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Abgründe überwinden

Der Schweizer Schriftsteller Catalin Dorian Florescu, 1967 in Timisoara geboren und 1982 in den Westen geflohen, entführt die Leser in die bäuerliche Welt des rumänischen Banats. "Jacob beschließt zu leben" ist eine Familiensaga epischen Ausmaßes, die mit großer Wucht und leiser Sinnlichkeit vom Leben, Sterben und Lieben erzählt.

Von Simone Hamm | 05.09.2011
    Klein ist er und schmächtig, viel zu früh zur Welt gekommen, geboren auf einem Mistwagen, nachdem man die Mutter eiligst vom Feld geholt hatte. Ganz anders der Vater, stolz und stark, und er weiß immer, was er will. Als mittelloser Mann war er aus den Karpaten herabgestiegen und ins rumänische Triebswetter gekommen, dorthin, wo die Banater Schwaben und die Lothringer sich einst angesiedelt hatten. Noch nicht einmal einen Namen hatte er, nannte sich Jacob, nur Jacob. Er kam mit einem Zeitungsausschnitt in der Hand. Da war zu lesen von einer jungen Frau, die als armes Ding nach Amerika gegangen und reich nach Triebswetter zurückgekehrt war: Elsa Obertin. Niemand wusste, wie sie zu Geld gekommen war. Gerüchte gab es viele. Und niemanden, der sie heiraten wollte. Bis Jacob kam. Er stellte keine Fragen und gab auch keine Antworten. Er schuftete wie ein Bär und machte aus seinem Kalkül, Elsa zu heiraten, Landeigner zu werden und einen Sohn mit ihr zu zeugen, keinen Hehl. Elsa willigte ein, sie sah es als ihre letzte Chance, zu einem Mann und zu einem Nachkommen zu kommen. Und sie sah einen Mann, der so unangepasst, so unbeugsam war wie sie. Im April 1926 heirateten sie. Elsas Vater war entsetzt.

    "Jacob beschließt zu lieben" heißt der neue Roman von Catalin Dorian Florescu. Denn anders als die Verliebtheit fällt die Liebe nicht vom Himmel. Man muss sie schon leben wollen.

    Armut und Hunger bestimmen Jacobs Leben, Tod und Verrat. Da könnte man hassen und rächen. Aber Jacob, aus dessen Perspektive Catalin Dorian Florescu erzählt, hat sich zum Lieben entschlossen. Selbst den grausamen Vater.

    "Ich vermisste Vater wie ein zum eigenen Leben dazugehörendes Stück, das man nicht ungestraft entfernen kann. Ich vermisste nicht seine unberechenbare Art, die mir mehr Angst gemacht hatte als seine Schläge. Aber ich vermisste seine Stärke, jene selbstbezogene Selbstsicherheit, die auch ich gern gehabt hätte: die ihn sogar in den ausweglosesten Situationen dazu gebracht hatte, doch einen Ausweg zu finden. Zum Beispiel, mich auszuliefern."

    Jacob hat die Kraft zu lieben. Und den Willen dazu: Katica, das Serbenmädchen, dass er niemals berührt und nur ein einziges Mal geküsst hat, und Ramina, die üppige Zigeunerin, die Geschichtenerzählerin, die ihm eine magische, phantastische Welt zu Füßen legt, eine Welt, in der er nicht der dürre Hänfling ist, der im Mist geboren wurde. Katica und Ramina werden von den Dörflern wie Aussätzige behandelt, beide werden verraten, ermordet. Die Welt der scheuen Liebe, der magischen Erzählungen kann der Wirklichkeit nicht standhalten.

    Florescu hat einen Schelmenroman geschrieben, eine Familiensaga epischen Ausmaßes. Er erzählt mit großer Wucht von Kriegen und Sterben und mit leiser Sinnlichkeit von der Liebe. Fast grotesk mutet die Beschreibung der dicken Ramina an, die sich kaum noch bewegen kann, aber geistig überaus rege ist. Florescu lässt sie ihre fesselnden Geschichten leidenschaftlich erzählen, kurios und exzentrisch. Er spart auch das Grauen nicht aus. Die detailgenaue Darstellung der Kriegsgräuel ist schwer zu ertragen. So ist Krieg.

