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Abitur-Prüfungen
"Schwierigkeitsgrad ist in den letzten Jahren gesunken"

Vielerorts mehren sich Beschwerden über zu schwere Mathe-Abiturprüfungen. In Niedersachsen wurde deswegen der Bewertungsmaßstab geändert. Der Didaktiker Andreas Filler hält das für unbegründet. Die Anforderungen seien eher gesunken, sagte er im DLF. Das liege auch an den steigenden Abiturienten-Zahlen: Aus einem Eliteabschluss könne man keinen Massenabschluss machen.

Andreas Filler im Gespräch mit Sandra Pfister | 27.05.2016
    Schülerinnen und Schüler sitzen in einer Turnhalle an Einzeltischen und machen Abiturprüfungen. Vor ihnen liegen Englisch-Wörterbücher.
    Der Schwierigkeitsgrad der Abitur-Prüfungen variiere zwischen den Ländern, so Filler. (Jens Wolf / dpa)
    Sandra Pfister: Immer mehr Studierende machen ein Einser-Abitur. In den vergangenen Jahren, den vergangenen sechs Jahren ist die Zahl der Einser-Abiturienten um 40 Prozent gestiegen. Obwohl das darauf hindeutet, dass das Abi insgesamt leichter geworden sein könnte, gibt es immer wieder Beschwerden, dass das Mathe-Abi zu schwer sei, und zwar aus verschiedenen Bundesländern. Vor zwei Tagen hat das Kultusministerium in Niedersachsen angekündigt, die Anforderungen in diesem Jahr rückwirkend abzusenken. Das heißt, das Mathe-Abi wird nun weniger streng bewertet. Jetzt beschweren sich auch Eltern und Schüler in Thüringen, dass das Mathe-Abi viel zu hart gewesen sei. In Niedersachsen, wir haben es gerade gehört, wird wegen zu schlechter Abi-Ergebnisse der Bewertungsmaßstab für das Mathe-Abi verändert, damit nicht so viele schlechte Noten rauskommen. In Thüringen, auch das haben wir gerade gehört, gibt es auch Beschwerden über ein zu schweres Mathe-Abitur. Sind viele Abi-Prüfungen tatsächlich zu schwer oder sind die Schüler zu schlecht vorbereitet - darüber sprechen wir jetzt mit Professor Andreas Filler, Professor für Didaktik der Mathematik an der Humboldt-Universität Berlin. Professor Filler, wenn so viele Abiturienten in den vergangenen Jahren Probleme damit hatten, sind dann nicht die Aufgaben zu schwer gestellt?
    Andreas Filler: Was den Schwierigkeitsgrad der Abitur-Prüfung betrifft, würde ich tendenziell eher einen sinkenden Schwierigkeitsgrad innerhalb der letzten Jahre oder wenigen Jahrzehnte feststellen, wobei man hier auch immer sehr zwischen den Bundesländern differenzieren muss. Also die Politik in den Bundesländern bezüglich des Abiturs, bezüglich des Mathematik-Abiturs ist doch sehr unterschiedlich.
    "Thüringen ist für mich ein positives Beispiel"
    Pfister: Ihre Meinung wird gestützt von einer Untersuchung in Hamburg zum Beispiel, wo Fachdidaktiker und Mathematiker zu dem Ergebnis gekommen sind, dass das Abi seit 2005 in Mathematik leichter geworden sei, die Anforderungen sind gesenkt worden. Welche Bundesländer halten denn das Niveau hoch?
    Filler: Also Thüringen ist für mich ein positives Beispiel, was die Abituraufgaben betrifft. Ich muss allerdings sagen, die werden nicht mehr veröffentlicht. Ich beziehe mich jetzt auf Aufgaben bis 2012. Thüringische Abituraufgaben sind erstens zum größeren Teil noch, sagen wir mal, reine Mathematikaufgaben, während hingegen Hamburg oder auch Berlin nur noch Aufgaben stellt, die in mehr oder weniger sinnlose - in Anführungszeichen -Anwendungskontexte eingebettet sind. Auf der anderen Seite ist die Breite des in den thüringischen - übrigens auch in den bayrischen - Aufgaben benötigten Wissens etwas größer als beispielsweise in Hamburg oder Berlin. Das fiel mir in den letzten Jahren häufiger auf, dass ich thüringische Aufgaben eher als positiv empfand. Die Schüler müssen in Thüringen sich auch noch an Unterrichtsinhalte aus der Sekundarstufe Eins erinnern können. Man muss allerdings auch beispielsweise betrachten, dass der Abiturientenanteil in den einzelnen Bundesländern sich ziemlich erheblich unterscheidet. Der ist beispielsweise - ich kenne die Zahlen von Thüringen nicht - weiß aber, dass der in Bayern signifikant niedriger ist als beispielsweise in Hamburg.
