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Abnabeln und andocken

Wie aus vielen anderen ostdeutschen Kommunen ziehen auch aus der thüringischen Uni-Stadt Jena immer mehr Menschen weg. Im vergangenen Jahr drohte die Einwohnerzahl gar unter die 100.000-Grenze zu fallen. Fatal, dachten sich die Stadtväter und wollten eine Zweitwohnsitzsteuer einführen, um die Einnahmen zu erhöhen. Noch fataler, dachte sich die Studenten und initiierten einer Kampagne. 3000 Studierende konnten sie dazu überreden, ihren Hauptwohnsitz in Jena anzumelden. Die Stadtväter sahen schließlich von der Zweitwohnsitzsteuer wieder ab. In diesem Jahr haben sich Stadtväter und Studenten eine wohl bundesweit einzigartige Werbekampagne einfallen lassen. Unter dem Motto "Abnabeln - Hauptwohnsitz Jena" wollen Mitarbeiter einer studentischen Agentur die Erstsemestler vier Wochen lang dazu bewegen, sich in Jena anzumelden.

Von Susanne Arlt | 15.10.2004
    Albert Petzold ist ein moderner Steuereintreiber. Seit zwei Wochen streift der 25-jährige Psychologiestudent fast jede Nacht durch Jena, auf der Suche nach potentiellen Steuerzahlern. Auf einer Semesterparty im F-Haus hat er zwei Erstsemestler aufgespürt, die ihren Hauptwohnsitz in der Uni-Stadt noch nicht angemeldet haben. Die beiden Sportstudenten grinsen freundlich in Albert Petzolds Kamera. Nach dem Fotografieren, drückt er beiden mit einem charmanten Lächeln einen Flyer in die Hand.

    Ihr könnt das unter www.abnabeln.de runterladen und als E-Card verschicken.

    Was sich konkret hinter der Internetadresse verbirgt, verrät er den beiden nicht. Stattdessen lockt er mit einem Gewinnspiel um eine Reise nach Paris oder ein Mountainbike:

    Alles was ihr machen müsst ist, euren Bauchnabeln in Szene setzen.

    Der Bauchnabel - als Relikt erinnert er noch an die lebenswichtige Nabelschnur zur Mutter und im weiteren Sinne wohl an die Bindung ans Elternhaus. Darum ein ideales Körperteil, um es für den Abnablungsprozess junger Menschen von zuhause zu benutzen, fanden die Mitarbeiter der Werbeagentur "Goldene Zwanziger". Bei ihrer Marktforschung haben die Studenten zwei Typen von Studenten ausfindig gemacht. Aus welchen Gründen sie ihren Hauptwohnsitz anmelden, erklärt Albert Petzold:

    Das eine sind die Rationalisten, die sagen: Wenn mir das was bringt, dann mache ich das. Warum soll man die nicht mit den Vorteilen locken? Dann gibt es die Idealisten, die auch emotional einen Vorteil davon haben möchten, sich hier anzumelden. Das haben wir versucht zu koppeln.

    Auf Plakaten, Postkarten und T-Shirts werben die jungen Werbestrategen mit nackten behaarten und unbehaarten Bäuchen dafür, nicht mehr bequem bei Mami und Papi zu wohnen, zu essen und die Wäsche waschen lassen. Sondern stattdessen auf eigene Füßen zu stehen. Für jeden eingetragenen Hauptwohnsitz bekommt die Stadt nämlich Geld vom Freistaat. Doch weil immer mehr Menschen aus Jena wegziehen, wollten die Stadtväter für 2004 eine Zweitwohnsitzsteuer erheben. Umgerechnet wären das pro Kopf etwa 300 Euro im Jahr gewesen. Olaf Schroth, Amtsleiter vom Bürgeramt in Jena:

    Das hat so ein gewisses Geschmäckle, eine Zweitwohnsitzsteuer, die man zusätzlich einführt. Es hat auch einen Verwaltungsaufwand, es produziert Kosten. Da muss man schauen, ob man die Steuern, die man einnimmt, wirklich gegen die Kosten, die entwickelt hat, darstellen kann.

    Die Kampagne der Studenten hat die Stadtväter schließlich eines Besseren belehrt. Statt zum Zweitwohnsitz, sollen die Studenten gleich zum Hauptwohnsitz ermutigt werden. Immerhin studieren 24.000 Studenten in Jena. Neben der Reise nach Paris lockt die Uni-Stadt noch mit andere Anreizen finanzieller Art. Studenten, volljährige Auszubildende und Schüler bekommen jedes Jahr eine Ausbildungsprämie in Höhe von 60 Euro. Außerdem gibt es Gutscheine für kostenlose Eintritte. Zum Beispiel ins Freizeitbad, Stadtmuseum, zum Musikspektakel im Sommer und in das Jenaer Theater. Wer eine Wohnung bei der städtischen Wohnungsgesellschaft mietet, kriegt für einen Monat eine Kaltmiete gesponsert.

    Zurück zur Semesterparty im F-Haus. Die beiden Sportstudenten haben mittlerweile den Flyer durchgelesen. Doch sie blieben abnabelungsresistent. Ihren Hauptwohnsitz will die 22-jährige Denise Roy nicht in Jena anmelden. Für den modernen Steuereintreiber Petzold trotzdem kein Misserfolg. Die Nacht sei schließlich noch jung und das F-Haus ausverkauft. Zwei Wochen lang geht noch die Werbekampagne. Bislang konnten er und seine Mitstreiter immerhin 800 Studenten dazu bewegen, ihren Hauptwohnsitz in Jena anzumelden.