    Es ist eine bäuerliche, derbe Welt, in die Florescu die Leser führt. Seine Hauptfigur, der an Körper und Seele zarte Jacob, passt nicht so recht in diese Welt der rauen, geknechteten Bauern, die ihre Unterdrückung weitergeben.

    "Zu Hause aber waren alle Herren. Die animalische Kopulation, wenn sie von Erregung und Verlangen durchflutet war, war das einzige, was ihnen ganz allein gehörte und sie entschädigte. Sie und der Schnaps in der Kneipe."

    In langen Rückblenden erzählt er vom Stammvater der Obertins, Caspar Obertin, der im schwedisch-französischen Krieg Mitte des 17. Jahrhunderts kämpfte und mordete und plünderte. Ein Jahrhundert später kam Frederick Obertin als Siedler aus Lothringen, wo Armut und Hunger herrschten, um ein ödes Land im Banat zu kultivieren. Was er nach einer mörderischen Reise die Donau hinab fand, waren nicht die blühenden Landschaften, die Kaiserin Maria Theresia den Aussiedlern versprochen hatte, was er fand, waren Armut und Hunger. Großartig wie Florescu die große Hoffnung, die fürchterliche Fahrt und die Enttäuschung derer, die lebendig angekommen sind, beschreibt, packend und mitreißend, farbig und schauerlich zugleich.
    Immer geht es ums Überleben: im Krieg, im Frieden, in Lothringen, im Banat, im erst von den Nazis beherrschten, dann kommunistischen Rumänien. Die Welt ist dieselbe geblieben, im 17. Jahrhundert, im zweiten Weltkrieg, in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie ist archaisch und grausam.

    Verrat ist ein zentrales Motiv in Florescus Roman. Auch Jacob wird verraten werden. Von seinem Vater. Der liefert ihn an die Russen aus, die alle Deutschen zwischen 18 und 45 in sibirische Lager stecken wollen. Jacob gelingt es, aus einem fahrenden Zug zu springen. Auf ein nacktes Feld. Und weiter läuft er. Halbtod und fiebernd wird er von einem Popen gefunden, der einem seltsamen Handwerk nachgeht. Er sammelt die Knochen der Toten, wäscht sie und will sie würdig beerdigen. Jacob steigt hinab mit ihm in die Welt der Toten.

    Als er fünf Jahre später nach Hause zurückkehrt, ist die Welt der Lebenden nicht die bessere.

    "Ich fühlte mich wieder ausgeliefert, mir selbst überlassen, doch diesmal nicht wegen der unerträglichen, leeren Weite, sondern wegen der ebenso unerträglichen Enge, der vielen Körper, die sich mir böse und giftig in den Weg stellten...
    Wenn ich mich unbeobachtet fühlte, sah ich mir die Menschen an und war mir sicher, dass ich kaum noch auf einen von ihnen hätte zählen können. Dass die gründlichste Umwälzung, die unsichtbarste, in ihnen stattgefunden hatte. Ein opportunistischer Hunger diesmal."


    Und hätte Florescu Abstand genommen von Formulierungen wie: "Er ahnte nicht, dass er an jenem Tag die schwere, große Glocke gleich zweimal würde läuten müssen" oder" Nichts kündigte die Gefahr an, der sie entgegen fuhren", Formulierungen, die die Spannung erhöhen sollen und die er doch überhaupt nicht nötig hat, denn dem Sog seiner Erzählung kann sich ohnehin niemand entziehen, dann wäre sein Jacob, der sich zu lieben entschließt, ein makelloses Meisterwerk geworden. So aber ist es ein großartiger, kraftvoller Roman über die Abgründe des Menschen, die einen schauern lassen. Und auch darüber, wie man sie überwinden kann. Indem man beschließt zu lieben.

    Catalin Dorian Florescu: Jacob beschließt zu lieben
    C.H. Beck Verlag
    404 Seiten. 19,95 Euro