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Abrechnung mit Israels Besatzungspolitik

Filmemacher Dror Moreh hat sechs ehemalige Chefs des israelischen Geheimdienstes Schin Bet vor seine Kamera bekommen. "Töte zuerst!" entfaltet eine enorme politische Sprengkraft, denn hier stellen diejenigen die israelische Besatzungspolitik infrage, die sie über Jahre exekutierten.

Von Hartwig Tegeler | 05.03.2013
    Sechs Pensionäre erzählen von ihrer Arbeit. Ihr Job war auch, das Töten zu befehlen.

    "Das Unnatürliche daran ist, dass du die Macht hast, drei Menschen, seien es Terroristen, innerhalb eine Sekunde das Leben zu nehmen."

    Und das ist doch nicht normal, meint Yuval Diskin, von 2005 bis 2011 israelischer Schin-Bet-Chef. Zuständig für Terrorismusbekämpfung, auch im Westjordanland und im Gazastreifen.

    "Aus der Perspektive des Chefs erkennst du schnell, dass die Politik binäre Optionen liebt. Tu´s oder tu´s nicht!"

    Was dieses "Tu es!" bedeutet? Yuval Diskin sagt es:

    "Abdrücken oder nicht!'"

    Im Hintergrund läuft das Video, das aus Satelliten-, vielleicht ausder Perspektive einer bewaffneten Drohne einen palästinensischen Lieferwagen zeigt. Nach dem Abdrücken - "Töte zuerst!", so ist der Titel dieses Dokumentarfilms - nach dem Abdrücken der Feuerblitz. Das palästinensische Fahrzeug, das wir im Satellitenvideo mit verfolgten, ist explodiert. Ein Volltreffer.

    Dass einer wie Yuval Diskin die gottgleiche Macht eines Leiters eines israelischen Inlandsgeheimdiensts nach seinem Ausstieg inzwischen kritisch, ist vielleicht nicht so überraschend wie die Tatsache, dass er und die fünf anderen ehemaligen Schin-Bet-Chefs eine düstere politische Perspektive für ihr Land sehen, wenn die Besatzungspolitik so weitergeht und der Friedensprozess nicht wieder in Gang kommt. Ami Ayalon, von 1996 bis 2000 Leiter des Geheimdienstes:

    "Es gibt den Begriff 'Banalität des Bösen'. Wenn du einmal damit anfängst, in ganz großem Stil zuzuschlagen, und wenn zwei- oder dreihundert Menschen bei solch einer Aktion den Tod finden, dann läuft das wie in Film ab, und von Mal zu Mal fragst du dich weniger, wo das hinführt."

    Filmemacher Dror Moreh zitiert gegenüber Yuval Diskin den israelischen Philosophen Jeschajahu Leibowitz, der prognostizierte, dass Israel, Besatzungsmacht seit dem Sechstagekrieg von 1967, notwendigerweise zu einem "korrupten Kolonialregime" würde.

    "Was halten Sie von dieser Prophezeiung mit Blick auf den Staat Israel heute?"

    Fragt Dror Moreh den Ex-Shin-Bet-Chef.

    "Ich stimme dem Wort für Wort zu."

    Die Brisanz solcher Äußerungen wie der von Yuval Diskin liegt natürlich gerade darin, dass Dror Morehs Gesprächspartner als Schin-Bet-Chefs diejenigen waren, die in den letzten Jahrzehnten die jetzt kritisierte Politik gegenüber den Palästinensern exekutierten, ausführten. "Töte zuerst!" zeigt also keine Friedensaktivisten, sondern Geheimdienstler, die von ganz oben in der Hierarchie Verhaftungen, Folter und gezielte Tötungen befahlen. Und die Effektivität dieser Politik inzwischen explizit in Frage stellen. Ami Ayalon:

    "Ich kann beweisen, dass sich, als wir Abbas Musawi getötet hatten mit seinem Nachfolger, dass sich die Sicherheitslage in Israel nicht verbessert hat. Deshalb sage ich, wenn wir uns statt um die Mörder um die Anstifter kümmern, dann kommen wir zu einem Punkt, wo wir gegen das Völkerrecht verstoßen. Im Hinblick auf grundlegende Rechte und Moral ist das höchst fragwürdig. Aber ich spreche jetzt als Chef des Schin Bet und kann nur sagen, es ist nicht effektiv."

    Durch die Klarheit der Aussagen seiner Gesprächspartner und ihrer Kompetenz entfaltet der Dokumentarfilm "Töte zuerst!" eine enorme Wucht, aber auch eine verstörende politische Sprengkraft. Und ist auch für die politische Streitkultur hierzulande äußerst brisant wie hilfreich. Denn die kritische Haltung zur Besatzungspolitik Israels stützt sich bei Filmemacher Dror Moreh allein auf israelische Quellen. Und diese Kritik tritt nicht erst nach eingehender interpretatorischer Arbeit zutage. Nein, in "Töte zuerst!", dem Dokumentarfilm, ist sie von denen offen ausgesprochen, die wissen, wovon sie reden. Damit führt jeder hierzulande häufig reflexartig erhobene Antisemitismusvorwurf - wie zuletzt beispielsweise bei der von Jakob Augstein formulierten Israelkritik -, so ein Vorwurf ist bei Dror Morehs Film einfach nur absurd. Wenn man die Aussagen der ehemaligen Geheimdienstchefs gehört hat, die im Film montiert mit Fotosequenzen und Archivmaterial -, kann man nur hoffen und bei entsprechender spiritueller Ausrichtung nur beten, dass die heute politisch Verantwortlichen Ex-Schin-Bet-Chef Carmi Gillon zuhören, der apodiktisch feststellt:

    "Israel kann sich den Luxus nicht leisten, mit dem Feind nicht zu reden. Wenn die andere Seite das nicht will, habe ich keine Wahl. Aber wenn wir nicht reden wollen, ist das ein Fehler."

    Mag man bei Carmi Gillon noch Hoffnung auf eine friedvolle Lösung des Nahostkonflikts heraushören, wird man bei Ami Ayalon vergeblich danach suchen müssen:

    "Wir gewinnen jede Schlacht, aber den Krieg verlieren wir."

    TV-Tipp

    Dror Morehs Dokumentarfilm wird am 5. März um 20.15 Uhr auf Arte gezeigt und am 6. März um 22.45 Uhr als Wiederholung im Ersten.