    "Wegnahme eines Schuljahres lässt sich nicht verlustfrei kompensieren"
    Pfister: Dann kommen wir wieder an den Punkt, dass wenn immer mehr Schüler Abitur machen, dann wahrscheinlich auch immer mehr dabei sind, die in Mathe nicht ganz so fit sind. Ist aber doch die Frage, liegt das dann an den Schülern, die nicht auf ein entsprechendes Niveau gebracht werden können, weil sie einfach nicht die Kapazitäten haben oder muss sich der Unterricht auch verändern und hat sich nicht genug verändert?
    Filler: Der Unterricht hat sich, denke ich, schon verändert in unterschiedlichem Maße. Tatsache ist es allerdings, wenn wir jetzt über Jahrzehnte betrachtet den Abiturientenanteil auf ein Mehrfaches steigern, das ohne Sinken des Anforderungsniveaus schwierig ist. Also der Unterricht wird sich nicht in dem Maße effektivieren lassen, um sozusagen bei gleichbleibendem Niveau aus einem Schulabschluss, der einstmals ein Eliteabschluss war, einen Massenabschluss zu machen. Wir sollten übrigens noch eins beachten: Wir haben in den meisten Bundesländern ein Jahr weniger Schulzeit zur Verfügung, und das ist genau die Klasse Elf, die so grundlegend war für die gymnasiale Oberstufe, ist mehr oder weniger zusammengedrückt worden. Also es wäre eigentlich verwunderlich, wenn man die Wegnahme eines ganzen Schuljahres verlustfrei kompensieren könnte.
    Pfister: Wenn man jetzt Ihre Klage weiterdenkt - es gibt ja auch an den Unis heftige Klagen darüber, dass besonders Studierende der Ingenieurwissenschaften, der Physik, der Naturwissenschaften, dass deren Matheniveau nicht genügt, um dieses Studium durchzuhalten. Dann schalten viele schon Propädeutika vor, um die angehenden Ingenieure fit zu machen in Mathe. Ist die Vorbereitung der Schüler, pauschal gesprochen, inzwischen so mangelhaft, dass man da so eine Art Propädeutikum vorschalten muss?
    Filler: Es ist in vielen Fällen einfach notwendig. Und in diesen Brückenkursen, Warm-up-Kursen oder wie die überall heißen, werden zum Teil nicht mal Unterrichtsinhalte hauptsächlich behandelt, die jetzt in die gymnasiale Oberstufe gehören, sondern auch Mittelstufenstoff, also vom Ende der Sekundarstufe Eins.
    "Brauchen wir über 50 Prozent Abiturienten?"
    Pfister: Was schlagen Sie in dieser Situation vor?
    Filler: Also zunächst mal - jetzt kritisiere ich ja die ganze Zeit -, zunächst mal in einer Hinsicht möchte ich vielleicht die Politik hier in Berlin loben. Hier gibt es die Möglichkeit an Sekundarschulen, integrierten Sekundarschulen das Abitur nach 13 Jahren abzulegen, während hingegen für die Gymnasien zwölf Jahre verbindlich sind. Es gibt also zwei unterschiedlich schnelle Wege zum Abitur. Das ist sicherlich eine Möglichkeit, eine etwas größere Breite zu erreichen. Auf der anderen Seite muss man drüber nachdenken, wie hoch soll den die angestrebte Abiturientenquote überhaupt sein? Brauchen wir über 50 Prozent Abiturienten?
    Pfister: Wenn wir einen kürzerfristigen Ausblick wagen, dann geht es auch um einen Aufgabenpool in den verschiedenen Fächern, den die Kultusminister anvisieren, auf den sie hinarbeiten. Wenn wir jetzt so eine große Diskrepanz sehen bei den verschiedenen Abituraufgaben im Fach Mathematik, was erwarten Sie - erwarten Sie, dass das Niveau der Mathematikaufgaben in solche Poolaufgaben abgesenkt wird oder erwarten Sie, dass sich alle wieder bei den höheren Standards einigen?
    Filler: Um ehrlich zu sein, wäre es besser, dazu einen Propheten zu befragen. Ich muss sagen, ich kann mir das inhaltlich im Moment ziemlich schwer vorstellen, weil es gibt da klar unterschiedliche Vorstellungen, wie Abituraufgaben aussehen sollen. Das betrifft nicht nur den mathematischen Schwierigkeitsgrad, sondern es betrifft auch die Frage, sollen es Mathematikaufgaben sein oder muss jede Abituraufgabe in irgendeinen außermathematischen Sachkontext eingebettet sein. Also sagen wir es mal so, bei Hamburg und Berlin wäre das leicht denkbar, aber Thüringen und auf der anderen Seite Hamburg, Berlin, Brandenburg, sind ziemlich unvereinbar.
    Pfister: Andreas Filler, Professor für Didaktik der Mathematik an der Humboldt-Universität Berlin, ich danke Ihnen ganz herzlich!
    Filler: War mir eine Freude, mit Ihnen über das Thema zu reden!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.