen Unabhängigkeit etwas Subversives gehabt haben mag. Schließlich glaubte man ja selbst in Kreisen mitteleuropäischer Literatursalons an die subversive Kraft der Postmoderne, die die Macht der herrschenden Diskurse zum Einsturz bringen würde. Wenn man an der Syntax zündelt, dann kollabiert auch bald die Ordnung der Dinge. Das war immer schon blanker Unfug. In Wahrheit steckte hinter diesen vermeintlich aggressiven Programmen nie mehr als: Ratlosigkeit - und am Schluss: blanke Anpassung. Und so ist vielleicht das Einzige, was man bei der Lektüre von Andruchowytsch eben nicht neuestem Roman wirklich staunend begreift: wie schnell jene nicht einmal zwanzig Jahre alte Avantgarde gealtert ist.

    Jury Andruchowytsch:
    Perversion. Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag. Berlin 2011. 333 Seiten, 22,90Euro